Er hielt heftig hustend inne, denn der zum Kammerdiener aufgerückte Stallknecht hatte, um das Feuer zu beleben, ein riesiges Bündel feuchten Strohs in den Kamin geworfen.

»Sapperment, Herr Vetter«, rief der Marquis aus, nachdem er wieder zu Atem gekommen war, »ich verstehe Euer Bedürfnis, ein wenig aufzuatmen. Euer Holzkopf da verdiente eine tüchtige Tracht Prügel.«

Er nahm die Sache mit Humor, und Angélique fand ihn trotz seiner herablassenden Art sympathisch. Sein Geplauder hatte sie gefesselt. Es war, als sei das alte, erstarrte Schloß aufgewacht und habe seine schweren Portale nach einer andern, lebenerfüllten Welt geöffnet.

Philippe aber runzelte immer mehr die Stirn. Steif auf seinem Stuhl sitzend, die blonden Locken wohlgeordnet über den breiten Spitzenkragen fallen lassend, warf er von Ekel erfüllte Blicke auf Josselin und Gontran, die angesichts der Wirkung, die ihr Treiben hervorrief, ihr ungehöriges Benehmen noch betonten und mit dem Finger in der Nase zu bohren und sich den Kopf zu kratzen begannen. Ihr Gehabe brachte Angélique außer Fassung und verursachte ihr fast so etwas wie Übelkeit. Übrigens fühlte sie sich schon seit einiger Zeit nicht recht wohl; sie litt an Leibschmerzen, und Pulchérie hatte ihr verboten, rohe Möhren zu essen, was sie so gerne tat. Heute abend jedoch, nach all dem Umtrieb, den der ungewöhnliche Besuch mit sich brachte, hatte sie das Gefühl, richtig krank zu werden. Aber sie äußerte nichts und blieb ganz still auf ihrem Stuhl sitzen. Jedesmal, wenn sie ihren Vetter Philippe du Plessis anschaute, schnürte ihr etwas die Kehle zusammen, und sie wußte nicht, war es Abscheu oder Bewunderung. Nie hatte sie einen so schönen Jüngling gesehen.

Sein Haar, dessen seidiger Saum sich über die Stirn wölbte, war von einem leuchtenden Gold, neben dem ihre eigenen Locken braun wirkten. Seine Züge waren von vollendetem Ebenmaß. Das Gewand aus grauem Tuch, mit Spitzen und blauen Bändern verziert, paßte zu seinem weißen und rosigen Teint. Ohne den harten Blick, der nichts Feminines hatte, hätte man ihn ohne weiteres für ein Mädchen halten können.

Seinetwegen wurden der Abend und das Nacht-mahl für Angélique zu einer Marter. Jedes Versehen der Diener, jede Ungeschicklichkeit quittierte der Jüngling mit einem Augenzucken oder einem spöttischen Lächeln.

Jean-der-Küraß, der das Amt des Majordomus versah, legte die Serviette auf die Schulter, wenn er die Gerichte brachte. Der Marquis lachte schallend und erklärte, diese Art, die Serviette zu tragen, sei nur an der Tafel des Königs und der Fürsten von Geblüt üblich. Er fühle sich zwar geschmeichelt über die Ehre, die man ihm erweise, begnüge sich aber mit einer schlichteren Bedienung, nämlich mit der über den Unterarm geschlungenen Serviette. Der Fuhrknecht gab sich daraufhin alle erdenkliche Mühe, das fettige Tuch um seinen haarigen Arm zu schlingen, aber seine Ungeschicklichkeit und seine Seufzer steigerten nur die Heiterkeit des Marquis, die sich alsbald auf seinen Sohn übertrug.

»Das ist ein Mann, den ich lieber als Dragoner denn als Lakaien sehen möchte«, sagte der Marquis, indem er Jean-der-Küraß musterte. »Was meinst du dazu, mein Junge?«

Der verschüchterte Fuhrknecht antwortete nur mit einem Bärengebrummel, das der Zungenfertigkeit seiner Mutter keine Ehre antat.

Schließlich erschien zu allem Überfluß der Bursche, den man in den Pfarrhof um Wein geschickt hatte, und berichtete, der Pfarrer sei nach einem benachbarten Weiler gegangen, um Ratten auszutreiben, und die Magd habe sich geweigert, auch nur das kleinste Fäßchen abzugeben.

»Macht Euch nichts daraus, Frau Base«, erklärte sehr galant der Marquis du Plessis. »Wir werden eben Apfelmost trinken, und wenn es meinem Herrn Sohn nicht paßt, so soll er es bleiben lassen. Würdet Ihr mir hingegen einige Aufklärungen über das soeben Vernommene geben? Der Pfarrer soll Ratten austreiben gegangen sein? Was ist das für eine merkwürdige Geschichte?«

»Nichts Verwunderliches, Herr Vetter. Die Leute eines benachbarten Weilers beklagen sich seit einiger Zeit, von Ratten geplagt zu sein, die ihr Korn auffressen. Der Pfarrer ist vermutlich mit Weihwasser dorthin gegangen und spricht die üblichen Gebete, damit die bösen Geister weichen, die diese Tiere bewohnen, und fürderhin keinen Schaden mehr anrichten.«

Der Marquis schaute Armand de Sancé einigermaßen verblüfft an, dann lehnte er sich in seinen Stuhl zurück und lachte leise.

