Und wie jedesmal, wenn sie sich der unmerklich bohrenden Neugier des Rescators unversehens bewußt wurde, hatte sie den Eindruck, als würde sie beobachtet, als bedrohe sie die seltsame Teilnahme, die er ihr entgegenbrachte.
Unermeßliche Müdigkeit sank auf ihre Schultern. Es war die Last der Stunden, die sie eben durchlebt hatte, es war die Last ihres ganzen Lebens in einem Augenblick, in dem das Schicksal eine Pforte hinter ihr schloß, die sich nicht mehr öffnen würde. Sie fühlte den Schmerz ihrer erstarrten Arme, mit denen sie - sie wußte nicht, wie lange - Honorine an sich gedrückt hatte.
»Ich bin müde«, sagte sie mit kaum hörbarer Stimme. »Oh, so müde. Ich möchte schlafen ...«
Angélique wußte nicht mehr, was zwischen jenem Augenblick, in dem sie diese Worte gesprochen hatte, und jenem anderen, in dem sie im purpurnen Licht des Sonnenuntergangs erwachte, geschehen war. Ihr Gesichtsfeld war erfüllt von einer rubinfarbenen Sonne, die sich wie eine riesige Laterne vom glanzlossilbernen Hintergrund des Meeres und des Himmels abhob.
Sie berührte den Horizont, wurde mit bestürzender Schnelligkeit von ihm verschlungen, ließ während eines kurzen Moments noch ein rosiges, die Abendröte überstrahlendes Leuchten zurück, das nach und nach verblaßte.
Um sich fühlte Angélique die Bewegung des Schiffes, jenes rhythmische, unaufhörliche Schwanken, das sie um einige Jahre ins Mittelmeer zurückversetzte. Damals, selbst während ihrer Gefangenschaft auf der Hermes, war es zuweilen geschehen, daß ein Gefühl von Unendlichkeit ihr Herz anschwellen ließ und ihre leidenschaftliche Seele mit Zufriedenheit erfüllte. Das waren die Erinnerungen, die sie an diese Reise, während derer sie tausend Tode erlitten hatte, mit einer Art von Schmerz und Entzücken denken ließen.
An diesem Abend würde sie das Meer wiederfinden. Durch das verglaste Fenster der Kajüte bot ihr die Dämmerung ihren kurz aufflammenden Brand, danach das feierliche Mysterium des dunkelnden Abends, des Vorspiels der Nacht.
Sie vernahm die Brandung der Wellen gegen den Schiffsrumpf und dazwischen das trockene Knattern der Segel und das Äolslied der Brise in den Tauen.
Sich aufrichtend, blieb sie auf dem Rand des orientalischen Diwans sitzen, auf den man sie gebettet hatte, stützte die Arme auf, der Kopf leer, gedankenlos, doch mit der geschärften Wahrnehmungsfähigkeit des Glücks, das sie überflutete. Sie war frei.
Honorine schlief an ihrer Seite, dem Schlummer hingegeben, eine pausbäckige Rose, deren Färbung der letzte schwindende Sonnenschimmer noch vertiefte.
Mit unendlicher Zärtlichkeit beugte sich Angélique über sie.
»Ich nehme dich mit, mein Schätzchen«, murmelte sie. »Fleisch meines Fleisches, Herz meines Herzens .«
Die übermenschliche Freude wurde fast schmerzhaft. Ein alter Traum wurde Wirklichkeit.
Siefuhr übers Meer, einem neuen Leben entgegen.
Ihre Lungen füllten sich mit salziger Luft. Ihre Augen verschleierten sich, ihr schwindelte in der Trunkenheit eines Gefühls, das keinen Namen kannte. Ein ekstatisches Lächeln umspielte ihre Lippen.
Dort, allein im dunkelnden Licht des endenden Tages, bot Angélique dem Ozean wie einem wiedergefundenen Geliebten ihr Gesicht, das erwartungsvolle, hingegebene Antlitz einer Liebenden .
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