Die Wächter vom Strand hatten sie in eine türkische Barke steigen lassen, die die Wellen wie eine Nußschale hin und her warfen, und es war ihr nicht recht klar, dank welcher Kraft es ihr schließlich gelungen war, sich in der tintigen Nacht an der schaukelnden Strickleiter an Deck zu ziehen.

Jetzt war sie an ihrem Ziel angelangt. Man hatte sie in eine Art Kombüse geschoben, zweifellos das Reich des Kochs, denn sie war von Schwaden Fettgeruchs durchzogen.

Zwei Männer bewachten sie. Ein dritter trat ein, der unter seinem durchweichten Federhut eine Maske trug und dessen untersetzte, stämmige Gestalt sie alsbald erkannte.

»Seid Ihr der Kapitän Jason?«

Sie sah ihn auf Deck des königlichen Flaggschiffs La Royale vor sich. Kapitän Jason, der erste Offizier des schrecklichen Rescator, erteilte dem Herzog de Vivonne, Großadmiral der Flotte König Ludwigs XIV, seine Befehle. Heute wirkte er weit weniger prächtig, aber er bewahrte sich noch immer das sichere Auftreten des Stellvertreters eines Herrn, dessen Willen sich letzten Endes doch als der stärkere erwies.

»Woher kennt Ihr mich?« fragte er nach einem Moment der Überraschung.

Durch die Schlitze der Maske musterte sein argwöhnischer Blick die durchnäßte, zerzauste und zerlumpte Bäuerin, die man ihm präsentierte.

»Ich bin Euch in Kandia begegnet«, antwortete sie.

Sein Mienenspiel drückte Erstaunen aus. Allem Anschein nach erkannte er sie nicht.

»Sagt Eurem Herrn, Monseigneur le Rescator, ich sei ... jene Frau, die er vor vier Jahren in Kandia für fünfunddreißigtausend Piaster gekauft hat ... in der Nacht des Brandes.«

Kapitän Jason sprang buchstäblich bis zur Decke. Staunend starrte er sie noch immer an. Dann stieß er einige englische Flüche aus. Schließlich befahl er den beiden Matrosen in einer Erregung, die bei diesem ruhig scheinenden Mann ungewöhnlich wirkte, die Gefangene aufs sorgfältigste zu bewachen, schoß aus der Tür, und gleich darauf hörte sie ihn über die Deckplanken poltern.

Die beiden Männer glaubten sich verpflichtet, Angélique an den Armen zu packen, obwohl es auch ohne solche Vorsichtsmaßnahmen unmöglich gewesen wäre zu entkommen. Sie befand sich nun im Rachen des Wolfes.

Die Wirkung ihrer Erklärung erfüllte sie mit Unruhe. Ohne jeden Zweifel hatte man sie nicht vergessen. Sie würde in kurzem vor dem Rescator stehen. Gleich einer Woge überschwemmten sie ihre Erinnerungen. Das vom jäh aufblitzenden Schein der blauen Rakete erhellte Kandia, Kandia in Flammen, die Hermes des Piraten d’Escrainville, die sich brennend vom dunklen Nachthimmel abhob wie ein Monument aus reinem Gold, während die Masten in einer Funkengarbe zusammenstürzten. Der Rescator inmitten der Rauchwolken, die sich aus seiner Sche-becke erhoben, und der alte Zauberer Savary, der im Bug der Barke herumgetanzt war und gerufen hatte: »Das ist das griechische Feuer! Das ist das griechische Feuer!«

Krampfhaft zog sie ihren nassen Mantel um sich zusammen, der wie Blei auf ihren müden Schultern lastete.

In der Feuernacht von Kandia hatten sich zwei Schicksalswege getroffen, hatten sich wieder voneinander entfernt und begegneten sich nun gegen alle Logik, selbst gegen den Willen der Götter, erneut in dieser Nacht an einem anderen Punkt der Erde. War es das, was Osman Ferradji auf der Plattform des Mozagrel-Turms in den Gestirnen gelesen hatte? ...

Das Geräusch von Schritten drang von draußen herein, Angélique straffte sich, bereit, ihm gegenüberzutreten. Aber es war nur Kapitän Jason, der auf der Schwelle erschien. Mit einer barschen Bewegung wies er die Matrosen an, ihm mit Angélique zu folgen. Während sie über einen Laufsteg gestoßen wurde, spürte sie wieder den schneidenden Atem des Windes, umfing sie das nahe Brausen der Fluten. Man ließ sie die Stufen einer kurzen Holztreppe hinaufsteigen.

Hinter den Scheiben des Heckaufbaus schimmerten rote Lichter. Sie beschworen die Erinnerung an jene still brennenden, diabolischen Flämmchen herauf, die unter den Retorten der Alchimisten, der Satansdiener, leuchteten. Warum durchkreuzte ein solcher Gedanke Angélique, während man sie, von einer heulenden Bö umtost, ins Innere schob? Vielleicht dachte sie daran, daß man den Herrn dieses Raums, den Rescator, auch den Magier des Mittelmeers nannte .

