Unabhängig, gleichsam sein eigener Herr wie früher schon, Bürger mit Vermögen und eigenen Geschäften, blieb Maître Molines trotzdem der ergebene Diener der Plessis-Bellière. Es war sein Lebenszweck, neben dem er im Laufe eines langen, tätigen Daseins seinen eigenen Handel betrieben hatte. Angélique und mehr noch dem Marquis Philippe waren Art und Ausmaß der Unternehmungen Maître Molines’ immer unbekannt geblieben. Sie wußten nur eines; daß er stets zur Stelle war, wenn man ihn brauchte. In Paris, wenn die Schloßherrschaft sich bei Hof aufhielt, in Plessis, wenn Zufälle oder Mißgeschicke sie dorthin verschlagen hatten.

So war auch das ernste, strenge Gesicht des Intendanten Molines, dem die Jahre nach und nach einen Ausdruck von Altersweisheit verliehen, eins der ersten gewesen, die sich über die bleiche Gestalt gebeugt hatten, nachdem sie von zwei Musketieren aus der Kutsche in ihr Schlafzimmer geschafft worden war, während Monsieur de Breteuil den herbeigeeilten Dienern zugerufen hatte:

»Ich bringe Madame du Plessis. Sie liegt im Sterben. Sie hat nur noch ein paar Tage zu leben.«

Molines’ Gesicht hatte keinerlei Bewegung gezeigt. Er hatte Angélique mit demselben Gleichmut begrüßt, den er zur Schau trug, wenn sie zur Zeit der Pachtgeldzahlungen für einen kurzen Aufenthalt aus Versailles kam, um zur Begleichung ihrer Spielschulden Holzeinschläge oder den Verkauf eines Stück Landes in die Wege zu leiten. Und es war im gleichen Augenblick, in dem sie ihn mit Würde über die Trostlosigkeit der Ernten dieses Jahres berichten hörte, daß sie ganz zu begreifen begann, wo sie sich befand, daß sie spürte, wie die Sicherheit der heimatlichen Erde und ihrer Vergangenheit ihre erschöpften Glieder durchdrang.

Er hatte ihr weder Vorwürfe gemacht noch Fragen gestellt, obwohl die weit zurückreichenden Beziehungen, die sie verbanden, und die besondere Rolle, die er bei der Erziehung der Kinder von Monteloup einstmals gespielt hatte, ihn dazu berechtigt hätten.

Er sagte nichts. Er machte weder Anspielungen auf die Ärgernisse und Sorgen, die Angéliques Abreise ihm verursacht hatte, noch auf die unermüdlich von ihm unternommenen Schritte, ihre vom Sturm des Unheils bedrohten Geschäfte zu retten. Hatte der kalte Atem der Ungnade nicht den Beginn des Ruins angekündigt? Die Ratten, die Raben, die wimmelnden Würmer, die sich von der Unbeständigkeit des Glücks nähren, versammelten sich bereits. Molines hatte Ordnung hineingebracht, hatte Versicherungen gegeben, war Verpflichtungen eingegangen. Madame du Plessis befinde sich auf Reisen, erklärte er. Sie würde zurückkehren. Von Auflösung ihres Besitzes sei keine Rede.

Aber der König? wurde gefragt. Der Zorn des Königs ...? Jedermann wußte davon. Würde Madame du Plessis nicht verhaftet und eingekerkert werden?

Molines hob die Schultern und ließ vernehmen, daß er die Seinen schon erkennen würde, und da er oft genug Beweise seiner Vergeltung und seiner Geschicklichkeit im Ränkeschmieden gegeben hatte, war die Ruhe wieder eingekehrt. Man war bereit zu warten. Während des ganzen langen Jahrs der quälenden Ungewißheit über Angéliques Geschick hatte der Intendant auf diese Weise mit eiserner Hand die gesellschaftliche und finanzielle Basis verteidigt, auf der der Reichtum der flüchtigen Marquise und ihres Erben, des kleinen Charles-Henri, beruhte. Dank ihm war die Dienerschaft im Schloß Plessis wie auch in den Stadthäusern der Rue du Beautreillis und des Faubourg Saint-Antoine zu Paris geblieben.

Nun schickte Molines Botschaften in alle vier Himmelsrichtungen, die die Rückkehr der Schloßherrin meldeten. Er verschwieg die Bewachung, unter der sie stand, erinnerte nur an die Freundschaft, die sie mit dem König verband, und kündigte an, daß sie sich binnen kurzem selbst mit jenem sachkundigen Verständnis um ihre Angelegenheiten kümmern werde, das ihr die Achtung Monsieur Colberts eingetragen habe. Das letztere war vor allem für die Pariser Kaufleute und die Reeder aus Le Havre bestimmt, an deren Geschäften Angélique beteiligt war.

