Es war einige Monate nach dem Verschwinden Josselins. Angélique war auf einem Spaziergang ihrem Vater begegnet, der auf einem Baumstumpf saß, während sein Pferd neben ihm graste.

»Geht es mit den Maultieren nicht, Vater?«

»Doch, doch. Das ist es nicht. Aber ich komme eben vom Verwalter Molines. Schau, Angélique, deine Tante Pulchérie hat uns, deiner Mutter und mir, klargemacht, daß es unmöglich ist, dich länger auf dem Schloß zu behalten. Wir müssen dich ins Kloster schicken. So habe ich mich zu einem recht demütigenden Schritt entschlossen, den ich um jeden Preis vermeiden wollte. Ich habe Molines aufgesucht und ihn gebeten, mir das Darlehen für meine Familie zu gewähren, das er mir angeboten hatte.«

Seine Stimme klang gedämpft und traurig, als sei etwas in ihm zerbrochen, als habe ihn etwas noch Schmerzlicheres betroffen als der Tod seines Vaters und das Verschwinden seines Sohns.

»Armer Papa!« murmelte Angélique.

»An sich ist da ja nichts Schlimmes dabei«, fuhr der Baron fort. »Was mich aber beunruhigt, ist, daß mir Molines’ Hintergedanken verborgen bleiben.

Er hat für sein neuerliches Darlehen merkwürdige Bedingungen gestellt.«

»Welche Bedingungen, Vater?«

Er schaute sie nachdenklich an und streichelte mit seiner schwieligen Hand über ihr wundervolles dunkelgoldenes Haar.

»Es ist seltsam, daß es mir leichter fällt, mich dir anzuvertrauen als deiner Mutter. Du bist ein arger Wildfang, aber du scheinst schon fähig zu sein, alles zu verstehen. Freilich habe ich geahnt, daß Molines bei dieser Mauleselgeschichte auf seinen Vorteil bedacht war, aber ich verstand nie recht, warum er sich dabei an mich und nicht an einen gewöhnlichen Roßhändler aus der Umgegend wandte. Offenbar ist es meine Stellung als Adliger, die ihn interessiert. Er hat mir heute gesagt, er rechne auf mich, um durch meine Adelsbeziehungen vom Generalintendanten der Finanzen die völlige Steuerbefreiung für ein Viertel unserer Maultierproduktion zu erreichen und außerdem das verbriefte Recht, dieses Viertel nach England oder Spanien zu exportieren, sobald der Krieg mit diesen Ländern beendigt ist.«

»Aber das ist doch ein großartiges Geschäft!« rief Angélique begeistert aus. »Auf der einen Seite Molines, bürgerlich und gerissen, auf der andern Ihr, adlig ...«

»Und nicht gerissen«, ergänzte der Vater lächelnd.

»Nein: unerfahren. Aber Ihr habt Beziehungen und Titel. Ihr werdet bestimmt Erfolg haben. Ihr sagtet neulich selbst, der Transport der Maultiere ins Ausland erscheine Euch unmöglich bei all diesen Steuern und Zöllen, die zu den Transportkosten hinzukommen. Und gegen dieses Viertel der Produktion wird der Oberintendant auch gewiß nichts einzuwenden haben! Was macht Ihr mit dem Rest?«

»Der Militärintendanz wird das Recht eingeräumt, sich dessen Erwerb zum Jahrespreis auf dem Markt von Poitiers vorzubehalten.«

»Alles ist bedacht worden. Dieser Molines ist ein Hauptkerl! Ihr solltet Monsieur du Plessis aufsuchen und vielleicht an den Herzog de La Trémoille schreiben. Aber ich hörte, all diese hohen Persönlichkeiten würden binnen kurzem ohnehin hierherkommen, um sich wieder mit ihrer Fronde zu beschäftigen.«

»Man spricht tatsächlich davon«, sagte der Baron spöttisch. »Aber beglückwünsche mich nicht zu früh. Ob die Fürsten kommen oder nicht - nichts ist ungewisser, als daß ich ihre Zusage erhalte. Und im übrigen habe ich dir das Verwunderlichste noch gar nicht gesagt.«

»Was denn?«

»Molines will, daß ich das alte Bleibergwerk wieder in Betrieb setze, das wir in der Nähe von Vauloup besitzen«, seufzte der Baron nachdenklich. »Ich frage mich zuweilen, ob dieser Mann bei Vernunft ist, und ich gestehe, daß ich seine Winkelzüge nicht durchschaue. Kurz, er hat mich gebeten, unverzüglich den König um Erneuerung des meinen Vorfahren gewährten Privilegs zu ersuchen, im Bergwerk gefördertes Blei und Silber zu Barren zu verarbeiten. Du kennst doch den verlassenen Stollen von Vauloup?« fragte Armand de Sancé, da seine Tochter geistesabwesend zu sein schien.

Angélique nickte zerstreut.