Im ersten Augenblick schien es ihr, als habe sie ein Beet von Moos und Blumen betreten, und während man die Tür hinter ihr schloß, wurde sie sich der wohltuenden Wärme des Raums bewußt. Nach den eisigen Duschen des Regens und dem peitschenden Sturm bereitete sie ihr fast Unbehagen. Sie mußte alle ihre Willenskräfte zu Hilfe nehmen, um stehenzubleiben und nicht in Ohnmacht zu sinken.

Allmählich erholte sie sich. Ihre Augen gewöhnten sich an das helle Licht. Vor ihr stand ein Mann, der den Salon mit seiner Gegenwart zu füllen schien.

Es war der Mann, den sie am Klippenrand gesehen hatte, es war der Rescator. Seine Größe überraschte sie. Er stieß fast an die niedrige Decke. Auch erinnerte sie sich nicht, daß seine Erscheinung so eindrucksvoll gewesen war. Da sie ihn in seiner ungezwungenen, katzenhaften Art nur zwischen den Orientalen des Batistans von Kandia gesehen hatte, war er ihr nie so hart vorgekommen. Er schien ihr kantig aus schwarzem Felsgestein ausgehauen zu sein, mit mächtigen Schultern, die Taille von einem breiten Gürtel aus Leder und Stahl umschnürt, an dem in Halftern zwei verzierte Pistolen hingen, die straffen Muskeln der Schenkel durch eine eng anliegende Lederhose betont. Seine Haltung - die Beine gespreizt, um dem Rollen des Schiffs zu widerstehen, die Hände auf dem Rücken zusammengelegt - war die eines Richters. Kalt, beobachtend, mißtrauisch.

Er verhielt sich abwartend. Er schien nur wenig Ähnlichkeit mit dem Fürsten des Mittelmeers zu besitzen.

Allein an dem schmalen Kopf, umwunden von einem auf spanische Art geknüpften Tuch aus dunklem Satin, der unmenschlichen Ledermaske mit der herausgearbeiteten Nase, dem schwarzen, gelockten Bart, der dies düstere Gesicht verlängerte, und in dem durch die Schlitze der Maske funkelnden unerträglichen Blick, erkannte sie ihn wieder.

Er war es, der Rescator, doch geprägt von einem härteren Zauber, dem des Ozeans, und während sie lange Zeit von dieser rätselhaften Persönlichkeit wie von einem der Helden aus »Tausendundeiner Nacht« geträumt hatte, entdeckte sie nun, daß sie vor einem Piraten stand.

Zwei venezianische Laternen mit rotgoldenen Scheiben rahmten ihn ein und trugen wenig dazu bei, die Unheimlichkeit seines Anblicks zu mildern.

Eine besonders ungestüme Woge ließ Angélique schwanken und schleuderte sie gegen die Tür, an der sie sich festklammern mußte, um nicht zu fallen.

In diesem Augenblick kam Leben in die schwarze Statue. Die Schultern hoben sich in einem krampfhaften Zucken. Der Kopf beugte sich zurück.

Und sie bemerkte, daß den Rescator ein Anfall des ihm eigenen erstickten Gelächters schüttelte, das in einem dumpfen Husten endete.

»Die Französin aus Kandia!« rief er aus.

Die rauhe, verschleierte Stimme, in der zuweilen knirschende Zwischentöne aufklangen, hatte auf Angélique genau dieselbe Wirkung wie früher. Sie rief ein herzzerreißendes, schmerzliches Gefühl hervor. Etwas Unerträgliches und zugleich doch auch wieder das Verlangen, sie von neuem zu hören!

Sie sah ihn mit langsamen Schritten auf sich zukommen; seine Zähne eine weiße Spur im schwarzen Bart.

Sein Lachen verletzte sie mehr, als es Beschimpfungen vermocht hätten.

»Warum lacht Ihr«, fragte sie mit tonloser Stimme.

»Weil mich das Phänomen Eurer Verwandlung beschäftigt, die aus der schönsten Gefangenen des Mittelmeers, für die ich ein Vermögen bezahlte, eine Frau machte, für die hundert Piaster noch zuviel wären.«

Er hätte nicht verächtlicher, nicht unverschämter sein können. Angélique sah sich, wie sie wirklich war: durchnäßt, abgerissen, in der düsteren Kleidung einer Frau des Volkes, das Gesicht fleckig unter dem schwarzen, triefenden Kopftuch, Haarsträhnen, die an ihren Schläfen klebten - eine Hexe. Weit entfernt davon, sich einschüchtern zu lassen, verlieh ihr diese neue Attacke plötzlich die Kraft zu reagieren.