Das Gesicht des Lotsen hellte sich auf.

»Wahrhaftig!« rief er aus. »Ihr habt tausendmal recht, Monsieur! Sie müssen verteufelt drauf aus sein, Euch zu erwischen, wenn sie sich um diese Stunde bis in den Kanal vorwagen. Bestimmt haben sie einen unserer guten Lotsen an Bord, aber ihre Position ist kitzlig.«

»Wir werden sie noch kitzliger für sie machen ... Und außerdem werden sie uns als Schild dienen, für den Fall, daß sich das Fort einmischen sollte. Ich werde sie zwingen, sich zwischen ihm und uns zu placieren ... Vorwärts! Bereitet Euch zum Kampf vor!«

Und während sich die Marsgäste in die Takelung stürzten, spritzte der Rest der Mannschaft aus der Back, wo er sich bis dahin aufgehalten hatte, Beile und Entersäbel wurden verteilt, und die Planen, die die Feldschlangen verbargen, wurden abgezogen.

Jeder hastete auf seinen Posten.

Mit Musketen bewaffnete Matrosen kletterten in die Körbe der drei Masten und hißten Kästen mit Granaten hinauf, die dazu bestimmt waren, aufs feindliche Deck geworfen zu werden.

»Sand auf die Decks?« fragte der zweite Offizier.

»Ich glaube nicht, daß es soweit kommen wird«, erwiderte der Rescator, das Auge fest ans Fernrohr gepreßt.

Und er wiederholte, unter seiner Maske ironisch lächelnd: »Sand auf die Decks ... Pah!« Angélique erinnerte sich dieser letzten, äußersten Vorbereitung aus dem Mittelmeer. Man bestreute die Deckplanken mit Sand, um zu verhindern, daß die nackten Füße der überlebenden Kämpfer im verströmten Blut ausglitten.

»Sie werden kentern, bevor sie uns einen einzigen Enterhaken zuwerfen können«, setzte der Pirat achselzuckend hinzu.

Er schien seiner Sache so sicher, daß während der folgenden Minuten, in denen sich die beiden Schiffe unausweichlich einander näherten, die Spannung nachließ. Übrigens war sehr schnell festzustellen, daß sich das Kriegsschiff in einer üblen Lage befand. Infolge des Gewichts seiner vierzig Kanonen und der Unklugheit, alle Segel zu setzen, vermochte es kaum seinen Kurs zu halten. Die Wellen trieben es gegen das Ufer.

»Und wenn es uns beschießt?« fragte Le Gall.

»Dieses Monstrum? . Es sitzt viel zu tief in der Tinte, um sich in Schußposition zu manövrieren. Und wir kehren ihm außerdem den Bugspriet zu. Das Ziel ist zu klein.«

Unerschrocken bewegte sich die Gouldsboro weiter voran. Das Kriegsschiff kämpfte mehr und mehr, um sich flott zu halten. Unwiderstehlich gegen die Felsen gedrängt, neigte es sich plötzlich, und ein dumpfes Krachen drang herüber.

»Gekentert!« schrie die Besatzung der Deckskajüte der Gouldsboro.

Die Matrosen schwenkten ihre Mützen und brachen in wildes Freudengeheul aus.

»Nehmen wir uns in acht, daß es uns nicht ebenso geht«, empfahl der Rescator. »Das Meer fällt gefährlich.«

Und er schickte Leute mit Meßruten zur Back.

Seinen Kurs verfolgend, glitt das Piratenschiff an seinem ohnmächtigen Gegner vorbei, von dem Beschimpfungen und Flüche zu ihnen herüberschallten.

»Schicken wir ihnen eine Salve?« fragte Kapitän Jason. »Wir sind in guter Position.«

»Nein! Es hat keinen Sinn, allzu böse Erinnerungen hinter uns zu lassen. Ganz abgesehen davon, daß wir uns noch nicht aus der Affäre gezogen haben.«

Auch Angélique dachte daran, daß andere Schiffe auftauchen und ihnen den Weg verlegen könnten. Aber es glückte ihnen, den Kanal ohne Gefährdung zu passieren und in die bretonische Enge einzulaufen.

Le Gall straffte sich, die Hände auf der Ruderpinne.

»Das Schwierigste liegt hinter uns, Monsieur. Ich würde vorschlagen, alle Segel zu setzen und der Nordküste bis zum Ausgang, der Spitze von Grouin du Gou, zu folgen.«

»Einverstanden.«

Das Manövrieren wurde leichter. Die Enge bot ihnen Schutz, und der Wind, dessen Heftigkeit nachgelassen hatte und der aus günstigerer Richtung blies, machte sich zu ihrem Verbündeten. Der leichte Dunst erlaubte es, die in weiter Kurve sich hinziehende Küstenlinie des Landes und die schneeige Kante der Salzteiche zu erkennen.

Doch auf der anderen Seite lag Saint-Martin de Ré, und bald lösten sich dort drüben die Schiffe der königlichen Flotte wie Gebilde eines Traums und steuerten ihnen, eins nach dem anderen, entgegen. Die Meute begab sich auf die Jagd.

