Jedermann setzte sich zu Tisch und schickte sich an, die dampfende Miesmuschelsuppe zu löffeln, als die Glocke des Portals anschlug.

Sie sahen sich im Licht der Kerzen mit gespannten Gesichtern an. Die Glocke ertönte ungeduldig von neuem. Maître Gabriel erhob sich.

»Ich werde gehen«, sagte er. »Wenn wir nicht antworten, wird es verdächtig wirken.«

»Nein, ich gehe«, warf Angélique ein.

»Schicken wir Rebecca.«

Aber Rebecca fürchtete sich, ohne zu wissen, warum.

»Laßt mich gehen«, beharrte Angélique, indem sie ihre Hand auf den Arm des Kaufmanns legte. »Daß Eure Magd öffnet, ist durchaus üblich. Ich werde erst durch das Guckloch sehen und Euch dann benachrichtigen.«

Durch das Guckloch erkundigte sich eine Stimme:

»Seid Ihr es, Dame Angélique? Ich möchte Euch sprechen.«

»Wer seid Ihr?«

»Erkennt Ihr mich nicht? Ich bin Nicolas de Bardagne, der Statthalter des Königs.«

»Ihr?«

Angélique fühlte sich schwach werden.

»Wozu kommt Ihr? ... Um mich zu verhaften?«

»Euch verhaften?« wiederholte die Stimme erstickt. Der arme Mann brauchte einen Augenblick, um sich wieder zu fassen.

»Glaubt Ihr etwa, daß ich nur zu so etwas tauge? Planlos irgendwelche Leute zu verhaften? ... Schönsten Dank für die Meinung, die Ihr von mir habt. Ich weiß, daß die Starrköpfe, mit denen Ihr umgeht, mich gern als eine Art Werwolf hinstellen, aber immerhin .«

»Ich habe Euch verletzt, Monsieur. Verzeiht mir. Seid Ihr allein?«

»Und ob ich allein bin! Gewiß, mein liebes Kind. Und maskiert noch dazu. Und in einen mauerfarbe-nen Mantel gehüllt. Ein Mann meines Ranges, der die Dummheit begeht, sich in galante Abenteuer einzulassen, zieht es vor, sich allein davonzuschleichen und möglichst wenig Aufsehen zu erregen. Wenn man mich entdeckt, habe ich mich für alle Zeiten der Lächerlichkeit preisgegeben. Aber ich muß Euch unbedingt sprechen. Es ist sehr ernst.«

»Was ist geschehen?«

»Wollt Ihr mich etwa reden lassen, ohne mir wenigstens den Schutz einer dunklen Hofecke anzubieten oder in dieses sehr wenig begangene und erfreulich finstere Gäßchen hinauszutreten? Fürwahr, Dame Angélique, Ihr seid aus hartem Holz gemacht! Der Statthalter des Königs, Gouverneur von La Rochelle, begibt sich insgeheim zu Euch, um Euch von Eurem Herd fortzulenken und seine Huldigungen zu Füßen zu legen, und Ihr empfangt ihn wie einen Bettler!«

»Ich bin untröstlich, aber ob Ihr nun Statthalter des Königs seid oder nicht, Euer heimlicher Besuch setzt mich der Gefahr aus, meinen Ruf zu verlieren.«

»Ihr werdet mich mit Eurer Unzugänglichkeit noch rasend machen. In Wirklichkeit legt Ihr nicht den leisesten Wert darauf, mich zu sehen.«

»Unter den gegenwärtigen Umständen fühle ich mich wirklich bedrückt. Ihr wißt doch, wie delikat meine Situation unter diesen Leuten ist, denen ich dienen muß. Wenn man Verdacht schöpfte .«

»Ich bin eben deshalb hierhergekommen, um Euch aus diesem Ketzernest herauszuholen, in dem Ihr ernsthaften Gefahren ausgesetzt seid.«

»Was wollt Ihr damit sagen?«

»Öffnet diese Tür, und Ihr werdet es erfahren.«

Angélique zögerte.

