»Entführe mich! Entführe mich!« flüsterte sie.

Aber sie mußte warten. Sie hatte die Notwendigkeit dafür eingesehen. Zwei Tage waren verstrichen, seitdem Angélique gemeinsam mit Maître Berne die Leichen in den Brunnen des Papierhändlers Mercelot geworfen hatte.

Das Leben nahm nach außen hin seinen üblichen Lauf. Weder am Portal noch bei den Lagerhäusern hatte sich ein Polizist gezeigt. Man war versucht zu glauben, daß nichts geschehen würde und daß es genügte, sich einzureden, daß auch nichts geschehen war. Daß das Dasein friedlich war, daß es nichts anderes zu tun gab, als den Fleischtopf über die Flamme zu hängen und an einem sonnigen Nachmittag nach Majoran duftendes Leinen zu bügeln.

Vergeblich bestand Honorine jeden Abend darauf, die hölzernen Läden vor den Fenstern zu schließen. Das Haus war deswegen nicht weniger bedroht. Man spürte, daß es ebenso wie seine Bewohner mit einem unsichtbaren Mal gezeichnet war. Die Stadt umschloß sie wie eine Falle. Denn der Hafen, das Vorzimmer der Freiheit, war der Tummelplatz einer kleinlichen Polizei. Die Schiffe wurden einer peinlich genauen Kontrolle unterworfen. Und um frei atmen zu können, genügte es nicht, mit entfalteten Segeln die Schwelle des Hafens zwischen dem Kettenturm und dem Saint-Nicolas-Turm zu überqueren, Richelieus Deich zu umsegeln und das Rund der weißen Klippen hinter sich zu lassen. Die Schiffe der königlichen Marine kreuzten vor der Ile de Ré. Sie kreuzten dort, um die Flucht der Verdammten zu verhindern.

Die Kinder tanzten um den Palmbaum. Ihre schrillen Stimmen drangen bis zu Angélique, zusammen mit dem rhythmischen Klappern ihrer kleinen Holzschuhe auf dem Pflaster des Hofs.

»Zum Miesmuschelfang

will ich nicht mehr gehn, Mama.

Die Jungs aus Marennes nehmen mir meinen Korb, Mama.«

Eine ganze Schar kleiner Nachbarkinder war es, die ihre zum Rat der Alten berufenen Eltern mitgebracht hatten.

Die gestickten Häubchen der kleinen Mädchen, die bunten Schürzen über den dicken, runden Röcken waren wie Blumen, die die Reihe der dunkelgekleideten Jungen unterbrachen.

Auf allen Schultern hüpften blonde, braune oder rote Locken, die Wangen waren rosig, die erhobenen Augen glänzten wie Sterne.

Alle Augenblicke ließ Angélique ihr Bügeleisen im Stich, um sich aus dem Fenster zu beugen und nach ihnen zu schauen.

»Jeden Augenblick«, dachte sie, »kann die Einfahrt sich öffnen, können schwarzgekleidete Männer eintreten oder bewaffnete Soldaten, die die Kinder an den Händen nehmen und für immer fortbringen.«

Die Herren des Konsistoriums traten auf den Treppenabsatz hinaus. Ihre Frauen, die sich solange bei Tante Anna aufgehalten hatten, gesellten sich zu ihnen. Langsam stiegen sie die Treppe hinunter. Sie sprachen gedämpft wie im Hause eines Toten.

Bald darauf erschien Maître Gabriel in der Küche. Er zog einen Stuhl heran und setzte sich. Doch diesmal griff er nicht wie sonst nach seiner langen holländischen Pfeife, die ihm für gewöhnlich die Mußestunden verschönte.

Während er sprach, vermied er Angéliques Blick.

