»Der Wind kommt von Norden! ... Schlecht für uns .«
»Teufel!«
Selbst Angélique konnte feststellen, daß der Wind sie auf die Stadt zutrieb. Auf der Brücke schrie sich Kapitän Jason die Lungen aus, um einige Segel zu hissen und andere reffen zu lassen, Maßnahmen, durch die er den Kurs verändern und sein Fahrzeug dem Kanal von La Pallice näherzubringen hoffte.
Ein Matrose trat auf den Rescator zu und reichte ihm das Fernrohr. Der Pirat hob die Hand zu seiner Maske, als ob er sie abnehmen wolle. Er besann sich jedoch eines anderen und sah sich kurz um.
»Die Verwundeten und Passagiere in den Schiffsraum! Nur die Mannschaft bleibt auf Deck!«
Er hob das Fernrohr, beobachtete einige Augenblicke Küste und See und die Bemühungen der Gouldsboro, sich trotz des Gegenwindes vom Land zu lösen.
»Nein, nicht Ihr«, fuhr er fort, ohne sich umzuwenden.
Ohne Zweifel hatte er die Bewegung gespürt, mit der Angélique sich anschickte, fügsam der Gruppe der Flüchtlinge zu folgen, die durch eine Luke ins Schiffsinnere hinabstieg.
Der Rescator ließ das Fernrohr sinken und wandte sich der jungen Frau zu. Er musterte sie.
Sie stand vor ihm, das Gesicht noch immer von der Erregung der letzten Stunde gezeichnet, ihre Tochter fest an sich drückend. Der Wind zauste Honorines Haar und verwandelte es in glühende Flammen.
»Eure Tochter«, sagte er mit seiner dumpfen Stimme. »Es ist wahr ... Sie ähnelt Euch. Welcher dieser Hugenotten, die wir soeben an Bord genommen haben, ist ihr Vater?«
War es der rechte Augenblick, solche Fragen zu stellen?
Angélique schien es, als ob die Stadt sich näherte. Es fehlte nicht viel, und man hätte die Neugierigen in den Fenstern und auf den Wällen bemerken können, die zusammenliefen, um das verzweifelte Manöver dieses unbekannten Schiffes zu beobachten.
»Sein Vater«, sagte sie, ihn wie einen Wahnwitzigen anstarrend. »Stellt Euch vor, es ist Gott Neptun selbst ... Ja, man hat es mir gesagt. Und nun achtet lieber darauf, wo wir uns befinden. Wir werden das Fort Louis in Schußweite passieren. Wenn die Garnison benachrichtigt worden ist, sind wir verloren.«
»Das könnte sehr gut möglich sein, meine Liebe.«
Der Gouldsboro war es nicht geglückt, das Kap zu umsegeln. Sie blieb weiterhin in Sicht La Rochelles und des mit Zinnen besetzten Forts, in dem man eine verdächtige Bewegung bemerken konnte.
»Ihr! ... Kommt mit mir!« befahl der Rescator barsch, indem er Angélique ein Zeichen gab, ihm zu folgen.
Mit großen Schritten überquerte er das Deck, erstieg die Treppe zur hinteren Schanze, danach die zur Deckskajüte.
»Geht in Deckung, Madame«, sagte Nicolas Perrot, der Mann mit der Pelzmütze, indem er Angélique zu den Räumen des Rescators unter der Deckskajüte wies.
Mit einem Lächeln fügte er hinzu:
»Unser Chef nimmt selbst das Ruder. Also werden wir entwischen.«
Dieses Vertrauen in die Geschicklichkeit desjenigen, der das Schiff führte, schien von der ganzen Mannschaft geteilt zu werden. Unter den Männern herrschte die größte Ruhe. Ein paar in die Toppen und Wanten gekletterten Burschen riefen einander sogar Scherzworte zu, den spöttischen Gleichmut dessen imitierend, der sie gelehrt hatte, allen Gefahren mit lächelnder Gefaßtheit entgegenzusehen.
»Aber das Fort Louis wird schießen«, stieß Angélique mit tonloser Stimme hervor.
»Das ist sogar sehr wahrscheinlich«, stimmte Perrot, der bei ihr blieb und offenbar mit ihrer Bewachung betraut war, in seinem merkwürdig akzentuierten Französisch zu.
Plötzlich dröhnte durch das Sprachrohr des Kapitäns Jason über ihren Köpfen eine Flut von Befehlen, die für die Leute in den Wanten bestimmt waren.
Im luftigen Gewirr der Taue, Rahen und Segel entwickelte sich alsbald eine fieberhafte Tätigkeit, und menschliche Silhouetten bewegten sich mit affenartiger Behendigkeit in schwindelerregender Höhe von einem Haltepunkt zum andern.
Im gleichen Augenblick, in dem die Rauchfahnen brennender Pfeile über dem Fort Louis aufstiegen, schwangen die Segel der Gouldsboro herum. Das Fahrzeug rührte sich kaum noch und schien angesichts des Forts und der auf sich gerichteten Kanonen unbeweglich verharren zu wollen.