»Ich möchte nur wissen, was sich dieser Teufelsverwalter von den alten Kieselsteinen verspricht! Denn die Wiederinstandsetzung des Bergwerks soll unter meinem Namen erfolgen, während er sie bezahlt. In einem Geheimabkommen zwischen uns wird festgelegt, daß ihm zehn Jahre lang das Pachtrecht für diese Bleimine zusteht, wofür er meine Verpflichtungen als Grundeigentümer und die Förderung des Erzes übernimmt. Ich soll aber beim Oberintendanten den entsprechenden Steuererlaß für ein Drittel der künftigen Produktion erwirken sowie die entsprechenden Exportgarantien. All das erscheint mir ein wenig kompliziert«, schloß der Baron, indem er sich erhob.

Die Bewegung ließ in seiner Börse die Goldstücke klingen, die ihm Molines vorhin übergeben hatte, und dieses sympathische Geräusch heiterte seine Stimmung auf.

»Gott ernährt die Seinen«, rief er aus. »Wir wollen nicht zu weit in die Zukunft schauen.«

Er rief sein Pferd zurück und warf einen bemüht strengen Blick auf die nachdenkliche Angélique.

»Versuche zu vergessen, was ich dir da erzählt habe, und kümmere dich um deine Ausstattung. Denn diesmal ist es fest beschlossen, mein Kind. Du wirst ins Kloster gehen.«

Angélique richtete also ihre Sachen. Hortense und Madelon gingen gleichfalls. Raymond und Gontran sollten sie begleiten und sich, nachdem sie ihre Schwestern bei den Ursulinerinnen abgeliefert hatten, zu den Jesuitenpatres von Poitiers begeben, von deren erzieherischen Fähigkeiten Wunder berichtet wurden.

Beinahe hätte indessen wenige Tage vor der Abreise ein Ereignis Angéliques Schicksal in eine andere Bahn gelenkt.

Eines Septembermorgens kam Baron de Sancé sehr verstört von Schloß Plessis zurück.

»Angélique!« rief er, während er das Speisezimmer betrat, wo die versammelte Familie ihn erwartete, um sich zu Tisch zu setzen. »Angélique, bist du da?«

»Ja, Vater.«

Er warf einen kritischen Blick auf seine Tochter, die in diesen vergangenen Monaten noch gewachsen war und jetzt gepflegte Hände und Haare hatte. Alle Welt stimmte in der Feststellung überein, daß sie auf bestem Wege sei, vernünftig zu werden.

»Es wird gehen«, murmelte er.

Er wandte sich an seine Frau:

»Stellt Euch vor, die gesamten Plessis-Leute - Marquis, Marquise, Sohn, Pagen, Diener, Hunde - sind soeben auf ihrem Besitz gelandet. Sie haben einen illustren Gast bei sich, den Fürsten Condé mit seinem ganzen Hofstaat. Ich bin mitten hinein geplatzt und habe mich ziemlich überflüssig gefühlt. Aber mein Vetter war sehr liebenswürdig. Er hat sich nach unserer Familie erkundigt, und wißt Ihr, worum er mich gebeten hat? Ihm Angélique zu bringen, die eine der Damen der Marquise vertreten soll. Die Ankunft des Prinzen Condé bringt sie in Verlegenheit. Sie braucht anmutige kleine Kammerzofen zu ihrer Hilfe.«

»Und warum nicht mich?« rief Hortense empört aus.

»Weil er >anmutig< gesagt hat«, gab ihr Vater ohne Umschweife zurück.

»Aber der Marquis hat mich sehr geistreich gefunden.«

»Aber die Marquise will hübsche Mädchen um sich haben.«

»Oh, das ist ein starkes Stück!« schrie Hortense und stürzte sich giftig auf ihre Schwester.

Diese aber hatte die Bewegung vorausgesehen und wich geschickt aus. Mit klopfendem Herzen lief sie in das große Zimmer hinauf, das sie jetzt nur noch mit Madelon teilte. Durch das Fenster rief sie einer der Mägde zu, ihr einen Eimer Wasser aus dem Brunnen und einen Zuber heraufzubringen.

Sie wusch sich sorgfältig und bürstete lange ihr schönes Haar, das seidig glänzend über ihre Schultern fiel. Pulchérie kam herein und brachte ihr das schönste der Kleider, die man ihr für ihren Eintritt ins Kloster angefertigt hatte. Angélique bewunderte es, obwohl es von recht düsterer grauer Farbe war. Aber der Stoff war neu und eigens für diesen Zweck bei einem angesehenen Tuchhändler in Niort gekauft, und ein weißer Kragen hellte ihn auf. Es war ihr erstes langes Kleid, und sie zog es mit einem Schauer des Vergnügens an. Die Tante schlug gerührt die Hände zusammen.

»Meine kleine Angélique, du siehst aus wie eine junge Dame! Vielleicht sollten wir dein Haar hochnehmen?«

Doch Angélique weigerte sich. Ihr weiblicher Instinkt sagte ihr, daß sie die Wirkung ihres einzigen Schmucks nicht mindern durfte.

Sie bestieg ein hübsches, braunrotes Maultier, das man eigens für sie hatte satteln lassen, und schlug in Begleitung ihres Vaters den Weg nach Schloß Plessis ein.

