»Wir wollen fortgehen, Vater«, sagte der Älteste, ein Junge von sechzehn Jahren. »Wir wollen nicht ins Gefängnis. Die Söhne des Uhrmachers sind weggeschleppt worden und nie zurückgekehrt.«
»Komm nur, Matthieu«, drängte seine Frau. »Da wir uns nun einmal entschlossen haben, La Rochelle zu verlassen, ist es einerlei, ob heute oder später.«
Sie legte ihren Letztgeborenen in Angéliques Arme, um ihrem Gatten die Kniehosen reichen zu können. Nachdem sie ihm gut zugeredet und ihn wie ein Kind angekleidet hatte, machte sie kurzen Prozeß und schob ihn hinaus.
»Meine Tabaksdose«, ächzte er.
»Hier ist sie.«
Der Nebel begann durchsichtig zu werden. Der steigende Tag durchdrang ihn mit seinem Licht. Schon begann man das Erwachen der Stadt zu spüren.
Angélique und die ihr auf Schritt und Tritt folgenden Matrosen geleiteten die Familie des Advokaten zur Ausfallpforte.
Während sie einen nach dem anderen auf dem Küstenpfad im Nebel verschwinden sah, empfand Angélique unsagbare Erleichterung.
Noch drei oder vier Familien waren zu benachrichtigen, dazu die Manigaults, die in einem entfernteren Viertel wohnten.
Ein Glockenspiel perlte durch die Dämmerung, und fast gleichzeitig erhoben durch den Nebel erstickte rhythmische Glockentöne den Ruf des Angelus. Das Erwachen der Stadt wurde spürbarer. Handwerker schlugen die Läden vor ihren Buden zurück.
Mit der Familie des Bäckers der Walltreppe zustrebend, blieb Angélique plötzlich stehen und horchte.
Vom Wallgang herunter drang das Geräusch eiliger Schritte. Männerstimmen riefen sich etwas zu. Dann beugte sich etwas Scharlachrotes oben über den Rand der Bastion. Der Nebel war noch zu dicht, als daß der Soldat die Flüchtlinge unten in der Gasse hätte bemerken können. Sie zogen sich lautlos zurück und beratschlagten im Schütze der Wölbung eines benachbarten Haustors.
»Die Ablösung ist eingetroffen, und sie haben das Verschwinden des Wächters entdeckt«, sagte Angélique. »Wahrscheinlich haben sie ihn im Verdacht, durch die Pforte entwischt zu sein. Aber in jedem Fall werden sie sie verriegeln oder einen Posten davor stellen.«
Die Sicht wurde mit jedem Augenblick klarer und ließ bereits die stattliche Zahl der oben versammelten Uniformen erkennen.
»Die Rotröcke, die Dragoner«, murmelte der Bäk-ker. »Warum solche Machtentfaltung?«
»Vielleicht wegen der Ankunft der holländischen Flotte.«
Die Frau des Bäckers begann zu weinen.
»Da haben wir unser Pech! Wenn du dich ein bißchen mehr beeilt hättest, Antoine, hätten wir noch passieren können. Wie sollen wir jetzt aus der Stadt kommen?«
»Natürlich durch eins der Stadttore«, beruhigte sie Angélique. »Man wird eben dabei sein, sie zu öffnen.«
Sie setzte ihnen auseinander, daß sie nicht mehr Aufmerksamkeit erregen würden als andere Handwerker oder Kaufleute, die sich in den ersten Tagesstunden nach La Pallice oder zur Ile de Ré begaben.
»Die Stadt befindet sich nicht im Belagerungszustand, und die Polizei läßt uns noch einen Tag Ruhe. Ihr werdet mit euren Brotkörben durchgehen, als ob ihr irgendwo etwas zu liefern hattet. Wenn man euch fragt, nennt ihr eure Namen.«
Sie brachte es zuwege, ihnen erneut ein Gefühl der Sicherheit zu vermitteln, und sie entfernten sich zwischen den ersten Passanten. Meister Romain hatte sich mit einem tüchtigen Vorrat seines letzten Ofenschubs ausgerüstet. Man würde auf diese Weise wenigstens etwas zu beißen haben, bis man die erste Ration Schiffszwieback erhalten würde.
In den Augen derer, die ihn vorbeigehen sahen, war er an diesem Morgen nicht mehr und nicht weniger als ein Bäcker aus La Rochelle unter seinen Mitbürgern, und dennoch fühlte er sich schon als Exilierter, während er und die Seinen schweren Herzens und noch betäubt von der Überstürzung des Aufbruchs dem Saint-Nicolas-Tor zuschritten.
Angélique fand die Manigaults bei Tisch in ihrem prächtigen ausgestatteten Speisezimmer und Siriki damit beschäftigt, ihnen heißen, duftenden Kakao einzuschenken.
Sie war zumindest ebenso außer Atem wie an dem Tage, an dem sie zum erstenmal zu ihnen gekommen war, um Monsieur de Bardagne zu holen.
