Sie glaubte, den Verstand zu verlieren. Sie hatte Angst.
Dann glitt der feuchte Atem des Nebels vorüber. Die Farben des Meers nahmen von neuem ihren lebhaften Glanz an. Alles wurde wieder klar, scharf, deutlich umrissen, und selbst La Rochelle wurde in der Ferne sichtbar, weiß und gezackt wie eine Krone aus purem Silber. Der seltsame Mann hob den Arm. Er näherte seinen Augen ein lang ausgezogenes Fernrohr und beobachtete die Stadt. Er hatte jetzt menschliche Substanz bekommen, und wenn seine tintig-schwarze Gegenwart am lichtüberströmten Klippenrand auch nach wie vor beunruhigend blieb, wirkte sie doch weder gespenstisch noch diabolisch.
Fest auf seinen in Lederstiefeln steckenden Beinen stehend, nahm er sich zur Beobachtung Zeit. Dann ließ er das Fernrohr sinken und schien anderen, noch unsichtbaren Personen unten auf dem Strand Zeichen zu geben.
Angélique fand aus ihrer Benommenheit zum Bewußtsein der Situation zurück. Er würde sich umdrehen und die mitten in ihrer Bewegung erstarrte Frau bemerken. Warum war sie plötzlich so überzeugt, daß dieser Mann und diejenigen, die ihn begleiteten, keinen Wert darauf legten, beobachtet oder gar erkannt zu werden?
Sie sah sich um und lief eilig zu einem Tamariskengebüsch, hinter dem sie sich mit ihrer Tochter versteckte. In der sandigen Senkung ausgestreckt, vermochte sie nur wenig von dem zu sehen, was sich weiter vorn zutrug. Zwei Männer waren zu dem ersten gestoßen. Sie sprachen miteinander.
Dann verschwanden sie.
Sie hätte glauben können, geträumt zu haben, wenn nicht die gedämpften Laute menschlicher Stimmen und unregelmäßige, dumpfe Schläge an ihr Ohr gedrungen wären, die vom Hammer eines Zimmermanns hätten herrühren können.
Ein Windstoß trug ihr den scharfen, unverwechselbaren Geruch geschmolzenen Pechs zu. Über den Rand der Klippen, die an dieser Stelle eine ins Land einschneidende Bucht bildeten, erhob sich ein wenig Rauch.
»Rühr dich nicht«, sagte Angélique zu Honorine.
Doch Honorine dachte gar nicht daran, sich zu rühren. Sich in eine Bodensenke zu ducken wie ein auf der Lauer liegendes junges Kaninchen, entsprach ihrer ungezähmten Natur und schien sie an die frühen Tage ihrer Kindheit zu erinnern.
Angélique schlich sich kriechend durch das Gras bis zum Rand.
Mitten in der Bucht entdeckte sie einen ankernden Dreimaster, der weder Wimpel noch Flagge trug. Ziemlich tief im Wasser liegend und verhältnismäßig groß, konnte er ebensogut ein Holländer wie ein Engländer, aber gewiß kein Franzose sein, und in keinem Fall gehörte er zur Flotte der Rochelleser Kabeljaufischer. Deren Fahrzeuge überschritten nie hundertachtzig Tonnen, und das Fahrzeug dort unten mußte wenigstens zweihundertfünfzig messen.
Was hatte ein Handelsfahrzeug in dieser eine Meile von La Rochelle entfernten und zum Ankern kaum geeigneten Bucht zu schaffen, denn es war bekannt, daß die steilen, aber niedrigen Klippen wenig Schutz boten und daß der Grund schlammig und ziemlich flach war. Nur Fischerbarken flüchteten sich gelegentlich hierher.
War es denn überhaupt ein Handelsschiff? Angéliques Augen hatten sich im Mittelmeer darin geübt, gewisse Maskierungen zu erkennen. Sie war sich jetzt sicher, daß das Schiff ein untergezogenes doppeltes Deck mit einer Batterie Kanonen besaß und daß die verkleideten, selbst auf nahe Entfernung fast unsichtbaren Stückpforten, wenn es nötig war, beim Öffnen die schwarzen Mündungen eines guten Dutzends Geschütze enthüllen würden.
Die scheinbar harmlosen Säcke, die an Deck dicht an der besonders breiten und hohen Bordwand aufgetürmt waren, schienen Feldschlangen zu verbergen. Die Anwesenheit eines Wachtpostens in ihrer Nähe war verräterisch genug.
Andere mit Planen bedeckte Haufen bestanden offensichtlich aus jenen langen Holzstangen, jenen Bootshaken und Strickleitern, deren man sich auf See bedient, um den Angriff eines andern Schiffes abzuwehren - oder selbst einen Angriff zu führen.
Eine Barke löste sich vom Schiff und steuerte dem Ufer zu. Angélique verlor sie aus dem Blick, als sie anlegte.
Vorsichtig schob sie sich weiter vor und hob vorsichtig den Kopf.
