Der alte Intendant schüttelte mehrmals den Kopf. Ja, sie kannte sich nun, und gerade das brachte ihn zur Verzweiflung. Solange eine Frau an sich zweifelte, konnte man ihr noch immer Vernunft beibringen. Wenn sie ihre Reife erreicht, wenn sie sich fest in der Hand hatte, mußte man das Schlimmste befürchten. War es einmal soweit, gehorchte sie nur noch ihren eigenen Gesetzen.

Er hatte immer gespürt, daß Angéliques Persönlichkeit zahllose Aspekte besaß, die sich wie einander folgende Wellen zeigen würden, eine nach der anderen durch die sich unablässig erneuernden Erschütterungen ihres Lebens in Bewegung gesetzt. Gern hatte er das Strömen des Schicksals aufgehalten, den eigensinnigen Elan, der ihre Existenz immer weiter von ihrem Ursprung entfernte und dem sich Angélique zu seinem Kummer mit der Geschmeidigkeit der Frauen hingab, die sich nicht so sehr zu erklären suchen, sondern sich jeden Tag in neuer Gestalt begreifen.

Hätte sie nicht in Versailles bleiben können, fragte er sich ärgerlich, dort, wo sie sich alles erobert hatte? In dieser Spanne ihres Lebens war sie zugänglich und doch unangetastet gewesen. Sie hatte Freude an ihrem Besitz gehabt, hatte von den Früchten der Macht, des Reichtums und des Vergnügens gekostet. Die Welle ihrer mysteriösen Odyssee hatte sie nun über den Schein hinausgetragen. Sie würde sich nicht mehr mit Illusionen begnügen. Ihre Stärke kam aus ihrer Absonderung, aber ihre Schwäche würde aus ihrer Unfähigkeit wachsen, sich nicht mehr mit der gierigen materiellen Gesellschaft verschmelzen zu können, die der König von Frankreich unter seiner Zuchtrute schuf.

»Wie gut Ihr mich kennt, Molines«, murmelte sie, seine Gedanken mit einer Sicherheit erratend, die ihn erzittern ließ. »Gott allein weiß, welche hellsichtige Kraft sie in diesen wilden und seltsamen Ländern erworben hat«, sagte er bei sich, unruhiger denn je.

»Es ist wahr. Ich hätte Paris nicht verlassen sollen. Alles wäre viel einfacher gewesen, und ich würde weiter mit verbundenen Augen bei Hofe leben. Der Hof! Bei Hof tut man alles, was man will, ausgenommen leben. Vielleicht liegt es am Älterwerden, aber ich könnte mich nicht mehr mit diesem glänzenden Firlefanz zufriedengeben, der so viele Marionetten in Bewegung setzt. Ah, das Recht auf einen Schemel in Gegenwart des Königs besitzen ... Welch Triumph! Am Tisch der Königin Karten spielen ... Welch Genuß! Fruchtlose, kümmerliche Leidenschaften, die einen dennoch in ihrem Bann halten und wie Schlangen erwürgen ... das Spiel, der Wein, die Juwelen, die Ehren. Vielleicht habe ich nur den Tanz und die Schönheit der Gärten geliebt, aber ich mußte diese Liebe zu teuer bezahlen: mit feigen Kompromissen, mit der Begehrlichkeit der Einfaltspinsel, denen man schließlich sein Fleisch überließ, mit Langeweile, mit immer neuem Lächeln, das man wandelnden Krebsgeschwüren schenken mußte ... Glauben Sie wirklich, Monsieur Molines, daß ich das Wunder des mir unter so vielen Schmerzen wiedergeschenkten Lebens nur erfuhr, um mich von neuem so tief zu erniedrigen? Nein! Nein! Dann hätte die Wüste mich nichts gelehrt!«

Während er das schöne Antlitz vor ihm betrachtete, über dem noch die Spur ihres Martyriums wie ein Schleier lag, der nur die geläuterten Züge durchscheinen ließ, überkamen den harten Molines zugleich Respekt und Entmutigung. Die Urteilsfähigkeit Angéliques war trotz der über sie verhängten Prüfungen unfehlbar geblieben, aber es war zu bedauern, daß ihr Blick für die Schändlichkeiten der Epoche sie hart und unnachgiebig machte. Molines konnte einen Seufzer nicht unterdrücken. In der Auseinandersetzung mit ihr suchte er sie weniger zu überzeugen als zu retten.

