Während sie sich zu ihrem Ziel durchkämpfen würde, würde Abigaël wachen wie eine brennende Lampe. Sie würde nicht allein sein.

Fast auf Knien glückte es ihr, die triefenden Stufen zu erklimmen, die zum Wallgang hinaufführten. Oben umgab sie das wahnwitzige Brausen des Meers. Sie hörte die mächtigen Rammbock-Stöße der entfesselten Wogen gegen die Fundamente dröhnen. Die Brandung spritzte hoch auf, alles überschwemmend und die Steinplatten mit einer Schaumschicht überziehend. Sie war schon durchnäßt, als sie die Wacht-stube des Laternenturms erreichte.

Einen Moment blieb sie im Schutz eines Strebepfeilers, um wieder zu Atem zu kommen, dann hob sie sich auf die Zehenspitzen und spähte durch eine Luke ins Innere. Sie sah den Soldaten Anselme Camisot trübselig neben einem Kohlenbecken sitzen, dessen Glut rötliche Reflexe auf sein schlecht rasiertes Vollmondgesicht warf.

Glücklicherweise kannte Angélique die tief eingewurzelte Schüchternheit ihres Anbeters, denn es hätte kaum einen beunruhigerenden Anblick geben können als den des einsamen Soldaten hinter den gekreuzten Gitterstäben, über dessen gesenktem Kopf sich die Deckenwölbungen der mittelalterlichen Rüstkammer in der Düsternis verloren.

Aber sie hatte auch keine Wahl! Sie klopfte gegen die Scheibe.

Der Soldat sah endlich auf, und sein Gesicht drückte tiefste Verblüffung aus, als er die vom Gott der Stürme in dieser Nacht gesandte Erscheinung entdeckte. Er rieb sich mehrmals die Augen, sprang sodann auf, geriet mit seinen Füßen und der Hellebarde durcheinander, stieß gegen seinen auf der Erde liegenden Helm, was alle Echos des Turms zu wecken schien, und gelangte schließlich zur Tür, deren Riegel er zurückschob.

Angélique glitt hinein und streifte erleichtert die vom Wasser schwer gewordene Kapuze zurück.

»Ihr, Dame Angélique?« fragte Anselme Camisot außer Atem, als ob er gelaufen wäre. »Ihr? ... Bei mir?«

Dieses »Bei mir«, das den unheimlichen runden Raum, die Strohschütte auf der Erde und die bescheidene, aus Meergarnelen und Schwarzbrot bestehende Mahlzeit des Wachtpostens bezeichnete, war rührend.

»Messire Camisot, ich bin gekommen, um Euch um einen großen Dienst zu bitten. Es ist unbedingt nötig, daß Ihr mir die kleine Winkelpforte öffnet, denn ich muß die Stadt verlassen.«

Der Soldat überdachte ihr Begehren, und die Enttäuschung machte ihn streng. »Unbedingt nötig ... ich muß ... Nichts sonst? Aber das ist verboten, meine Schöne.«

»Darum wende ich mich auch an Euch. Es ist der einzig mögliche Weg. Ich weiß, daß Ihr die Schlüssel

habt.«

Die gorillahafte Stirn des armen Camisot runzelte sich mehr und mehr.

»Wenn Ihr Euch mit einem Liebhaber treffen wollt, zählt nicht auf mich. Ich bin Hüter der Moral wie alles anderen auch.«

Angélique zuckte mit den Schultern.

»Glaubt Ihr, daß es das rechte Wetter ist, um einen Liebhaber am Strand zu treffen?«

Der Soldat horchte auf das Prasseln des Regens und das Heulen des Windes, der im Turm umging wie ein ganzes Regiment Gespenster.

»Nein«, sagte er dann. »Selbst hier ist es besser als draußen. Aber was dann? Warum wollt Ihr die Stadt verlassen?«

Zwar hatte sie keine Lüge bereit, aber sie brauchte nicht lange nach einer zu suchen.

»Ich muß jemand eine Botschaft bringen, der sich im Weiler Saint-Maurice versteckt ... einem, dem die Todesstrafe droht ... einem Pastor.«

»Verstehe«, brummelte Camisot. »Aber wenn Ihr fortfahrt, Euch in solche Geschichten zu mengen, werdet Ihr Euch bald im Gefängnis wiederfinden. Und ich riskiere dabei nicht mehr das Wippen, sondern den Strang.«

»Niemand wird darüber reden . Als ich versprach, diese Botschaft zu überbringen, dachte ich sofort an Euch. Ich habe niemand etwas von meiner Absicht gesagt, aber an wen könnte ich mich mit dem gleichen Vertrauen wenden, wenn Ihr Euch weigert?«

Sanft legte sie ihre Hand auf die große, haarige Pratze und hob flehend ihren Blick zu ihm. Der arme Anselme Camisot geriet völlig außer Fassung. Wenn er ihr auch bei ihren bisherigen Begegnungen wie jeder rechte Spaßvogel, der etwas auf sich hielt, gelegentlich im Vorübergehen ein galantes Scherzwort zugerufen hatte, hätte er doch nie zu hoffen gewagt, daß sie ihm, gerade ihm, eines Tages ins Gesicht sehen würde, noch dazu auf solche Art. Er rieb sich das Kinn, seines struppigen Bartes und seiner Häßlichkeit bewußt, die schon immer das Gelächter der Frauen erregt hatte.