Denn die Sonne stand bereits hoch. Nach dem nächtlichen Sturm kündigte sich ein strahlender Tag an. Der Nebel hatte sich fast völlig aufgelöst. Die Stadt summte vor Leben. Die Nacht entzog ihnen ihren Beistand. Sie mußten den Gefahren nun bei Tageslicht trotzen.
So kurz zusammengefaßt wie möglich, teilte ihnen Angélique die letzten Ereignisse mit. Ihr Fluchtplan war entdeckt, ihre Arretierung stand unmittelbar bevor, ein einziger Ausweg blieb: sich sofort auf ein Schiff zu begeben, das bereit war, sie an Bord zu nehmen, und in der Umgebung La Rochelles ankerte. Die Schwierigkeit war, aus der Stadt herauszukommen, ohne Verdacht zu erregen. Die Manigaults waren sehr bekannt, und man hatte zweifellos ihretwegen schon gewisse Befehle erteilt. Es war unbedingt erforderlich, getrennt und unter falschem Namen die Tore zu passieren. Einmal außerhalb der Stadt, würde man sich im Weiler Saint-Maurice treffen ...
Maître Manigault, seine Frau, seine vier Töchter, sein kleines Söhnchen und sein Schwiegersohn schienen wie zu Stein erstarrt, in der gleichen Bewegung, in der sie bei ihrem Frühstück unterbrochen worden waren.
»Sie ist verrückt, dieses Mädchen!« zeterte Madame Manigault. »Wie? So, wie wir sind, sollen wir nach Amerika reisen? Und alles stehen und liegen lassen?«
»Wie nennt sich das in Frage stehende Schiff?« erkundigte sich der Reeder streng.
»Die ... Gouldsboro.«
»Kenn’ ich nicht. Gehören diese Männer, die Euch begleiten, zu ihrer Mannschaft?«
»Ja, Monsieur.«
»Nach ihren Visagen zu schließen, scheint es ein wenig empfehlenswertes, wenn nicht gar verdächtiges Schiff zu sein.«
»So ist es, aber sein Kapitän ist bereit, andere Verdächtige, uns nämlich, an Bord zu nehmen. Um so schlimmer für Euch, wenn Ihr diesen da die Galgenvogelgesichter der Büttel Baumiers vorzieht, die Euch heute abend verhaften und ins Gefängnis werfen werden.«
»Aus dem Gefängnis kommt man auch wieder heraus. Ich habe Beziehungen.«
»Nein, Monsieur Manigault, diesmal werdet Ihr nicht wieder herauskommen.«
Einer der Matrosen, die sie begleiteten, berührte sie am Arm.
»Madame«, sagte er in gebrochenem Französisch, »der Chef hat uns befohlen, uns bei Tagesanbruch aus der Stadt zu verkrümeln. Wir müssen uns beeilen.«
Angélique wäre angesichts dieser Familie, die friedlich um ihren reich besetzten Tisch saß und es sich schmecken ließ, als ob der Himmel nicht jeden Augenblick über ihr einstürzen könne, am liebsten aus der Haut gefahren. Manigault zurückzulassen, bedeutete, auf einen erfahrenen Kaufmann zu ver-zichten, mit dessen Reichtum es kein anderer der kleinen Gemeinschaft aufnehmen konnte. Sie hatte dem Rescator versprochen, daß man ihn belohnen würde. Und vor allem war da dieses schöne, blonde Kind, der kleine Jérémie, der soviel Ähnlichkeit mit Charles-Henri aufwies.
»Um so schlimmer für Euch und Euren Sohn«, sagte sie. »Ich bedaure nur, mein Leben aufs Spiel gesetzt zu haben, weil ich Euch benachrichtigen wollte. Wenn ich nicht bis hierher hätte laufen müssen, wäre ich jetzt zweifellos schon in Saint-Maurice. Jede Minute, die verstreicht, verringert unsere Chancen. Ihr hattet Euch schon entschlossen fortzugehen, nun wollt Ihr nicht. Ihr wartet auf das Wunder, das Euch erlauben würde, alles zu behalten; Eure Stellung, Euer Geld, Euren Glauben, Eure Stadt. Ihr, die Ihr die Schriften lest, hättet Euch erinnern müssen, daß den in Ägypten gefangenen Juden befohlen war, das Passahlamm stehend, mit gegürteten Lenden, den Stecken in der Hand, zum Aufbruch bereit, zu essen, auf daß sie fliehen konnten, sobald das Zeichen gegeben war ... bevor der Pharao sich eines andern besann.«
Der Reeder Manigault starrte sie an. Sein Gesicht rötete sich und verlor gleich darauf alle Farbe.
»Bevor der Pharao sich eines andern besann«, murmelte er. »Ich hatte in dieser Nacht einen Traum. Alle Bedrohungen, die uns umringen, nahmen Gestalt an. Ich wußte, daß eine riesige Schlange mich und die Meinen ersticken würde. Sie kroch immer näher, und ihr Kopf... ihr Kopf war der .«
Er unterbrach sich, stand mit noch immer starrem Blick auf, und nachdem er sich bedächtig den Mund mit seiner Serviette gewischt hatte, legte er sie neben die halb mit Kakao gefüllte Tasse.