Eine Katastrophe ohne Beispiel stand unmittelbar bevor, in deren Verlauf alles zusammenstürzen würde, was er als sein Lebenswerk ansah. Nicht allein sein Vermögen, dessen Quellen, wie er hoffte, verborgen und verzweigt genug waren, um wenigstens einen Teil davon retten zu können, sondern andere Dinge, die ihm vor allem am Herzen lagen: der Glanz und die Größe der Plessis-Bellière, der Reichtum der Provinz, die mit jedem Jahr gefestigtere Situation der Reformierten, denen die Erde ihre arbeitsamsten und fähigsten Bauern verdankte.

Durch den Einfluß, den sie auf den allmächtigen König ausgeübt hatte, war Angélique zu dem zerbrechlichen Pfeiler geworden, auf dem das geduldig ausbalancierte Gleichgewicht der Kräfte ruhte. Ihre Weigerung mußte ihn zum Einsturz bringen.

»Und Eure Söhne?« fragte er.

Die junge Frau zuckte zusammen und wandte wie so oft ihren Blick zum Fenster, als wollte sie aus der Vision des Waldes Hilfe und eine Antwort auf ihre Besorgnisse schöpfen. Ihre umschatteten Lider zitterten nervös, während ihre Gedanken nicht ohne Mühe Molines’ Argument zurückwiesen. »Ich weiß ... meine Söhne. Sie zwingen mich zur Unterwerfung. Die Last ihrer jungen Leben lähmt mich.«

Sie warf ihm einen ironischen Blick zu.

»Was für ein Widersinn, Molines, wenn man bedenkt, daß sich die Tugend meiner Kinder bedient, um mich ins Bett des Königs zu stoßen. Aber so ist es nun einmal in den Zeiten, die wir durchleben.«

Der hugenottische Intendant protestierte nicht. Er konnte den Scharfblick ihres Zynismus nicht leugnen.

»Gott weiß, daß ich für meine Söhne gekämpft habe, als sie klein und wehrlos waren«, fuhr sie fort, »aber heute ist es anders. Das Mittelmeer hat mir Cantor geraubt, der König und die Jesuiten haben mir Florimond genommen, und zudem ist er zwölf und steht in dem Alter, in dem ein Adliger allein sein Schicksal zu gestalten beginnt. Das Erbe der Plessis-Bellière fällt an Charles-Henri, Der König wird ihm seinen Besitz niemals nehmen. Steht es mir also nicht frei, über meine Person zu verfügen?«

Das pergamentene Gesicht des Intendanten rötete sich vor Zorn. Mit beiden Händen schlug er auf seine mageren Knie. Wenn sie zur Rechtfertigung ihrer Narrheit dieselbe unerschütterliche Logik anwandte wie früher, würde er bei ihr nie zum Ziele kommen.

»Ihr verleugnet Eure Verantwortlichkeit für Eure Söhne, um Eure eigene Existenz zerstören zu können!« rief er.

»Falsch. Um mich nicht verabscheuungswürdigen Trugbildern opfern zu müssen.«

Er wechselte die Taktik.