Die Stimmen klangen jetzt lauter zu ihr herauf; trotzdem vermochte sie nicht zu unterscheiden, in welcher Sprache sie sich unterhielten. Unter sich bemerkte sie über einem im Geröll brennenden Feuer einen großen Kessel, in dem schwedisches Pech, auch Teer genannt, das zum Ausbessern der Schiffe diente, leise vor sich hin brodelte. Kleine Tonnen waren dicht daneben aufgereiht. Matrosen, von denen sie nur die Schultern und die struppigen oder mit leinenen Mützen bedeckten Kopfe sah, tauchten Wergsträhnen in den Teer und legten sie nebeneinander in Körbe, die offenbar darauf warteten, in die Barke verladen zu werden.
Deren Besatzung war zumindest seltsam. Jeder der vier Männer, die sie bildeten, entstammte einer anderen Rasse, und sie schienen sich zusammengetan zu haben, um im Verlaufe eines nautischen Festes ein Ballett der vier Weltteile aufzuführen. Einer von ihnen, mager und flink, hatte den gebräunten Teint und die großen Augen der mittelmeerischen Rassen: ein Sizilianer oder Grieche, vielleicht auch Malteser. Ein anderer, stämmig wie ein Bär unter seiner Pelzmütze, schien sich in seinem steifen Kasack und seinen Stiefeln aus Seehundsfell nicht rühren zu können. Der dritte war braun wie ein Pfefferkuchen und hatte leicht schräge Augen. Die Muskeln seiner mächtigen, nackten Arme traten hervor, während er ohne sichtbare Anstrengung eine Tonne von respektabler Größe, die Teerstücke enthielt, auf seinen Kopf hob
- zweifellos ein Türke. Der letzte, ein hochmütiger, gigantischer Maure, dachte nicht daran, an den groben Verrichtungen der anderen teilzunehmen, und begnügte sich damit, mit der Muskete im Arm die Umgebung zu überwachen.
»DiePiraten! ...«
Der Vorwand, den der Polizeipräfekt zum Anlaß genommen hatte, die Stadttore zu schließen, traf also zu. Die angeblich beobachteten Piraten existierten also wirklich. Ihre Kühnheit übertraf alle Vorstellungen: nur ein paar Kabellängen trennten sie vom Fort Saint-Louis in La Rochelle, und nicht viel weiter war es nach Saint-Martin de Ré, dem Liegeplatz des königlichen Geschwaders.
Die Segel waren so gegeit, daß sie sehr schnell gesetzt werden konnten: ein Zeichen dafür, daß es sich um ein auf der Lauer liegendes, beim geringsten Alarm segelfertiges Schiff handelte. Es mutete merkwürdig an, daß es sich unter solchen Bedingungen zum Kalfatern anschickte. Zweifellos sollte es oberflächliche Beobachter irreführen, die von der Küste oder von Bord eines kreuzenden Schiffes aus das Treiben des Dreimasters verfolgen mochten.
Das aus geringer Entfernung kommende Geräusch die Klippe hinabpolternden Gerölls ließ sie sich dichter an den Boden schmiegen. Einigermaßen überraschendes und unerwartetes Grunzen wurde hörbar, gefolgt von durchdringenden, schrillen Schreien, die unheilvoll hätten anmuten können, wenn sie nicht von zwei stämmigen Schweinen ausgestoßen worden wären, die von ihren Besitzern, Bauern aus dem Weiler Saint-Maurice, mit einiger Mühe zum Strand hinunter getrieben wurden. Der Matrose mit der Pelzmütze ging ihnen entgegen und begann die Preise auszuhandeln. Offenbar vertrugen sich die Bauern mit dem in ihrer Nachbarschaft ankernden Piratenschiff recht gut. Nichtsdestoweniger handelte es sich um eine Schiffsladung zu allem bereiter Abenteurer. Diese Piraten waren durchaus wirklich. Sie sah sie, hörte sie, berührte sie fast. Nur der Mann im schwarzen Mantel schien nicht wirklich, konnte es einfach nicht sein. Es war unmöglich, daß er leibhaftig gekommen sein sollte, um vor La Rochelle Anker zu werfen. Gerade er! ... Warum er? ... Sie hatte geträumt. Übrigens war er nicht mehr zu sehen. Abgesehen von dem reglos stehenden Wachtposten schien das Schiff verlassen. Sanft wiegte es die Dünung, und das Licht glänzte auf dem vergoldeten Schnitzwerk des Heckaufbaus, der durch seine Ansehnlichkeit und seinen Prunk frappierte. Seine Verzierungen wären auch durch eine königliche Galeere nicht in den Schatten gestellt worden, und Angélique glückte es, zwischen ihnen einen in goldenen Lettern geschriebenen seltsamen Namen zu entziffern: Gouldsboro.
Der leichte Druck einer kleinen Hand auf ihrem Arm brachte sie zu sich.
Honorine, der die Zeit offenbar lang geworden war, hatte sich mit der Vorsicht eines Kätzchens zu ihr geschlichen.
Ihr Anblick machte Angélique begreiflich, daß sie nicht hierbleiben konnten.