In gespanntem Schweigen beobachteten sie ihr Vorrücken.

»So nahe dem Ziel«, murmelte Le Gall. »Wir sind schon an der Spitze von Arçay vorüber.«

»Setzen wir soviel Leinwand wie möglich! Der Wind hat sich leicht gedreht. Er hilft uns.«

»Ihnen auch.«

»Aber wir haben Vorsprung.«

Kurze Sätze, die dazu dienten, die Lage zu klären, die Chancen zu wägen und nicht die geringste ungenutzt zu lassen.

»Nachdem die vordersten Schiffe der Flotte mit beunruhigender Schnelligkeit größer geworden waren, schienen sie nun ihre Distanz zu bewahren. Die Gouldsboro befand sich noch außerhalb der Schußweite ihrer Kanonen.

Von neuem legte der Rescator eine Hand auf die Schulter des Rochellesers.

»Sehen wir zu, daß wir auf offene See gelangen, Freund. Auf die Ehre des Rescators verspreche ich Euch, daß wir draußen so vor den Wind gehen werden, daß keines der Schiffe Seiner Majestät uns einholen wird.«

»Wir werden hinausgelangen, Monsieur«, antwortete der Lotse, von der Zuversicht angesteckt.

Die Augen unverwandt auf die Wasserstraße vor ihm gerichtet, suchte er die leisesten Strömungen, die geringste Brise zu nutzen, um dem Schiff, das er führte, alle Möglichkeiten seiner Schnelligkeit zu verleihen. Ah, wie er dieses Gewässer kannte, wo er so oft singend seine Netze ausgeworfen und seine Hummernkörbe hochgezogen hatte, mit Liebe die klaren, vergoldeten Linien des Wassers, des Festlands und der Inseln um sich betrachtend, die die vertraute Landschaft seines Daseins bildeten! Von bretonischer Herkunft, war seine Familie vor drei Generationen in La Rochelle ansässig geworden, was sein Hugenottentum erklärte und die Hartnäckigkeit, mit der er seinem Glauben anhing wie ein katholischer Bretone dem seinen. Er dachte in dieser Stunde daran, daß er heute diese Landschaft seines Glücks durchfuhr, um sie zu fliehen, daß sich im Bauch dieses verfolgten Schiffes seine Frau und seine Kinder befanden und daß es schrecklich wäre, hier zu sterben, versenkt durch die Geschosse des Königs von Frankreich angesichts dieser Inseln und dieser Stadt.

Ihn quälte nicht so sehr die Furcht vor dem Tode, dem er so oft im Laufe seiner Fahrten ins Gesicht gesehen hatte, als vielmehr die Pein des Verrats.

»Oh, Herr, sieh, was wir in deinem Namen zu leiden haben! Warum? ... Warum?«

Angélique warf einen Blick zurück. Die Segel der Verfolger wuchsen von neuem hinter ihnen auf. Doch schon schien die Bewegung der See, schienen die schaumigen Kämme der Wogen die Nähe des offenen Meeres anzukündigen. Die Küste wich zurück, schrumpfte zu einem schmalen Streifen. Der Wind hinterließ einen bitteren Geschmack und wurde rauher. Der verschleierte Horizont ließ eine größere Weite ahnen.

Das Meer! . Aber war es nicht zu spät? .

Sie betrachtete den Rescator und bemerkte, daß auch er sie durch die Schlitze seiner Maske fixierte.

Sie nahm an, daß er ihr befehlen würde zu gehen, da ihr Platz nicht auf der Brücke sei, daß er sie mit der Ironie, die er so gut gegen sie zu spitzen wußte, verjagen würde.

Doch er sagte nichts. Das Gefühl stieg in ihr auf, daß er sie so ansah, weil die Dinge eine schlimme Wendung nahmen und der Augenblick von unheilvoller Bedeutung sei. Sie, die bisher Vertrauen bewahrt hatte, verspürte Furcht.

»Ist es zu spät?« fragte sie.

In diesem Moment reckte sich Honorine in ihren Armen auf und wies zum Horizont.

»Da!« rief sie mit freudiger Miene. »Viele Vögel!«

Die Vögel ... waren Schiffe. Sie tauchten über den Horizont und versperrten die Ausfahrt aus der Bucht.

Nach einigen Augenblicken schon schien ihre Zahl unendlich. Eingekreist zwischen ihre Annäherung und die Phalanx der königlichen Flotte, ähnelte die Gouldsboro einem in die Enge getriebenen, von allen Seiten umringten Wild, das nicht einmal mehr die Möglichkeit hat, sich den zu seiner Vernichtung versammelten Feinden entgegenzustellen.

Die auf ihren Gefechtsposten verharrenden Matrosen stießen ungläubige und bestürzte Rufe aus. Diesmal war die Übermacht zu groß. Sie würden kämpfen, aber nicht siegen, und alle Fluchtwege waren ihnen versperrt. Doch fast zugleich ließ der Rescator einen Ausruf hören und brach in wildes Gelächter aus. Er vermochte nicht zu sprechen, so sehr überwältigte ihn das Lachen, das schließlich in einem Hustenanfall erstickte.