»Werft den Anker!«
Unmittelbar darauf war das Rasseln der fallenden Kette und danach das Aufspritzen des Wassers zu vernehmen, das der Aufschlag des Ankers verursacht hatte.
Angélique warf ihrem Begleiter einen verständnislosen, beunruhigten Blick zu.
»Will der Rescator verhandeln?« fragte sie, von Panik ergriffen.
Er schüttelte den schweren Bärenschädel.
»Ist nicht seine Art«, brummte er. »Sieht eher so aus, als ob er meint, beim Pottfischfang in der Mündung des Saint-Laurent zu sein.«
Der Anker stieß auf Grund. Das Schiff lag still und drehte sich nur sacht in die Windrichtung.
Vom Land herüber drang das Donnern der auf Befehl zugleich abgefeuerten Kanonen des Forts. Doch im selben Moment schwang das Ziel unter dem Druck eines jähen Steuereinschlags geschmeidig um die Achse seines festsitzenden Ankers. Der Kugelschwarm pfiff dicht an ihm vorbei und wühlte die Stelle, an der die Gouldsboro noch drei Sekunden zuvor ihre Flanke dargeboten hatte, weißschäumend auf.
Wie ein geschickter Duellant war sie dem tödlichen Stoß ausgewichen.
Doch die Vernichtung war nur aufgeschoben. Bevor der Anker wieder heraufgeholt werden könnte, würde die zweite Salve ihr Ziel nicht verfehlen.
Kaum hatte Angélique diese Überlegung zu Ende geführt, als das Sprachrohr ertönte:
»Kappt den Anker!«
Wie durch Zauberei stand ein Amboß auf der vorderen Schanze bereit, und drei kraftvoll gerührte Hammerschläge genügten, um die Kette zu sprengen.
»Volle Segel! ... Kurs Nord-Ost!«
Das befreite Schiff beugte sich unter dem Druck des aufkommenden Windes. Die durch die Schnelligkeit des Manövers überrumpelten Kanoniere des Forts zielten vergeblich. Die Kugeln streiften zwar fast ihr Ziel, die Einschläge ließen es schwanken und überschütteten es mit aufspritzender Gischt, doch unbeschädigt setzte es seinen Weg fort.
»Hipphipphurra!« schrie Nicolas Perrot.
Vielstimmig wurde der Schrei von der Mannschaft aufgenommen.
»Zehn >Bälle< hätten uns die Schweinehunde in die Eingeweide gejagt, wenn unser Chef nicht der beste Skipper aller Meere wäre«, erklärte Perrot. »Wir wären sonst längst baden gegangen. Mein Wort drauf! ... Habt Ihr ihn am Steuer gesehen? ... Kehrt jetzt lieber in den Salon zurück, Madame. Wir sind aus diesem Wespennest noch nicht heraus.«
»Nein, ich will bis zum Schluß hierbleiben, bis ich das offene Meer vor mir sehe.«
»Nach Eurem Belieben, Madame! Manche ziehen es vor, dem Tod ins Gesicht zu sehen. Und schließlich ist es nicht die schlechteste Art, denn manchmal macht es ihm Angst, und er weicht zurück.«
Angélique begann so etwas wie Freundschaft für diesen Trapper vom fernen Saint-Laurent zu verspüren. Trotz seiner Fellmütze und seiner von Tätowierungen blauen Arme sah er nicht eigentlich wie ein glaubens- und gesetzloser Freibeuter aus.
Nach dem Akrobatenstückchen, mit dem sie sich den Salven des Forts Louis entzogen hatte, richtete sich die Gouldsboro wieder auf und schien zu schnauben wie ein Schlachtroß, das sich des bevorstehenden Kampfes bewußt wird. Ein leichtes Drehen des Windes nach Westen erlaubte dem Schiff, seinen Kurs fortzusetzen. Alle seine Segel waren gesetzt, es schien wie mit Leinwand bedeckt, um von der flüchtigen Huld seines Feindes, des Nordwinds, zu profitieren, und entfernte sich rasch von La Rochelle. Es gelang ihm sogar, das die Bucht beherrschende Kap zu passieren.
Um auf offene See zu gelangen, mußte es noch eine der engen Durchfahrten zwischen den Inseln hinter sich bringen. Der starke Wind aus Nord-West, der an diesem Tage blies, verlegte ihm den Zugang zur Enge von Antioche im Süden zwischen den Inseln von Ré, Aix und Oléron. Um aber die bretonische Enge, die schmälste und geschützteste Wasserstraße zwischen dem Kontinent und der Nordküste der Ile de Ré zu erreichen, mußte es noch den Kanal zwischen La Pallice und der Landspitze von Sablonceaux durchqueren.
Der Rescator schien sich für diese letztere Möglichkeit entschlossen zu haben. Das Sprachrohr Kapitäns Jasons erscholl:
»He! Ihr da oben! Geit die oberen Segel auf! Laßt Bugsprietsegel, Briggsegel und Stagsegel schießen!«
Mit entfalteten Untersegeln glitt die Gouldsboro in die Durchfahrt zwischen den beiden Vorgebirgen.