Auf dem Gut fuhr Molines mit seinen Rundgängen fort. Mit derselben Pünktlichkeit wie früher stellte er sich auf den Pachthöfen und Meiereien ein, forderte Einblick in die Rechnungsführung, überwachte die Bestellung der Felder. Die Protestanten hatten dasselbe Recht auf seine Besuche wie die Katholiken. Man zeigte ihm dabei die Soldaten in den Häusern, die die Vorräte der Speisekammern verzehrten und ihre Pferde im jungen Hafer weiden ließen. Es waren die »Bekehrer« Monsieur de Marillacs. Maître Molines äußerte sich nicht dazu. Er beschränkte sich darauf, den Pächtern die fälligen Zinszahlungen ins Gedächtnis zu rufen, und notierte die Summen in seinen Büchern.

»Was sollen wir tun, Maître Molines? Gehört Ihr nicht wie wir zur Konfession Calvins?« fragten die hugenottischen Bauern, die mit dunklen, fanatischen Augen, die großen schwarzen Hüte zwischen ihren Fingern drehend, vor ihm standen. »Sollen wir abschwören, um unseren Besitz zu bewahren, oder uns ruinieren lassen?«

»Habt Geduld«, erwiderte er.

Auch bei ihm waren die Dragoner gewesen, hatten seine behagliche Behausung geplündert, hundert Pfund Kerzen verbrannt und während zweier Tage und Nächte auf seine Kasserollen getrommelt, um ihn am Ausruhen zu hindern: »Schwöre ab, alter Fuchs, schwöre ab!«

Das hatte sich vor Angéliques Rückkehr zugetragen. Seitdem Montadour Bewohner des Schlosses und Hüter einer der schönsten Frauen des Königreichs geworden war, die nicht der reformierten Religion angehörte, hatte Marillac es für geschickter gehalten, ihre Leute in Ruhe zu lassen.

Von seinen Quälern befreit, war Molines pünktlich im Schloß erschienen, und Montadour, der ihn seines Einflusses auf die Bauern wegen für einen der schlimmsten Hugenotten der Gegend hielt, schrie ihm zu:

»Wann werden wir dein Credo hören, alter Ketzer?«

Als er Angélique zum erstenmal im Salon des Fürsten Condé sitzend antraf und auf ihren Wangen endlich die Farben der wiederkehrenden Gesundheit entdeckte, seufzte er auf. Seine bleichen Lider senkten sich, und es schien ihr für einen kurzen Augenblick, als dankte er Gott. Es paßte so wenig zu seiner sonstigen Haltung, daß sie statt Rührung etwas wie eine unbestimmte Sorge empfand.

An diesem Tage berichtete ihr Molines zum erstenmal von Unruhen und Hungersnot, die die Region bedrohten, seitdem sich Monsieur de Marillac an die Bekehrung des Poitou gemacht hatte.

»Unsere Provinz soll den Bekehrern als Probefall dienen, Madame. Wenn sich die angewandte Methode, mit den Protestanten aufzuräumen, als schnell und wirksam erweist, wird man sich ihrer im ganzen Königreich bedienen. Trotz des Edikts von Nantes wird der Protestantismus in Frankreich ausgelöscht werden.«

»Was geht’s mich an«, murmelte Angélique, aus dem offenen Fenster blickend.

»Mehr als Ihr glaubt«, erwiderte Molines trocken.

Er öffnete einmal mehr seine Rechnungsbücher und bewies ihr ohne Mühe, daß ihre Pachtgüter, die sich zum größten Teil in den fähigen Händen von Protestanten befanden, bereits schwere Schäden erlitten hatten. Man hinderte die Leute, auf die Felder zu gehen und das Vieh zu versorgen. Mit Zahlen gelang es ihm, ihre Teilnahme zu wecken. »Man muß sich beklagen. Können Eure Gemeindevorstände nicht höheren Orts an die Vereinbarungen des Edikts erinnern?«

»An wen sollen sie sich wenden? Der Gouverneur der Provinz ist selbst der Anstifter dieser Übergriffe. Und was den König anbelangt ... Der König hört auf den, der ihm rät, der ihn überzeugt. Ich habe Eure Rückkehr erwartet, Madame, weil Ihr in dieser Hinsicht vieles tun könnt. Ihr geht zum König, Madame. Das ist der einzige Weg, der Euch, die Provinz und, wer weiß, vielleicht auch das Königreich retten kann.«

Das war es also, worauf er hinaus wollte.

Angélique richtete ihre von Trauer erfüllten Augen auf Molines. Sie war so voll von Worten, die sich in ihr drängten, die sie nicht aussprechen konnte, daß ihre geschlossenen Lippen zitterten. Er beeilte sich, ihrer Antwort mit einer eigenen zuvorzukommen, denn seit mehreren Tagen schon hatte er, über ihr leidendes Gesicht gebeugt, ein stummes und herzzerreißendes Zwiegespräch geführt.

So gut kannte er diese seltsame Tochter des Poitou, an deren kindlichgraziösen Gang er sich noch erinnerte - sie hatte ihm bei jeder ihrer Begegnungen einen zugleich kühnen und scheuen Blick zugeworfen -, und dennoch war sie ihm niemals so fern und fremd vorgekommen wie seit ihrer Rückkehr. Er war nicht sicher, ob er sich ihr verständlich machen konnte. Deshalb sprach er hart, kurz, wie an jenem Tage, an dem sie zu ihm gekommen war, um zu erfahren, ob sie den Grafen de Peyrac heiraten müsse.