»Ich habe noch nie etwas so Lustiges gehört. Also besprengt man die Ratten mit Weihwasser, um sie unschädlich zu machen?«

»Wieso ist das lächerlich?« protestierte der Baron, der ungehalten zu werden begann. »Im vergangenen Jahr ist eines meiner Felder von Raupen heimgesucht worden. Ich habe sie austreiben lassen.«

»Und sie sind verschwunden?«

»Ja. Kaum zwei oder drei Tage danach.«

»Als sie auf dem Felde nichts mehr zu fressen fanden.«

Madame de Sancé, die sich von dem Prinzip leiten ließ, daß eine Frau bescheiden zu schweigen habe, konnte nicht umhin, sich einzumischen, um ihren Glauben zu verteidigen, den sie angegriffen fühlte.

»Ich sehe nicht ein, Herr Vetter, weshalb heilige Exerzitien auf bösartige Tiere keinen Einfluß haben sollten. Hat nicht der Herr selbst böse Geister in eine Schweineherde eingeschlossen, wie der Evangelist erzählt? Unser Pfarrer mißt dieser Art Gebete große Bedeutung bei.«

»Und wieviel bezahlt Ihr ihm pro Austreibung?«

»Er verlangt wenig und ist stets willig zu kommen, wenn man ihn ruft.«

Diesmal fing Angélique den Blick des Einverständnisses auf, den der Marquis du Plessis mit seinem Sohn wechselte: Diese armen Leutchen, schien er zu sagen, sind wirklich von einer beispiellosen Naivität.

»Ich muß unbedingt Monsieur Vincent von diesen ländlichen Gebräuchen berichten«, begann der Marquis von neuem. »Er wird sich krank ärgern, der arme Mann, er, der einen Orden gegründet hat mit dem Ziel, die Geistlichkeit auf dem Lande zu reformieren. Diese Missionare stehen unter dem Patronat des heiligen Lazarus. Man nennt sie Lazaristen. Sie gehen jeweils zu dreien auf das Land, um zu predigen und unseren Dorfpfarrern beizubringen, die Messe nicht mit dem Paternoster zu beginnen und nicht mit ihrer Magd zu schlafen. Das ist ein recht verwunderliches Unternehmen, aber Monsieur Vincent de Paul ist Verfechter der Reform der Kirche durch die Kirche.«

»Das ist ja nun ein Wort, das ich nicht leiden kann«, rief der alte Baron aus. »Reform, immer wieder Reform! Eure Worte klingen hugenottisch, Herr Neffe. Von da bis zum Verrat am König ist, wie ich fürchte, nur ein Schritt. Was Euern Monsieur Vincent betrifft, so hat seine Art etwas Ketzerisches, und Rom sollte sich vor ihm in acht nehmen.«

»Was nicht hindert, daß Seine Majestät König Ludwig XIII., als er sich zu sterben anschickte, ihn an die Spitze des Gewissensrats zu stellen beliebte.«

»Was ist denn das nun wieder?«

»Wie soll ich es Euch erklären? Es ist eine ungeheuerliche Sache. Das Gewissen des Königreichs! Monsieur Vincent de Paul ist das Gewissen des Königreichs. Er sucht die Königin fast täglich auf und wird von allen Fürsten empfangen. Er ist der denkbar schlichteste und heiterste Mensch. Seine Idee geht dahin, daß das Elend heilbar ist und daß die Großen dieser Welt ihm helfen müssen, es abzustellen.«

»Utopie«, warf Tante Jeanne bissig ein. »Das Elend ist, wie Ihr vorhin im Hinblick auf den Krieg sagtet, ein Übel, das Gott zur Strafe für die Erbsünde gewollt hat.«

»Monsieur Vincent würde Euch erwidern, mein liebes Fräulein, daß Ihr es seid, die für das uns umgebende Übel verantwortlich ist. Und er würde Euch ohne lange Worte mit Arzneien und Nahrungsmitteln zu den ärmsten Eurer Tagelöhner schicken und dazu bemerken, daß Ihr, falls Ihr sie nach seinem Ausspruch >zu ungeschliffen und irdisch< findet, die Medaille nur umzudrehen braucht, um das Gesicht des leidenden Christus zu erblicken. So hat es dieser Teufelsbursche fertiggebracht, fast alle hochgestellten Persönlichkeiten des Königreichs in seine mildtätigen Phalangen einzureihen. Wie Ihr mich hier seht«, fügte der Marquis mit saurer Miene hinzu, »bin ich, während ich mich in Paris aufhielt, zweimal die Woche ins Spital gegangen, um den Kranken die Suppe zu reichen.«

»Wann werdet Ihr endlich aufhören, mich zu verblüffen?« rief der alte Baron erregt aus. »Offenbar wissen die Edelleute Eurer Art nicht, was alles sie sich noch ausdenken sollen, um ihr Wappen zu entehren.«

Empört stand der Greis auf, und da die Mahlzeit beendet war, folgten alle seinem Beispiel. Angélique, die nichts hatte essen können, schlüpfte hinaus. Sie fröstelte auf unerklärliche Weise und wurde von Schauern geschüttelt. Alles, was sie da gehört hatte, kreiste wirr in ihrem Kopf: der König auf dem Stroh, das rebellierende Parlament, die großen Herren, die Suppe austeilten, eine Welt voller Leben und Reize. Angesichts all dieser Unruhe und Bewegtheit kam sie sich wie tot vor, wie in einem Keller eingeschlossen.