Das Schloß war aus seinem Zauberschlaf erwacht. Nachdem der Baron und seine Tochter ihre Tiere beim Verwalter Molines eingestellt hatten, schritten sie die Hauptallee entlang. Musikklänge wehten ihnen entgegen. Rassige Windhunde und reizende Affenpinscher tollten auf den Rasenflächen umher. Herren mit gelockten Perücken und Damen in schillernden Kleidern ergingen sich in den Alleen. Manche starrten verwundert den Landjunker im dunklen wollenen Anzug und das junge Mädchen in der Pensionstracht an, die ihnen da begegneten.

»Komisch, aber hübsch«, sagte eine der Damen, während sie mit ihrem Fächer spielte.

Angélique fragte sich, ob sie es sei, um die es sich handelte. Weshalb nannte man sie komisch? Sie musterte die prächtigen Toiletten mit ihren lebhaften Farben und dem Spitzenbesatz genauer und begann ihr graues Kleid unpassend zu finden.

Der Baron teilte die Verlegenheit seiner Tochter nicht. Er dachte nur an die Unterredung, um die er den Marquis du Plessis bitten wollte.

Auf einer kleinen Estrade saßen Musikanten und entlockten ihren Instrumenten - Viellen, Lauten, Hoboen und Flöten - zarte und bezaubernde Töne. In einem großen, mit Spiegeln geschmückten Saal sah Angélique junge Leute beim Tanz. Sie fragte sich, ob wohl ihr Vetter Philippe unter ihnen sei.

Nachdem Baron de Sancé ins Innere der Salons gelangt war, nahm er seinen alten, mit einer dürftigen Feder besetzten Hut ab und verbeugte sich. Angélique begann zu leiden. Bei ihrer Armut schien ihr einzig Arroganz am Platze. Statt den Knicks zu vollführen, den Pulchérie sie dreimal hatte wiederholen lassen, blieb sie daher steif wie eine Drahtpuppe stehen und starrte vor sich hin. Die Gesichter rund um sie her ver-schwammen ein wenig, aber sie wußte, daß alle Welt bei ihrem Anblick gar zu gern gelacht hätte. Eine jähe, von unterdrücktem Kichern unterbrochene Stille war eingetreten, als der Diener verkündet hatte:

»Baron de Ridouët de Sancé de Monteloup.«

Auch das Gesicht der Marquise du Plessis lief hinter ihrem Fächer rosig an, und ihre Augen glänzten vor unterdrückter Erheiterung.

Schließlich kam der Marquis du Plessis allen zu Hilfe, indem er liebenswürdig vortrat.

»Mein lieber Herr Vetter«, rief er aus. »Ihr macht mich überglücklich, indem Ihr so rasch herbeieilt und eure reizende Tochter mitbringt. Angélique, Ihr seid noch hübscher als bei meinem letzten Besuch. Nicht wahr? Sieht sie nicht aus wie ein Engel?« fragte er, indem er sich an seine Frau wandte.

»Vollkommen«, stimmte diese zu, die sich wieder gefaßt hatte. »Mit einem andern Kleid wird sie himmlisch sein. Setzt Euch auf diesen Schemel, mein Kind, damit wir Euch richtig betrachten können.«

»Herr Vetter«, sagte Armand de Sancé, dessen rauhe Stimme in diesem kostbaren Salon bizarr klang, »ich würde gerne unverzüglich wichtige Angelegenheiten mit Euch besprechen.«

Der Marquis hob verwundert die Brauen.

»Wirklich? So redet.«

»Ich bedaure, aber diese Dinge lassen sich nur unter vier Augen behandeln.«

Monsieur du Plessis warf einen resignierten und zugleich verschmitzten Blick auf seine Umgebung.

»Gut! Gut, lieber Vetter Baron. Wir werden uns in mein Privatboudoir begeben. Meine Damen, entschuldigt uns. Bis gleich ...«

Angélique auf ihrem Schemel war jetzt der Mittelpunkt eines neugierigen Kreises. Die furchtbare Beklemmung, die sie erfaßt hatte, löste sich ein wenig. Nun konnte sie alle diese Gesichter unterscheiden, die sie umgaben. Die meisten waren ihr fremd. Doch neben der Marquise stand eine sehr schöne Frau, die sie wiedererkannte. »Madame de Richeville«, dachte sie. Sie hatte von ihr sagen hören, daß sie zarte Beziehungen zu dem Abbé von Nieul unterhalte.

Das goldbestickte Kleid der Gräfin und ihr diamantengeschmückter Brusteinsatz ließen sie nur zu deutlich empfinden, wie unansehnlich ihr eigenes graues Kleid war. All diese Damen funkelten von Kopf bis Fuß. Sie trugen seltsame Spielereien am Gürtel: kleine Spiegel, Schildpattkämme, Konfektdöschen und Uhren. Nie würde Angélique sich so kleiden können. Nie würde sie fähig sein, so hochmütig auf andere hinabzublicken, nie würde sie es fertigbringen, sich in so überheblichem Ton zu unterhalten.