Heute sagte er ihr: »Geht zum König.«

Aber alle Gründe, die er vorbrachte, hatte Angélique längst erwogen, und sie schüttelte verneinend den Kopf.

»Ich kenne Euren Stolz«, beharrte der Intendant, »aber auch Euren gesunden Menschenverstand. Vergeßt Euren Groll. Habt Ihr nicht den König angerufen, als Ihr bei den Berberesken gefangen gewesen seid, und ist er Eurem Ruf nicht gefolgt? Ihr vermögt noch alles, wenn Ihr geschickt seid. Sogar Eure Macht über jenen Mann zurückzugewinnen, dem Ihr getrotzt habt.«

Angélique ließ sich nicht überzeugen. Sie sah wieder Mezzo Morte vor sich, den Admiral von Algier in seinem Mantel aus golddurchwebtem Damast, sie hörte sein weibisches Invertiertenlachen, nachdem er ihr zugerufen hatte: »Der Mann, den man Jaff-el-Khaldoum nannte, ist vor drei Jahren an der Pest gestorben«, und sie begriff, daß sie in diesem Augenblick begonnen hatte, alle Hoffnung zu verlieren. Sie sah auch die Leiche eines Gehängten, die sich in der Dämmerung von Versailles im Winde drehte. Und, ihr zugewandt, melancholisch und prächtig, ihren zweiten Gatten Philippe du Plessis-Bellière mit jenem Ausdruck in den Augen, den sie am letzten Abend gehabt hatten, bevor er sich aus freien Stücken den feindlichen Kanonen entgegenwarf

Leb wohl, mein Herz, leb wohl, mein Lieb, du meine Augenweide.

Da wir dem König Untertan, laß scheiden uns denn beide .

Der König hatte ihr alles genommen.

Sie schüttelte erneut den Kopf, und ihr rebellisches Haar, das sich nur mühsam in eine Frisur fügte, ließ sie trotz des edel gemeißelten Königinnengesichts dem Kinde des Waldes nahe erscheinen, das einstmals die Fragen des Intendanten Molines mit hochmütigem Schweigen beantwortet hatte.

Endlich vermochte sie zu sprechen. Sie berichtete, was es mit dieser Reise, mit dieser Flucht aus Paris auf sich hatte. Sie verschwieg ihre Gründe, aber im Laufe des Berichtes sprach sie von »ihm«.

»Ich habe ihn nicht gefunden, versteht Ihr, Molines.

Vielleicht ist er jetzt auch wirklich tot ... gestorben an der Pest oder etwas anderem ... Der Tod ist so leicht im Mittelmeer .«

Sie schien zu überlegen, senkte den Kopf und fuhr leiser fort:

»Die Wiederauferstehung auch! Was tut’s? Ich bin gescheitert . eine Gefangene.«

Ihre noch durchscheinende Hand, an der die zu weit gewordenen Ringe fehlten, glitt vor ihren Augen vorbei, wie um eine hartnäckige Vision zu vertreiben.

»Ich werde den Islam nie vergessen. Alles, was ich durchlebt habe, taucht immer von neuem vor mir auf wie das Muster eines jener großen, vielfarbigen Orientteppiche, auf denen es sich so gut mit nackten Füßen gehen läßt. Kann ich tun, was der König von mir verlangt? Nein. Kann ich nach Versailles zurückkehren? Nein. Es ekelt mich an, wenn ich nur davon träume. Wieder auf das Niveau der HinterhofSchwatzereien, der Intrigen und Komplotte hinabsteigen? Ihr wißt nicht, was Ihr von mir fordert, Molines. Es gibt keine Verbindung mehr zwischen dem, was ich bin, was ich fühle, und dem Dasein, in das Ihr mich zurückstoßen wollt.«

»Aber Ihr habt nur die Wahl zwischen Unterwerfung und Rebellion.«

»Ich will mich nicht unterwerfen.«

»Dann also Rebellion«, sagte er ironisch. »Wo sind Eure Truppen, wo Eure Waffen?«

Angélique schien von seinem Spott nicht berührt.

»Es gibt Dinge, die selbst der allmächtige König fürchtet: die Rivalität der Großen, die Feindschaft der Provinzen.«

»Derlei Dinge belästigen die Könige erst, wenn viel Blut geflossen ist. Ich kenne Eure Absichten nicht, aber sollte Euer Aufenthalt bei den Berbern Euch gelehrt haben, das menschliche Leben zu verachten?«

»Im Gegenteil. Mir scheint, als ob ich dort erst seinen wahren Wert begriffen hätte.«

Eine Erinnerung brachte sie zum Lachen.

»Moulay Ismaël pflegte jeden Morgen zwei oder drei Köpfe abzuschlagen, um sich Appetit zu machen. Leben und Tod waren so eng verbunden, daß man sich täglich von neuem fragte, was nun eigentlich wichtig sei: leben oder sterben. Auf diese Art lernt man sich kennen.«