»Ich wäre Euch sehr dankbar, Messire Camisot«, beharrte Angélique. »Sehr, sehr dankbar .«

Die Vorstellungsfähigkeit des Soldaten ging nicht über einen Kuß hinaus, aber der bloße Gedanke, daß diese bewunderungswürdigen Lippen sich ihm gnädig zeigen könnten, ihm, dem Bedauernswertesten der Garnison, genügte, um ihn den Kopf verlieren zu lassen. Seine Kameraden sprachen oft über die Kälte der schönen Magd der Bernes. Wenn sie eines Tages erführen, daß er, Anselme, der Häßliche, der Türkenkopf, erlangt hatte, was selbst der geckenhafteste unter ihnen für unmöglich hielt! Ah, es wäre sogar ein Grund, eine Kerze in eine papistische Kirche zu pflanzen. Man konnte nicht wissen, wozu es gut war. Die Erwägung, was die allernächste Zukunft möglicherweise für ihn bereithielt, erschreckte ihn schon im voraus.

Mit verstörtem Gesichtsausdruck stammelte er:

»Eh, nun ... gut! Schließlich tue ich damit niemand unrecht, nicht wahr? Ich bin Herr über die Wälle, und wenn man sich nicht mal für eine Frau wie Euch in Unkosten stürzen sollte, für wen dann?«

Er nahm seinen Schlüsselbund vom Haken.

»Wenn Ihr zurückkommt ... werdet Ihr einen kleinen Augenblick ... bei mir bleiben?«

»Ja, ich werde bleiben«, sagte sie, zu allen Konzessionen bereit.

Und sie schenkte ihm ein Lächeln, weil sie dachte, daß dieser arme Teufel wirklich ein braver Kerl sei, der nicht wie die meisten anderen zumindest auf einem Vorschuß auf die Belohnung bestand. Anselme Camisot überlegte indessen, daß ihm genug Zeit bleiben würde, um sich vor seinem Küraß als Spiegelersatz zu rasieren und aus den unterirdischen Verließen des Turms gewisse nur ihm bekannte Schätze heraufzuholen: ein Tönnchen Weißwein, einen Schinken ... Es würde ein großes Fest werden.

Angélique zitterte vor Ungeduld, während sie den Raum verließen und sie ihm zu einem Winkel der Wälle folgte, in dem sich ein Ausfalltor befand, das bei früheren Belagerungen einer Gruppe von Bogenschützen die Möglichkeit geboten hatte, die Angreifer unversehens mit ihren Pfeilen zu spicken. Im Tor selbst öffnete sich ein hölzernes Pförtchen auf eine schmale Treppe, die in die Dünen hinunterführte. Angélique überschritt die Schwelle und begann, die glitschigen Stufen hinabzusteigen, zwanzigmal in Gefahr, sich den Hals zu brechen. Der Soldat beleuchtete ihren Weg von oben, aber der Wind blies mehrmals die Laterne aus, und die junge Frau wartete, bis das Licht wieder aufleuchtete, fest an die Mauer gedrückt, von der der wütende Sturm sie losreißen zu wollen schien, um sie ins Dunkel zu stürzen.

Endlich spürte sie durchweichten, schlammigen Boden unter ihren Füßen.

Sie befand sich außerhalb der Stadt.

Inmitten des entfesselten Tobens der Wellen, die auf dem Geröll des Strandes zerschellten, fahndete sie nach dem Küstenweg und schlug ihn ein. Sie vermochte ihn nur durch die Berührung des Sandes zu unterscheiden. Zuweilen geriet sie zwischen Strauchwerk oder lief gegen einen Tamariskenbusch. Dann tastete sie sich mit dem Fuß zur nackten Erde des Pfads zurück. Niemals, so schien es ihr, hatte sie eine so tiefe Finsternis durchwandert.

Nirgends ein Licht, das sie in diesem dunklen Ozean hätte leiten können. Kalter Regen rieselte in steter Gleichmäßigkeit auf sie herab. Ihre nassen Wimpern verklebten sich. Zuweilen schritt sie mit geschlossenen Lidern voran. Zu ihrer Linken ahnte sie den offenen Abgrund der steilen Klippen. Der geringste Fehltritt konnte sie straucheln lassen. Zerschmettert würde sie am Fuße der Kalksteinmauer landen.

Nach und nach nahm ihre Angst so zu, daß sie keinen Schritt mehr voran zu tun wagte. Auf allen vieren kroch sie weiter, mit Händen und Knien im Schlamm des Weges tappend, den der Regen in ein Rinnsal verwandelte. Sie kam kaum vorwärts. Um ihrer Furcht zu entrinnen, entschloß sie sich endlich, am Klippenrand abzusteigen und auf dem Strand weiterzugehen. Sie würde dort gleichfalls zu ihrem Ziel gelangen, doch ohne einen Sturz riskieren zu müssen. An einer Besonderheit, die sie bemerkt hatte, als sie mit Honorine hier vorbeigegangen war - einem hölzernen Kreuz, an dem sie sich eben gestoßen hatte -, wurde ihr klar, wo sie sich befand. Nicht weit entfernt bot eine Rampe aus übereinandergetürmten Felsen die Möglichkeit, den Strand zu erreichen.