Plötzlich drängte sie sich in eine Nische des Ganges. Ihr Vetter Philippe schritt an ihr vorbei, ohne sie zu bemerken. Sie hörte ihn ins Obergeschoß hinaufsteigen und mit seinen Dienstboten reden, die beim Schein einiger Leuchter die Zimmer ihrer Herren richteten. Die Fistelstimme des Jünglings klang zornig.

»Es ist unerhört, daß niemand von euch daran gedacht hat, sich beim letzten Halt mit Kerzen zu versehen. Ihr hättet euch denken können, daß in diesen gottverlassenen Gegenden die sogenannten Edelleute nicht mehr taugen als ihre Bauernlümmel. Hat man wenigstens heißes Wasser für mein Bad bereitet?«

Der Mann antwortete etwas, das Angélique nicht verstand. Philippe sprach in resigniertem Ton weiter: »In Gottes Namen. Ich werde mich in einem Kübel waschen. Zum Glück hat mir mein Vater gesagt, daß es in Schloß Plessis zwei florentinische Badestuben gibt. Ich sehne mich danach. Ich habe das Gefühl, daß der Geruch dieser Sancé-Leute mir nie mehr aus der Nase gehen wird.«

»Diesmal soll er mir’s bezahlen«, dachte Angélique.

Sie sah ihn im Schein der auf der Konsole des Vorraums stehenden Laterne wieder herunterkommen. Als er ganz nahe war, trat sie aus dem Dunkel der Nische hervor.

»Wie könnt Ihr es wagen, zu den Lakaien so unverschämt über uns zu reden?« fragte sie mit klarer Stimme, die in den Gewölben widerhallte. »Habt Ihr denn gar kein Gefühl für Adelswürde? Das kommt natürlich daher, daß Ihr von einem Bastard des Königs abstammt. Wohingegen unser Blut rein ist.«

»Genauso rein wie Eure Haut schmutzig«, gab der junge Mann eisigen Tons zurück.

Mit einem unerwarteten Satz sprang Angélique ihm mit gezückten Krallen ins Gesicht. Doch der Bursche hatte eine bereits männliche Kraft, packte sie an den Handgelenken und stieß sie heftig gegen die Mauer. Dann ging er gelassen seines Weges.

Angélique war wie betäubt und fühlte ihr Herz wild schlagen. Sie verabscheute ihn mehr, als sie ertragen konnte, und ein ungekanntes, aus Scham und Verzweiflung gemischtes Gefühl preßte ihr die Kehle zusammen.

»Ich hasse ihn«, dachte sie. »Eines Tages werde ich mich rächen. Er wird sich beugen, mich um Vergebung bitten müssen.«

Doch im Augenblick war sie nichts als ein unglückliches kleines Mädchen im Dämmerlicht der Flure eines feuchten, alten Schlosses.

Eine Tür knarrte, und Angélique erkannte die massive Silhouette des alten Wilhelm, der mit zwei Eimern dampfenden Wassers für das Bad des jungen Herrn auf die Treppe zusteuerte. Als er sie bemerkte, blieb er stehen.

»Wer ist das?«

»Ich bin’s«, antwortete Angélique auf deutsch.

Wenn sie mit dem alten Soldaten allein war, redete sie immer in dieser Sprache, die er ihr beigebracht hatte.

»Was treibt Ihr da?« fragte Wilhelm ebenfalls auf deutsch. »Es ist kalt. Geht doch in den Saal und hört Euch die Geschichten Eures Onkels, des Marquis, an. Da habt Ihr Euern Spaß fürs ganze Jahr.«

»Ich verabscheue sie«, sagte Angélique düster. »Sie sind unverschämt und so anders als wir. Sie zerstören alles, was sie anrühren, und lassen uns dann allein und mit leeren Händen zurück, während sie wieder auf ihre schönen Schlösser voller herrlicher Dinge gehen.«

»Was ist denn, mein Kind?« fragte ruhig der alte Lützen. »Könnt Ihr Euch nicht über ein paar Spötteleien hinwegsetzen?«

Angéliques Mißbehagen verschärfte sich. Kalter Schweiß trat auf ihre Schläfen.

»Wilhelm, du, der du nie an einem Fürstenhof gewesen bist, sag mir: Was soll man tun, wenn man zu gleicher Zeit einem bösen und einem erbärmlichen Menschen begegnet?«

»Komische Frage für ein Kind! Da Ihr sie mir stellt, so will ich Euch sagen, daß man den bösen töten und den erbärmlichen laufenlassen soll.«