»Madame, Ihr scheint das Opfer Eurer Tugend für unausweichlich zu halten. Aber was verlangt man tatsächlich von Euch? Nichts weiter als Eure öffentliche Unterwerfung in Gegenwart des Hofs, da Eure Rückkehr in die königliche Gnade sonst als ein Akt der Schwäche seitens des Souveräns angesehen werden könnte. Ist sein Prestige auf diese Weise gewahrt, sollte eine Frau - und eine Frau wie Ihr, Madame

- über genügend Schliche und Listen verfügen, um weiteres zu vermeiden .«

»Mit dem König?« murmelte sie, von einem plötzlichen Schauder ergriffen. »Unmöglich. So, wie wir miteinander stehen, wird er mir nichts erlassen, und ich selbst .«

Ihre Hände bewegten sich wie im Fieber, verkrampften sich ineinander und lösten sich wieder. Er dachte, daß sie unruhevoller geworden sei als je. Und, auf einer anderen Ebene, heiterer und überlegener. Verletzlicher, doch unangreifbarer.

Angélique versuchte sich die lange Galerie vorzustellen, in der sie sich schwarzgekleidet unter den spitzen, spöttischen Blicken der Höflinge dem sie stehend und mit jener einschüchternd-majestätischen Miene erwartenden König nähern würde, die seinem marmornen Antlitz, seinen düsteren Augen so natürlich war. Der Kniefall, die Worte des Vasalleneides, der Kuß der Unterwerfung . Danach, wenn sie allein vor ihm stehen und er ihr wie einer Feindin begegnen würde - was hatte sie ihm in diesem Duell entgegenzusetzen, das mit allen Mitteln zu gewinnen er entschlossen war?

Sie würde nicht einmal mehr den dummen Stolz der Jugend besitzen, jene aus Unwissenheit geschmiedete Rüstung, die zuweilen gegen den Angriff der Sinne Schutz zu bieten vermag.

Sie hatte zu viele fleischliche Erfahrungen hinter sich, um nicht die geheimen Übereinstimmungen im erotischen Bereich mit allen Abwandlungen zu kennen, und sie wußte, daß sie dem schwebenden Einklang erliegen würde, der die nach dem Joch der Unterwerfung verlangende Frau dem Mann, der sie besiegt, in die Arme treibt.

Zahllose Männerzärtlichkeiten, zahllose Wünsche und Kämpfe um ihren schönen Körper hatten sie bis ins Mark zum Weibe gemacht.

In einem Maße, das sie befähigte, selbst eine köstliche Demütigung zu genießen.

Ludwig XIV., dieser Taktiker des Geistes, mußte sich darüber im klaren sein. Um seine glanzvolle Rebellin an sich zu fesseln, würde er sie mit seinem glühenden Siegel zeichnen, wie man den Parias des Königreichs die königliche Linie einbrannte.

Aus Scham verschwieg sie Molines die Visionen, die sie bedrängten.

»Der König ist kein Dummkopf«, sagte sie mit einem ernüchternden Lachen. »Es läßt sich nur schwer erklären, Molines. Aber ich kann dem König nicht begegnen, ohne daß etwas zwischen uns geschähe ... und das darf nicht sein. Ihr wißt, warum, Molines ... Der Mann, den ich liebte, der mich als Dame seines Herzens erwählte, war der, für den ich bestimmt war. An seiner Seite wäre mein Leben keine Folge von Tagen des Schmerzes und der vergeblichen Erwartung, der an der Wurzel vernichteten Freude, der Angst und schließlich, nach einer kindischen und gefährlichen Illusion, der bitteren Erkenntnis gewesen, daß es Dinge gibt, die sich nicht mehr wiedergutmachen lassen. Ob er tot ist oder lebt - er hat eine andere Straße als die meine eingeschlagen. Er hat andere Frauen geliebt, wie ich andere Männer geliebt habe. Wir haben uns verraten. Unser gemeinsames Leben, kaum begonnen, wurde auf immer zerstört

- durch die Hand des Königs, Ich kann nicht verzeihen. Ich kann nicht vergessen . Ich darf nicht, es wäre der schlimmste Verrat, der mir auch die letzten Hoffnungen nähme.«

»Welche Hoffnungen?« fragte er schneidend.

Sie fuhr sich verwirrt mit der Hand über die Stirn.