»Laßt mich zuerst Maître Berne benachrichtigen.«

»Das fehlte mir noch.«

»Ich werde Euch nicht nennen, aber ich muß eine Erklärung finden, um meine Abwesenheit, so kurz sie auch sein mag, zu rechtfertigen.«

»Gut. Aber beeilt Euch. Den Ton Eurer Stimme zu hören und den Duft Eures Atems zu verspüren, genügt schon, um mich vor Entzücken außer mich zu bringen.«

Angélique kehrte im gleichen Augenblick zum Haus zurück, in dem der unruhig gewordene Maître Berne die Stufen herabschritt.

»Wer hat geläutet?«

Sie erklärte ihn rasch über die Anwesenheit und das Anliegen des Statthalters auf. Die Augen des Kaufmanns bekamen den gleichen gefährlichen Ausdruck wie in der Sekunde, in der er sich entschlossen hatte, Baumiers Halunken zu erwürgen.

»Dieser Lump von einem Papisten! Ich werde ein deutliches Wörtchen mit ihm reden. Ich werde ihm beibringen, meine Mägde unter meinem eigenen Dach zu verführen.«

»Nein, mischt Euch nicht ein. Es scheint, daß er mir ernste Neuigkeiten mitteilen will.«

»Und welcher Art, glaubt Ihr, werden diese Neuigkeiten sein? Die Worte Eurer unschuldigen Tochter verraten mehr als genug. Jeder weiß, daß er ein Auge auf Euch geworfen hat und Euch in der Stadt als seine Mätresse installieren möchte. Man erzählt es sich in ganz La Rochelle.«

Mit all ihrer Kraft hielt Angélique Maître Gabriel zurück, der sie wie einen Strohhalm hätte beiseite wischen können.

»Haltet Euch dennoch ruhig«, beschwor sie ihn. »Monsieur de Bardagne hat nun einmal die Macht auf seiner Seite. Wir können es uns nicht erlauben, seine Unterstützung in einem Augenblick zu verschmähen, in dem unsere ohnehin prekäre Situation noch schwieriger geworden ist und ihr den Strang riskiert.«

Mehr als ihre Worte zähmte ihre schmale Hand, die sein Handgelenk umklammerte, Gabriel Bernes Zorn.

»Wer weiß, was Ihr ihm schon zugestanden habt«, grollte er trotzdem. »Bis jetzt habe ich Vertrauen zu Euch gehabt .«

Er unterbrach sich, weil er noch einmal den Augenblick durchlebte, in dem dieses Vertrauen erschüttert worden war. Verwirrt hatte er an die Monate häuslichen Friedens unter der Führung einer fleißigen, geschickten Dienstmagd gedacht, deren Gesten und Worte niemals den Verdacht der Koketterie in ihm hatten aufkommen lassen. Gott allein wußte, daß er sie streng auf ihre Pflichten verwiesen hätte. Aber sein anfangs höchst waches Mißtrauen war schließlich geschwunden.

Und dann war da jene getroffene Eva gewesen, die sich weinend in seine Arme geworfen hatte, jene leblose, in ihren Schmerz gebannte Frau, die er langsam an sich gezogen hatte. Wenn sie ihn damals zurückgestoßen hätte, wäre es ihm gelungen, sich rechtzeitig wieder in die Hand zu bekommen. Er war sich dessen sicher. Aber Angéliques Schwäche hatte in ihm den Dämon des Fleisches entfesselt, den er nicht ohne Mühe seit den qualvollen Tagen seiner Jugend in Schach hielt. Er hatte den Kopf verloren. Er hatte sein Gesicht in eine Flut seidigen Haars getaucht und seine Hand auf eine halbnackte Brust gelegt, deren wollüstige Wärme er noch jetzt auf der Haut zu spüren meinte.

Der Ausdruck seines Blicks veränderte sich.

Angélique lächelte traurig.