»Wir haben soeben entschieden, nach Santo Domingo zu gehen«, sagte er. »Unsere Gruppe besteht aus etwa zehn Familien, von zwei Pastoren

- Beaucaire und seinem Neffen - begleitet. Sie alle sind entschlossen, das Abenteuer zu wagen und ihr Glück auf fremder Erde zu suchen. Für einige wird es nicht eben leicht sein: der Papierhändler Mercelot, der Advokat Carrère wollen mit ihrer ganzen Brut die Reise mitmachen. Wie kann man sie auf den Inseln verwenden? Sogar bei den Fischern wie Gasserton und Malire habe ich Bedenken, ob sie dort drüben ihren Beruf wieder ausüben können. Denn man lebt dort vor allem von den Pflanzungen: Zuckerrohr, Tabak, Kakao.«

»Der Kakao interessiert mich«, rief Angélique lebhaft. »Früher habe ich mich einmal mit der Schokoladenfabrikation beschäftigt, und ich verstehe etwas von der Auswahl der Stauden.«

Sie träumte bereits. Sie sah sich frei, mit einem großen Strohhut, wie ihn einstmals ihre Mutter getragen hatte, eine smaragdene Pflanzung durcheilen, gefolgt von Laurier und Honorine, die saphir- und goldfarbene Schmetterlinge fingen.

Das Licht füllte ihre grünen Augen, als überfluteten sie schon die magischen Reflexe des Karibischen Meers und der Palmen.

Maître Gabriel betrachtete sie heimlich mit melancholischem Blick. In nur wenigen Tagen hatte er gelernt, alle Nuancen einer Schönheit zu genießen, die zu würdigen er sich bisher untersagt hatte. Er machte sich heftige Vorwürfe, kehrte jedoch unaufhörlich zu diesem Gesicht zurück, auf dem das intensivste und dennoch geheimste Leben blühte. »Sie ist wie eine Fackel unter uns erschienen«, sagte er sich. Sie erleuchtete, aber niemand wußte etwas von ihr. Heute bügelte sie mit Sorgfalt gestärkte Hauben. Die heißen Dampfe, die von dem feuchten Linnen aufstiegen, röteten ihre Wangen. Flink und geschickt erledigte sie ihre Aufgabe, doch ihre großen Augen waren unergründliche Tiefen, und es war weniger das Verlangen als das Rätsel ihrer mysteriösen Vergangenheit, das ihn beunruhigte und dazu trieb, sie mit geschärfter Aufmerksamkeit zu studieren.

Die Äußerungen, die ihr zuweilen entschlüpften, machten im Geiste des Kaufmanns ihren Weg, und er bemühte sich, die einzelnen Bruchstücke, so verschieden sie auch waren, zusammenzusetzen. Hatte sie nicht gesagt, sie habe sich mit Kakaogeschäften befaßt? Unter welchen Umständen? Ihre kommerzielle Tüchtigkeit, besonders in allem, was das Meer betraf, war ihm nicht entgangen. Aber wo gab es eine Verbindung zwischen der, die er wie einen Engel des Elends im grauen Schlamm des Weges nach Charenton hatte auftauchen sehen, und jener anderen, die ihm mit verstörter Miene zugerufen hatte: »Sie sind in mein Schloß eingedrungen, sie haben meine Diener umgebracht .«?

»Eine Abenteuerin!« sagte Madame Manigault kategorisch, indem sie den Finger an ihre Nasenspitze legte. »Meine Witterung hat mich noch niemals getäuscht.«

Angélique begegnete dem durchdringenden Blick ihres Beschützers und lächelte ihm ein wenig bedrückt zu. In stummem Einverständnis hatten sie beschlossen, zu »vergessen« und den Anschein ihrer ungestörten guten Beziehungen bis zur Abreise aufrechtzuerhalten. Sie war ihm dankbar dafür, daß es gelang. Die harte hugenottische Erziehung hatte Maître Gabriel daran gewöhnt, seine Leidenschaften zu beherrschen. Von Natur aus aufbrausend und sinnlich, war es ihm gelungen, sich durch Gebet und Willenskraft zu jener umsichtigen, ruhigen und einer asketischen Lebensweise fähigen Persönlichkeit zu entwickeln, die alle Welt in La Rochelle schätzte und sogar ein wenig fürchtete. Das Resultat dieser Umformung war dauerhaft. Er würde die Konsequenzen der Krise, die ihn erschütterte, in der Stunde der Gefahr nicht auf die anderen abwälzen. Er war vernünftig genug zu erkennen, daß sie, falls man den Dingen ihren Lauf ließ, sich wie eine von Panik ergriffene Schafsherde ins Unglück stürzen würde.