Angélique atmete kaum. Sie wußte, wie gefährlich der flache, von unsichtbaren Felsen durchzogene Kanal war, von dem die Matrosen im Hafen nur mit Besorgnis sprachen. Der in kurzen Stößen kommende Wind, der kleine, harte, heftige Wellen gegen die Schiffsflanke trieb, drohte, die Gouldsboro jeden Augenblick aus dem schmalen Fahrwasser zu drängen, außerhalb dessen ein Schiff von größerer Tonnage jämmerlich Schiffbruch erleiden mußte.
»Habt Ihr diese Durchfahrt schon einmal passiert?« erkundigte sie sich bei ihrem Bewacher.
»Nein, wir sind von Süden gekommen.«
»Dann braucht Ihr einen Lotsen. Unter meinen Freunden ist der Fischer Le Gall. Er kennt alle Fallen des Kanals.«
»Gute Idee!« rief der Mann mit der Pelzmütze. Er lief davon, um den beiden Kapitänen die Nachricht zu bringen.
Gleich darauf erschien Le Gall, von einem Matrosen geleitet. Angélique konnte ihrem Verlangen nicht widerstehen, ihm in die Deckskajüte zu folgen.
Noch immer maskiert, stand der Rescator am Ruder. Alle Geisteskräfte aufs äußerste angespannt, suchte er am leisesten Zittern des Schiffes, an dem winzigsten Anzeichen, das auf Untiefen schließen ließ, die schwierige Durchfahrt zu erkennen. Er wechselte einige Worte mit dem Schiffer, dann überließ er ihm seinen Platz.
Angélique verhielt sich so still wie möglich und veranlaßte auch Honorine dazu.
Das kleine Mädchen schien zu begreifen, daß die Brücke eines Schiffs in der Stunde der Gefahr kein Platz für Frauen und Kinder war, aber um nichts auf der Welt hätte es woanders sein mögen.
Die Gouldsboro glitt mit größerer Sicherheit vorwärts.
»Und wenn uns nun das Fort von Grand Sablonceaux beschießt?« fragte Le Gall, indem er einen Blick zur äußersten Spitze der Ile de Ré hinüberwarf, auf der die Umrisse der Festung zu erkennen waren. »Wie’s Gott gefällt«, antwortete der Rescator.
Der Horizont verlor seine durchsichtige Klarheit. Mit der Hitze des aufsteigenden Tages erhob sich goldener Dunst, der die Ufer verschleierte.
Eine Stimme drang vom Mastkorb herunter:
»Kriegsschiff voraus! Mit Kurs auf uns!«
Kapitän Jason stieß einen Fluch aus. Seine Stimme klang entmutigt.
»Wir sitzen im Loch wie die Ratten!«
»Damit war zu rechnen«, sagte der Rescator, als spräche er von der natürlichsten Sache der Welt. »Gebt Befehl, die Geschwindigkeit zu verringern .«
»Warum?«
»Um mir den Vorteil der Überlegung zu gönnen.«
Das Kriegsschiff, das bis dahin außerhalb ihres Gesichtsfeldes geblieben war, erschien hinter der Landspitze von Sablonceaux. Seine entfalteten Segel hoben sich kreidig weiß vom diesigen Himmel ab. Da es den Wind im Rücken hatte, kam es rasch voran.
Der Rescator legte eine Hand auf die Schulter Corentin Le Galls.
»Die Flut beginnt zu fallen. Sagt, Monsieur, wenn die Durchfahrt bereits für uns schwierig wird, ist sie dann nicht unendlich gefährlicher für einen Gegner von größerer Tonnage, der sich auf uns zubewegt?«
Angéliques Blick fiel auf die Hand, die locker die Schulter des Seemanns umspannte. Eine zugleich muskulöse und rassige Hand, an deren Ringfinger ein schwerer Reif aus verziertem Silber saß. Sie fühlte sich erbleichen.
Sie kannte diese nackte Hand mit dem kraftvollen und doch zarten Gelenk. Wo hatte sie sie schon einmal gesehen? Zweifellos in Kandia, wo er den Handschuh abgestreift hatte, um sie zu einem Diwan zu führen. Aber es war nicht nur das. Sie erkannte sie wie etwas unendlich Vertrautes wieder, und es schien ihr, als ob das Nahen ihrer letzten Stunde ihre Sinne verwirre. Jenes Schicksal, das Osman Ferradji in den Sternen gelesen hatte - sollte sie sich in dramatischer Verkürzung seiner bewußt werden, während der Tod sich ihr näherte?
Doch gleichzeitig wußte sie auch, daß sie nicht sterben würde. Weil der Rescator es war, der ihr Geschick in seiner Hand hielt. Dieser rätselhaften Persönlichkeit haftete etwas von der Unverletzlichkeit des antiken Helden an. Mit kindlicher, närrischer Unbedingtheit glaubte sie daran, und bisher hatte sie sich in diesem unglaublichen Unternehmen nicht darin getäuscht.
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