»Er ist toll geworden«, sagte sich Angélique versteinert.

Endlich gelang es dem Piraten, zu Atem zu kom-men:

»Die Holländer!«

Die allgemeine Bestürzung verwandelte sich in einen wahren Freudentaumel.

»Hißt die englische Handelsflagge am Großmast!« brüllte Kapitän Jason auf englisch in sein Sprachrohr.

Er wiederholte den Befehl in französischer Sprache.

Im Winde knatternd, stiegen die Flaggen hoch: die mit dem roten Kreuz über einem weißen Andreaskreuz auf blauem Grund am Großmast und am Heck die rote, die in einer Ecke das gleiche dreifarbige Kreuzemblem trug.

Hart mitgenommen durch den Sturm der vergangenen Nacht, glitten die schwerfälligen Handelsschiffe mit feierlicher Langsamkeit in die bretonische Enge. Zwei mächtige Linienschiffe liefen ihnen mit ihren fünf Masten, drei Batteriedecks und zweiundsiebzig Kanonen voraus. Ihnen folgte ein Schwarm von rund vierhundert Kauffahrern aller Tonnagen, deren kleinster aber noch dreihundert Tonnen überstieg. Diese dickbauchige Flotte wurde von zwanzig Kriegsfahrzeugen eingerahmt, die jedoch den Vergleich mit den großen Dreideckern nicht aushielten.

Die Gouldsboro schmuggelte sich mit der Behendigkeit eines Hasen, der sich im dichten Unterholz eines Waldes verliert, in ihre Reihen. Nach wenigen Augenblicken befanden sich an die zehn Schiffe der riesigen Flotte zwischen ihr und ihren Verfolgern.

Den Offizieren Seiner Majestät war es unmöglich, auch nur den kleinsten Kanonenschuß abzufeuern, ohne ehrliche Handelsleute zu treffen, die sich anschickten, in französischen Gewässern zu ankern.

So waren sie gezwungen, auf die Bestrafung des kühnen Piraten zu verzichten, der sie an der Nase herumgeführt hatte.

An der veränderten Bewegung der See erkannten die im Zwischendeck eingeschlossenen Flüchtlinge, daß sie das offene Meer erreicht hatten. Endlose Stunden hindurch hatten sie auf die Geräusche gelauscht, hatten sie den knirschenden Kampf des Schiffes gegen den ungünstigen Wind verfolgt. Das Manöver vor dem Fort Louis hatte sie im dumpfen Gedröhn der Kanonen durcheinandergeworfen, und sie hatten ihre letzte Stunde nahe geglaubt. Dann folgte die langsame, schleppende Fahrt durch den Kanal, die jäh hereinbrechenden, unheimlichen Augenblicke der Stille, die lärmenden Kampf Vorbereitungen, das Gelaufe der nackten Füße über ihren Köpfen, das Warten. Stunden des Betens, dazwischen kurze Worte, um die Angst zu vertreiben oder die unruhig werdenden Kinder zu besänftigen ...

Und wie in der Arche >gab es kein Fenster, und sie sollten nicht wissen, was draußen geschah<.

Dann begann das Schiff in langen, regelmäßigen, ruhigen Bewegungen zu rollen. Und sie hatten den Druck der endlich ohne Zwang gerichteten, geblähten, gespannten Segel gespürt, und der befreiende Elan, der den Schiffsrumpf durchdrang, ließ die Planken erzittern, als sei er ein flinkfüßiges Vollblut, dem man die Zügel nachläßt.

Und Le Gall erschien auf der Schwelle, erschöpft, mit einem zugleich triumphierenden und verzweifelten Ausdruck in seinen blauen, keltischen Augen.

»Wir sind ihnen entkommen«, sagte er. »Wir sind auf dem Meer. Wir sind gerettet!«

Ein qualvoller Schmerz zerriß aller Herzen.

Adieu, La Rochelle, unsere Stadt! Adieu, unsere Heimat! Adieu, unser König! .

Sie fielen auf die Knie, die Augen voller Tränen.

»Die Küste ist noch sichtbar«, sagte der Rescator, während er sich Angélique näherte und sie hart durch die Schlitze seiner Maske fixierte. »Dreht Ihr Euch nicht um, einen letzten Blick auf diese Gestade zu werfen, die Ihr für immer verlaßt, Madame?«

Angélique schüttelte den Kopf, »Nein«, sagte sie.

»Ihr seid wenig gefühlvoll für eine Frau. Es muß schlimm sein, von Euch gehaßt zu werden. Ihr laßt also kein Bedauern dort drüben zurück, keine Erinnerung, kein teures Wesen?«

Ein totes Kind, dachte sie, ein kleines Grab am Waldrand von Nieul ... Das ist alles.

»Ich nehme alles mit, was mir teuer ist«, erklärte sie, Honorine an ihr Herz drückend. »Meinen einzigen Schatz.«