»Sagtet Ihr, vorher hättet Ihr mir vertraut? . Und jetzt . jetzt haltet Ihr mich aller Schändlichkeiten für fähig, weil ich mich in einem Moment der Verwirrung habe betören lassen? Von Euch! . Findet Ihr das nicht ungerecht?«

Niemals zuvor war ihm aufgefallen, wie sinnlich und weich ihre Stimme klingen konnte. Nur weil sie ganz leise zu ihm sprach, weil sie ihm nahe war in der Dunkelheit, weil er ihre Augen und Lippen schimmern sah. Ah, es war schmerzlich und mehr als reizvoll, hinter einem Gesicht, das man täglich sah, das Mysterium der Sinnlichkeit zu entdecken. Sprach sie so in ihren Liebesnächten? Haß gegen alle die Männer, die sie geliebt hatte, stieg glühend in ihm auf.

»Sollte ich Euch der schwärzesten Sünden verdächtigen, Maître Gabriel, nur weil auch Ihr es an Kaltblütigkeit habt fehlen lassen?«

Er senkte den Kopf wie ein Schuldbeladener. Und er war glücklich, es zu sein.

»Vergessen wir’s, wenn Ihr wollt«, sagte sie sanft. »Wir müssen es übrigens vergessen. Wir waren nicht wir selbst, weder Ihr noch ich ... Ein furchtbarer Schock hatte uns aufgewühlt. Jetzt müssen wir werden, wie wir vorher waren.«

Aber sie wußte sehr gut, daß es unmöglich war. Zwischen ihnen würde es immer die sie zweifach verbindende Gemeinsamkeit im Verbrechen und im Augenblick der Hingabe geben.

Sie beharrte nichtsdestoweniger:

»Wir müssen all unsere Kräfte für unseren Kampf und unsere Rettung sammeln. Laßt mich mit Monsieur de Bardagne sprechen. Ich kann Euch versichern, daß ich ihm niemals etwas zugestanden habe.«

Er glaubte, sie mit leisem Spott hinzufügen zu hören:

»Weniger als Euch.«

»Es ist gut«, sagte er. »Geht. Aber haltet Euch nicht lange auf.«

Angélique kehrte zu der kleinen Pforte zurück, hinter der Monsieur de Bardagne, Stellvertreter des Königs, vor Ungeduld von einem Fuß auf den andern trat.

Sie öffnete ihm und fühlte sich von zwei besitzgierigen Händen an den Armen gepackt.

»Da seid Ihr endlich! Ihr macht Euch über mich lustig. Was habt Ihr ihm erzählt?«

»Er ist argwöhnisch und .«

»Er ist Euer Liebhaber, nicht wahr? Es gibt keinen Zweifel . Ihr schenkt ihm jede Nacht, die Ihr mir verweigert.«

»Ihr beleidigt mich, Monsieur.«

»Wen wollt Ihr das Gegenteil glauben lassen? Er ist Witwer. Ihr lebt seit mehreren Monaten unter seinem Dach. Er sieht Euch unablässig gehen und kommen, sprechen, lachen, singen, was weiß ich! Es ist unmöglich, daß er nicht in Euch vernarrt ist. Es ist im höchsten Maße unerträglich und schlägt jeder Moral ins Gesicht. Es ist ein Skandal!«

»Meint Ihr, es sei weniger skandalös, hierherzukommen und mir in einer mondlosen Nacht den Hof zu machen?«

»Das ist nicht dasselbe. Ich . ich liebe Euch.«

Und er zog sie in einen Mauerwinkel, versuchte, sie an sich zu drücken. Die Nacht hinderte Angélique daran, seine Züge zu unterscheiden. Sie roch den Fliederduft des Puders, den er für sein Haar benutzte. Seine ganze Person strahlte Kultiviertheit und Sicherheit aus. Er war unter den Gerechten. Er hatte nichts zu fürchten. Er befand sich auf der anderen Seite der Schranke, hinter der die Verurteilten litten.

Bargen die Falten ihrer Kleidung nicht noch immer den bitteren Geruch von Salz und Blut?