»Komm, Jérémie«, sagte er und nahm die Hand seines Sohns.
»Wohin geht Ihr?« rief Madame Manigault.
»Zum Schiff.«
»Ihr werdet doch nicht den albernen Geschichten dieses Mädchens glauben!«
»Ich glaube an sie, weil ich weiß, daß sie wahr sind. Schon seit mehreren Tagen habe ich den Verdacht, daß wir verraten worden sind.« Er wandte sich an den alten Neger. »Hole mir Mantel und Hut, desgleichen für Jérémie.«
»Nehmt Gold mit«, flüsterte ihm Angélique zu. »Alles, was Ihr in Euren Taschen forttragen könnt.«
Madame Manigault erging sich in Klagen:
»Er verliert wahrhaftig den Kopf! Was soll aus uns werden, meine Töchter?«
Die jungen Mädchen sahen ratlos von ihrem Vater zu ihrer Mutter.
Der Offizier, Schwiegersohn des Reeders, erhob sich gleichfalls.
»Komm, Jenny«, sagte er, seine junge Frau bei den Schultern nehmend. Er betrachtete sie mit ernster Zärtlichkeit.
»Wir müssen fort.«
»Wie denn? Jetzt?« stammelte sie bestürzt.
Schon die Aussicht auf die Fahrt mit der Sainte-Marie hatte sie in Schrecken versetzt, denn sie erwartete ein Kind.
»Du hattest doch schon ein wenig Gepäck für den Aufbruch vorbereitet. Nimm es. Der Augenblick ist gekommen.«
»Ich habe auch einen Reisesack«, sagte Manigault. »Er ist ziemlich umfangreich, aber Siriki wird ihn tragen.«
»Siriki darf uns nicht folgen«, riet Angélique mit leiser Stimme. »Allzu viele in der Stadt wissen, daß er Euer Neger ist. Man wird Euch sofort bemerken. Ihr werdet überwacht.«
»Siriki zurücklassen?« protestierte der Reeder. »Das ist ganz unmöglich. Wer wird sich um ihn kümmern?«
»Euer Teilhaber, Sieur Thomas, der nach Eurer Abreise Eure Geschäfte wahrnehmen und sich mit Euch in Verbindung setzen soll, sobald Ihr auf den Inseln angelangt seid.«
»Mein Teilhaber? ... Gerade er ist es, der uns verraten hat. Jetzt bin ich dessen sicher. Zweifellos träumt er davon, sich alles anzueignen.«
Er fügte düster hinzu:
»Der Kopf der Schlange, die ich in meinem Traume sah, war der seine.«
Im Vestibül streifte sein bitterer Blick die festgefügten und verzierten Deckenwölbungen. Verglaste Türen öffneten sich auf die Alleen eines großen Gartens, andere auf den Hof mit der unvermeidli-chen Palme.
Manigault ergriff Jérémies Hand und überquerte den Hof. Einer der Matrosen folgte ihm mit seinem Reisesack.
»Wohin geht Ihr?« kreischte Madame Manigault. »Ich bin noch längst nicht fertig. Ich muß noch einige Schüsseln der Sammlung einpacken, die kostbarsten .«
»Packt ein, was Ihr wollt, Sarah, und stoßt zu uns, wann Ihr könnt, aber beeilt Euch wenigstens diesmal«, antwortete der Reeder mit der weisen Miene eines Philosophen.
Das junge Ehepaar folgte ihm. Eine seiner Töchter lief hinter ihm her und erreichte ihn, als er eben die Straße betreten wollte.
»Vater, ich will mit Euch gehen.«
»Komm, Deborah!«
Neben Jérémie war sie sein Liebling.
Er hatte die Kraft, die Schwelle zu überschreiten und in die Straße einzubiegen, ohne den Kopf zu wenden.
In der Nähe des Saint-Nicolas-Tor beschloß die aus dem Reeder, seinem Sohn und seiner Tochter, seinem Schwiegersohn und dessen Frau sowie aus Angélique und den drei Matrosen bestehende Gruppe, sich zu trennen. Joseph Garret, der Offizier, passierte als erster mit Jenny und Jérémie, ihm folgte Manigault, von den drei Seeleuten umgeben. Auf die Fragen, die ihnen gestellt wurden, antwortete einer der Matrosen des Piratenschiffs in englischer Sprache. Es traf sich, daß der Posten kein Sterbenswörtchen davon verstand, aber wußte, daß ein englisches Schiff seit dem vorhergehenden Tage im Hafen lag. Mit einer Geste, die bedeuten sollte, daß er sehr wohl begriffen habe, gab er den sich offenbar auf einem Spaziergang befindlichen Ausländern den Weg frei. Zwei Schöne aus der Gegend - Angélique und Deborah - schienen sie zu begleiten. Sobald ihnen die Genehmigung erteilt worden war, durchschritten sie sichtbar frohgemut das Tor, ohne sich die Mühe zu machen, Namen und bürgerliche Stellung zu nennen, und die Soldaten wagten es nicht, sie zurückzurufen.
Die Gruppe entfernte sich, von nachsichtigen Blicken gefolgt.
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