Sie entdeckte das Plateau und begann, es hinabzuklettern. Doch ein unterspülter Erdklumpen gab nach, sie glitt mit einer Lawine von Felsbrocken in die Tiefe und fand sich geschunden, aber unverletzt ein Stück weiter unten wieder. Ihre Hände schienen zu bluten, und ihr Kleid war über den Knien zerrissen. Glücklicherweise hatte sie sich nicht einmal etwas verrenkt. Sie raffte sich also auf und machte sich wieder auf den Weg. Um nicht abzuirren, tastete sie sich an der Klippenwand entlang.

Nun war es das Meer, das sie greifend behinderte. Nachdem sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, vermochte Angélique die weißen Wellenkämme und langen Schaumzungen zu unterscheiden, die auf sie zuschossen. Es war ein Ansturm fahler, drohender Formen, die sie mit höllischem Getöse umzingelten. Einige überschlugen sich in größerer Entfernung, andere schienen im Gegenteil keine Begrenzung ihres Elans zu kennen und glitten mit der geschmeidigen Wildheit von Schlangen bis dicht an ihre Füße heran. Eine der sich nähernden Wogen schien ihr so hoch, daß sie sich entsetzt gegen die Felswand preßte, als wollte sie sich in sie eingraben.

Wenige Schritte von ihr entfernt brach die Woge in brodelndem Aufruhr zusammen. Sie spürte, wie das kalte Wasser zuerst ihre Knöchel, dann ihre Knie umspülte. Die nächste würde bis zu ihrem Gürtel reichen und sie mit sich hinaustragen.

Zurückströmend, war der Sog des Wassers so stark, daß es sie zu Fall brachte. Sie klammerte sich fest, wo sie nur konnte.

»Ich muß wieder hinauf«, sagte sie sich.

Aber wie sollte sie einen Ausweg aus dieser Falle finden? Sie begann zu laufen, um der Gefahr, dem Galopp der aufgehetzten Wogen zu entfliehen. Ihre Füße glitten ab, verletzten sich im Geröll. An einigen Stellen wich der Strand gefährlich bis in die Nähe der Klippen zurück.

Sie hatte nun nur noch einen Gedanken: die Heide oben wieder zu erreichen. Die Flut war offenbar im Begriff zu steigen. Wenn sie unten blieb, würde sie ohne Zweifel ertrinken. Ihre Hände tasteten Halt suchend an der Klippe entlang. Nachdem sie sich noch eine Weile weitergeschleppt hatte, entdeckte sie eine kleine Bucht, in der zuweilen Barken zu ankern schienen, und in der Tiefe ihrer Biegung den steilen Pfad, den die Fischer benutzten. Sie kletterte nach oben, mit jedem Schritt um ein weniges dem infernalischen Kessel entrinnend.

Als sie den Rand der Klippe erreicht hatte, ließ sie sich erschöpft zu Boden sinken und blieb, die Wange gegen die feuchte Erde gepreßt, eine Weile liegen.

Diese Reise ans Ende der Nacht konnte nicht weit von dem entfernt sein, was man nach dem Tode empfand: ein endloses, qualvolles Suchen in einem unbekannten Land.

Osman Ferradji, der große schwarze Magier, hatte es so ausgedrückt:

»Man wird sich nicht immer des Todes bewußt. Manche finden sich, ohne zu wissen, warum, inmitten unbekannter Finsternisse und müssen sich ihren Weg suchen, nur durch das im Laufe ihrer irdischen Erfahrungen erworbene Licht geführt. Haben sie auf Erden nichts erworben, verirren sie sich in der Welt der Geister von neuem ... So sagen es die Weisen des Orients.«

Osman Ferradji! Sie sah ihn vor sich, schwarz wie die Nacht, und er sprach zu ihr:

»Warum bist du vor diesem Menschen geflohen? ... Dein Schicksal und das seine kreuzen sich immer wieder.«

Angélique stützte sich mit ihren Händen auf. »Wenn dein Schicksal das meine kreuzen muß«, stieß sie zwischen den Zähnen hervor, »dann muß es mir glücken.«

Der Zufall allein hatte den Rescator nicht an dieses Gestade führen können. Gewiß bedeutete es etwas. Es bedeutete, daß Angélique ihm begegnen mußte. Trotz des Sturms, des Meers, der Nacht würde sie also zu ihm gelangen. Eine außerordentlich gegenwärtige, rauhe Stimme flüsterte an ihrem Ohr: »Bei mir werdet Ihr schlafen. Bei mir gibt es Rosen.« Und der Zauber Kandias und jenes unerklärlichen Augenblicks, in dem sie an der Seite des maskierten Mannes, der sie soeben gekauft hatte, die Lust verspürte, für immer bei ihm zu bleiben, kehrte zu ihr zurück.