»Ich weiß nicht ... Eine Hoffnung trotz allem, die nicht sterben will. Übrigens .«

Lebhaft fuhr sie fort: ». übrigens habt Ihr von meinem Vorteil gesprochen ... Glaubt Ihr, er bestehe darin, zurückzukehren und meinen Becher den Giften der Montespan hinzuhalten? Ihr wißt doch, daß sie versuchte, mich und auch Florimond ermorden zu lassen?«

»Ihr seid stark und geschickt genug, Madame, um ihr Trotz zu bieten. Man sagt bereits, daß ihr Einfluß erschüttert sei. Der König ist ihrer Boshaftigkeit müde. Man hört, daß er sich in langen Unterhaltungen mit Madame Scarron, einer anderen gefährlichen Intrigantin, gefällt, leider einer einstigen Reformierten. Mit dem Eifer des Konvertiten ermuntert sie ihn, einen dummen und fruchtlosen Kampf gegen ihre einstigen Glaubensgenossen zu führen.«

»Madame Scarron?« rief Angélique verdutzt. »Ist sie nicht die Erzieherin seiner Kinder?«

»Gewiß. Der König interessiert sich nichtsdestoweniger für ihre Unterhaltung, die ihre Reize haben muß.«

Angélique zuckte die Schultern. Dann erinnerte sie sich, daß die arme Françoise zur angesehenen Familie der Aubigne gehörte und daß die vornehmen Herren, die vergebens auf ihre Not spekuliert hatten, um ihre Gunst zu erlangen, sie mit einer Mischung aus Bewunderung und Groll »die schöne Indianerin« nannten ... Sie erinnerte sich auch, daß sie Maître Molines selten bei leerem Geschwätz erwischt hatte. Mit Nachdruck fügte er hinzu:

»Ich sage das, um Euch begreiflich zu machen, daß Madame de Montespan nicht mehr so fest im Sattel sitzt, wie man glauben könnte. Ihr hieltet sie schon in Schach, als sie in ihrem Zenit stand. Sie gänzlich zu stürzen, wäre heute ein Kinderspiel .«

»Sich verkaufen«, murmelte Angélique, »kaufen, jenen unerbittlichen, unterirdischen Kampf führen, den ich nur allzugut kenne . Ah, ich ziehe einen anderen vor«, rief sie, während es in ihren Augen plötzlich zu funkeln begann. »Wenn es unbedingt nötig ist zu kämpfen, dann am hellen Tag, auf meinem Land . Nur dieses eine scheint mir wirklich in all dem Chaos: hier zu sein. Es tut mir wohl und weh zugleich. Weh, weil ich daran ermessen kann, daß ich gescheitert bin. Wohl, weil ich mich unendlich danach gesehnt habe, meine Heimat wiederzusehen.

Ja, ich habe sie wiedersehen müssen. Es ist seltsam, aber mir scheint, daß es mir schon an dem Tage, an dem ich zum erstenmal Monteloup verließ - Ihr erinnert Euch, Molines, ich war siebzehn, und die Wagen des Grafen de Peyrac entführten mich gen Süden -, bestimmt war, nach einem langen Umweg ins Land meiner Kindheit zurückzukehren, um dort meine letzte Karte auszuspielen .«

Die Worte, die sie ausgesprochen hatte, ließen sie von neuem bestürzt und unruhig innehalten, und sie verließ Molines, um langsam die Treppe zum Turm hinaufzusteigen, von dessen Höhe sich ihr Blick im Dunst des Horizonts verlieren konnte, während sie ihre Pläne überdachte. Bildete der dickwanstige Montadour, dessen schwerfällige Gestalt sie unten auf dem sandigen Vorplatz bemerkte, sich etwa ein, daß sie während des Frühlings und Sommers hinter den Schloßmauern bleiben und geduldig auf den Herbst und die Leute des Königs warten würde, die sie verhaften und in ein anderes Gefängnis schaffen sollten?