Was würde mit ihnen geschehen, wenn die Piraten sie überraschten? Die Freibeuter der Meere standen nicht gerade in dem Ruf, zarte Seelen zu sein. Der Gefahr, in der sie schwebten, entsprechend, würden sie sich unerbittlich zeigen. Und wenn ihr Anführer wirklich jener Rescator war, den sie vorhin erkannt zu haben glaubte, hatte sie durch ihre Gefangennahme schon gar nichts zu gewinnen ...
Sich unter unendlichen Vorsichtsmaßnahmen von Düne zu Düne schleichend, gelang es ihnen, sich von der Küste zu entfernen. Als sie endlich den Karrenweg erreichte, nahm sie Honorine wieder auf den Rücken und hastete La Palice zu. Atemlos betrat sie das Gasthaus, in dem die Fischer ihr Glas Wein zu trinken pflegten, nachdem sie ihre Netze zum Trocknen ausgespannt hatten.
»Man möchte meinen, Ihr hättet den Teufel gesehen«, sagte die Wirtin, indem sie einen Krug Wein von der Ile de Ré vor sie hinstellte.
»Ja doch, wir haben ihn gesehen!« stimmte Honorine eifrig zu.
»Munter, die Kleine«, meinte die Frau lachend.
Angélique bat um Milch und eine Schnitte für ihre Tochter und um eine warme Brühe für sich. Den Wein lehnte sie trotz des Drängens ihrer freundlichen Gastgeberin ab, da er sie allzu müde gemacht hätte. Sie durfte nicht vergessen, daß sie hierhergekommen war, um Martial und Séverine abzuholen.
Zwei Stunden später betrat sie den Boden der kleinen Inselstadt Saint-Martin, in der es von den goldverbrämten blauen und roten Uniformröcken der königlichen Offiziere nur so wimmelte.
Sie fragte nach dem Weg und fand schließlich ohne Schwierigkeiten das Haus Madame Demuris’, der Schwester Maître Bernes. Noch bleich und ein wenig abwesend, war Angélique für die ihr zugefallene Rolle gut gerüstet. Maître Gabriel Berne sei plötzlich schwer erkrankt, fühle sein Ende nahe und wolle seine Kinder vorher noch einmal sehen.
Seine Schwester hatte nicht das Herz, sie zurückzuhalten. Übrigens zeigte sie sich durch die Nachricht tief erschüttert. Sie war keine böse Frau. Sie hatte sich bekehren lassen, weil sie Ehrgeiz und genug Intelligenz besaß, um zu begreifen, daß sie als Angehörige der reformierten Religion in diesen Zeiten nur Schimpf und Verdruß erfahren würde. Jünger als Maître Gabriel, hatte sie unter dem Bruch mit dem von ihr bewunderten Bruder sehr gelitten. In Gedanken ausschließlich mit seinem bevorstehenden Ton beschäftigt, schluchzte sie und ließ die beiden Ältesten, mit deren Erziehung sie durch den Statthalter des Königs beauftragt worden war, gehen, völlig vergessend, daß sie ohne besondere Erlaubnis ihre Behausung nicht verlassen durften.
Der Patron der Barke, die sie zum Festland zurückbrachte, betrachtete besorgt den Himmel, der sich mit düsteren Wolken überzog. Ein Sturm war im Anzug. Das Boot begann auf den allmählich höher werdenden, schwärzlichen, von weißen Schaumstreifen durchzogenen Wogen zu tanzen, und als sie landeten, fiel der Wind mit Böen sprühenden Regens über sie her. Angélique gelang es, einen mit einer Plane überdeckten Karren zu mieten. Auch ohne das Unwetter hätte sie es nicht gewagt, zu Fuß durch die Heide zurückzugehen. Der Kutscher, ein Hugenotte, war erfreut, den Kindern Maître Bernes einen Dienst erweisen zu können.
Die Fahrt dauerte nicht lange. Ehe sie sich’s versahen, waren sie unter den Wällen La Rochelles in der Nähe des Saint-Nicolas-Tors angelangt. Ein Posten in einem Überwurf aus geölter Leinwand bewachte es. Er warf ihnen kaum einen Blick zu und ließ den Bauernkarren ohne Anstände passieren. Angélique beglückwünschte sich bereits zu dem Sturm, der es ihnen erlaubte, sich so leicht aus der Affäre zu ziehen, als zwei Polizisten aus der Wachtstube tragen.
Sie stellten sich vor das Pferd, um es anzuhalten, und warfen sodann einen Blick ins Innere des Karrens.
»Das ist sie«, sagte einer von ihnen.
Angélique erkannte denjenigen wieder, der sie nach ihrem Namen und ihren Verhältnissen befragt hatte, als sie am Vormittag beim Verlassen der Stadt hier vorbeigekommen war.
»Seid Ihr Dame Angélique, Magd bei Maître Gabriel Berne, wohnhaft an der Ecke der Rue Sous-les-Murs und des Buttermarkts?«
»Ja, das bin ich.«
Die beiden Männer beratschlagten miteinander. Dann schwang sich einer von ihnen auf den Sitz neben dem Kutscher.
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