Dank ihm und seinem beherrschten Gesicht war wieder so etwas wie Friede ins Haus gekommen. Angéliques Nerven beruhigten sich. Die moralische Kraft des Kaufmanns strahlte auf sie über und ließ sie ihre Angst ertragen. Doch zuweilen breitete sich auch zwischen ihnen lastendes Schweigen.

»Wie werden wir fortgehen?« fragte sie.

Die Züge des Kaufmanns hellten sich auf.

»Stellt Euch vor, es grenzt an ein Wunder, wie ihr Papisten sagt. Der Reeder Jean Manigault, bisher ein Feind aller Pläne, La Rochelle zu verlassen, hat sich plötzlich dazu entschlossen, zu uns zu stoßen. Ein kürzliches Mißgeschick hat ihn seine Meinung an-dern lassen: sein Sohn Jérémie wurde ihm entführt, als er die Unvorsichtigkeit beging, einer vorbeiziehenden Prozession zuzusehen. >Man< hat darin den Wunsch nach Bekehrung gesehen, und da der Kleine das siebente Jahr schon überschritten hat, brachte man ihn ins Haus der Pauliner. Es hat Manigault ein Vermögen gekostet, ihn dort wieder herauszuholen. Doch diese Befreiung ist nur vorübergehend. So reich er ist, zittert Manigault dennoch um sein Kind. Also will er fort. Sein Entschluß wird unser Unternehmen erleichtern. In Santo Domingo besitzt er schon zahlreiche Faktoreien, und wir werden deshalb mit einem seiner eigenen Schiffe reisen können. Sein Plan, der mir gut scheint, läuft darauf hinaus, eins seiner Handelsschiffe abzuwarten, das bald aus Afrika eintreffen wird. Vor Antritt ihrer neuen Fahrt zu den Inseln werden die Sklaven, die es mit sich führt, vorübergehend in den Lagerhäusern am Kai untergebracht. Manigault wird sie auf der für die Behörden bestimmten Passagierliste eintragen lassen. Aber im letzten Moment werden wir den Platz der Sklaven einnehmen. Wenn zwischen dem Augenblick, in dem wir vom Kai ablegen, und der Überquerung der äußeren Hafenlinie kein weiterer Besuch an Bord kommt, werden wir uns als gerettet betrachten können.«

»Aber die Sklaven!«

»Sie werden in den verschlossenen Lagerhäusern zurückbleiben, und man wird dafür Sorge tragen, sie mit Medikamenten zu betäuben, um zu verhüten, daß ihre Anwesenheit allzu früh ruchbar wird.«

»Der große Mut Monsieur Manigaults besteht also darin, auf den Gewinn einer kostbaren Ladung zu verzichten«, meinte Angélique, die zu praktischen Gedankengängen zurückfand.

»Wir werden noch auf allerlei andere Dinge verzichten müssen«, antwortete Berne nachdenklich. »Aber Manigault ist durchaus nicht derjenige, der am meisten zu bemitleiden wäre. Er rechnet, seine Geschäfte durch seinen Nachfolger hier fortführen zu können. Er wird eben nur in Santo Domingo und nicht mehr in La Rochelle sein. Das Geschäft bleibt dasselbe. Er hat sich schon seiner Rückendeckung versichert. Ich selbst habe ein wenig Geld in Holland und England plaziert. Darüber hinaus werden wir die Tage, die uns bleiben, dazu nützen, den größten Teil unserer Güter in Talersäcke zu verwandeln. Sie brauchen wenig Platz auf einem Schiff.«

»Werden diese Geschäfte nicht Verdacht erregen?«

»Wir werden vorsichtig vorgehen. Die Katholiken, mit denen wir es zu tun haben, wissen, daß die Protestanten zum Verkauf ihrer Güter gezwungen sind, um der doppelten Besteuerung nachkommen zu können.«

Angélique stellte die Frage, die ihr auf den Lippen brannte.