Ihre aufgerissenen Hände taten ihr weh, und sie wagte es nicht, sie den seinen zu entziehen.

»Eure Gegenwart macht mich toll«, murmelte Monsieur de Bardagne. »Mir scheint, wenn ich in dieser Finsternis wagemutiger wäre, würdet Ihr weniger grausam sein. Wollt Ihr mir nicht endlich einen Kuß erlauben?«

Seine Stimme klang demütig. Angélique glaubte, sich nachgiebig zeigen zu müssen. Man brachte einen königlichen Beamten nicht in eine solche Lage, ohne wenigstens gelegentlich ein kleines Pflaster auf seine verletzte Eigenliebe zu legen.

Es war ein Tag der Erfahrungen. Zeigte sich die Natur, nachdem sie Angélique ihrer besten Waffen beraubt hatte, dazu bereit, ihr den Gebrauch in gewissem Ausmaß zurückzuerstatten?

»Nun, gut. Ich bin einverstanden. Küßt mich also«, sagte sie in resigniertem, für ihn nicht eben schmeichelhaftem Ton.

Nicolas de Bardagne geriet trotzdem fast außer sich vor Freude.

»Geliebte!« stammelte er. »Endlich werdet Ihr mir gehören.«

»Wir haben von einem Kuß gesprochen, Monsieur.«

»Das Paradies! . Ich verspreche Euch, daß ich mich sehr respektvoll verhalten werde.«

Es kostete ihn Mühe, sein Versprechen zu halten. Der schwer errungene Sieg verlieh ihren Lippen, die er sich weniger verschlossen gewünscht hätte, all seine Süße. Doch er brachte es zuwege, sich taktvoll mit dem Gewährten zufriedenzugeben.

»Ah, wenn Ihr mir ausgeliefert wäret«, seufzte er, während sie sich ihm entzog, »würde es mir schon gelingen, Euch aufzutauen.«

»Seid Ihr mit den Mitteilungen am Ende, die Ihr mir zu machen wünschtet, Monsieur? Ich fürchte, ich werde mich zurückziehen müssen.«

»Nein, ich bin noch nicht am Ende . Leider muß ich zu weniger erfreulichen Perspektiven zurückkehren. Meine Liebe, was mich veranlaßt hat, Euch heute abend aufzusuchen, ist, abgesehen von dem glühenden Wunsch, Euch wiederzusehen, der mit meinen Pflichten ganz und gar nicht in Einklang befindliche Drang, Euch vor dem zu warnen, was sich gegen Eure Person zusammenbraut. Euer weiteres Schicksal flößt mir Besorgnis ein. Ah, warum habt Ihr mich nur so behext! Ich habe die Hoffnung kennengelernt, danach die Angst, und nun wird mir auch noch der Schmerz zuteil. Denn Ihr habt mich belogen, Ihr habt mich wissentlich getäuscht.«

»Ich? . Ich verwahre mich dagegen.«

»Ihr habt mir gesagt, daß Ihr durch die bewußte Gesellschaft in diese Stellung gebracht worden seid. Aber das ist nicht wahr. Baumier hat Euren Fall untersucht und ohne jeden Zweifel festgestellt, daß keine der Damen vom Heiligen Sakrament sich mit Euch abgegeben hat noch Euch überhaupt kennt.«

»Was nur beweist, daß Monsieur Baumier schlecht unterrichtet ist.«

»Nein!«

In der Stimme des Statthalters schwang ein unheilkündender Unterton.

»Es beweist, daß Ihr lügt. Denn die Ratte Baumier ist im Gegenteil sehr gut informiert. Er nimmt einen hohen Rang in der geheimen Gesellschaft ein, einen viel höheren als ich. Aus diesem Grunde sehe ich mich auch häufig gezwungen, ihn mit Vorsicht zu behandeln. Es mißfällt mir, ihn mit Euch beschäftigt zu sehen, aber ich kann es nicht hindern. Durch den Bericht eines meiner Spione erfuhr ich, daß er sich sehr bemüht herauszufinden, wer Ihr eigentlich seid.«