»Wann werden wir uns einschiffen?«

»In zwei oder drei Wochen.«

»Drei Wochen!« rief sie aus. »O Gott, wie lange das noch ist!«

Der Kaufmann erbebte und schien von einem jähen Groll gegen sie erfaßt.

»Es scheint mir sehr kurz, wenn es sich darum handelt, die eigenen Wurzeln aus dem Land seiner Väter zu reißen«, sagte er dumpf.

Er schlug mit der Faust auf den Tisch.

»Verflucht seien die, die uns dazu zwingen!«

Sie hätte ihn gern um Verzeihung gebeten, aber aus Furcht, ihn noch mehr zu reizen, sagte sie nichts.

Sie selbst, die schon alles verloren hatte, begriff nur schwer, was die Protestanten an ihr klägliches, durch Verbote und Ungerechtigkeiten ersticktes Leben hier fesselte.

Aber wie der Bauer selbst dem undankbaren Boden verbunden ist, um dessen Früchte er ringt, und ohne Neid das ihm fremde fruchtbare Tal betrachtet, klammerten sich die Protestanten noch immer an ihr gefährdetes Geschick. Der bloße Gedanke an jene amerikanischen Inseln, jene Sonne, jene Freiheit, die man ihnen versprach, machte sie traurig.

Die Gewohnheit, sich inmitten eines aufgewühlten Meers zu behaupten, ein Hindernis nach dem andern zu bezwingen, sich abzuschirmen, hatte aus ihnen eine allen Stürmen widerstehende, hartnäckig an ihren Besitz sich klammernde Rasse gemacht. Seit zwei Jahrhunderten schon war die Verfolgung ihre Lebenssphäre. Ihre Stadt und deren Umgebung zu verlassen, schien ihnen nun viel unerträglicher als der geheime, unerbittliche Kampf, an den sie gewöhnt waren.

Nicht mehr unter dem immergrünen Himmel La Rochelles zu leben!

Zu denken, daß ihre Kinder die vertraute, von den Gerüchen des Meers erfüllte Luft nicht mehr atmen, ihre Füße nicht mehr in die Spuren ihrer Väter setzen würden!

Generationen kleiner Rochelleser waren barfüßig über den Sand des Strandes gelaufen, hatten Muscheln mit ihren Taschenmessern aufspringen lassen, hatten Austern geöffnet und im Schatten des Laternenturms deren frisches, bitteres Wasser getrunken, während die Flut in den Hafen zurückströmte und hier und da die hohen weißen Segel der großen Kauffahrteischiffe tanzen ließ.

All das zu verlassen .

»Drei Wochen sind kurz«, seufzte der Kaufmann, »und dennoch weiß auch ich, daß die Gefahr drängt. Aber wir müssen versuchen, alle Chancen auf unsere Seite zu bringen, und deshalb sind diese drei Wochen des Wartens durchaus das Risiko, das wir eingehen, wert. Denn in längsten drei Wochen wird die holländische Handelsflotte La Rochelle anlaufen. Ihr wißt wie ich, daß diese Leute nicht gern einzeln segeln, wie die Franzosen es tun. Sie schließen sich zusammen, und zweimal jährlich verlassen unter dem Schutz von Kriegsgaleeren wahre Flotten von Handelsschiffen Amsterdam oder Antwerpen. Nun ist Manigault in Holland versichert, was ihm gewisse Vorteile verschafft, unter anderem den, sich diesen Konvois anschließen und von ihrem Schutz profitieren zu können. Wir müssen also die Ankunft der Flotte abwarten, zumal sie im Hafen Unruhe und Unordnung schaffen wird, die unser Vorhaben begünstigen. Wenn wir inmitten dieser Herde die Segel hissen, werden wir ganz zwangsläufig der Kontrolle der königlichen Marine entgehen, die wahrhaftig viel zu tun hätte, wenn sie alle Welt ausfragen wollte. Auf diese Weise werden wir um die Prüfungen des letzten Augenblicks herumkommen. Sobald wir einmal den Hafen hinter uns haben - und ich wette, daß sich die Zivildeligierten der Admiralität an diesem Tage nicht kleinlich zeigen werden -, sind wir vor ihren Nachstellungen sicher.«