»Ich wollte eben meine Tür abschließen. Aber wir unterhalten uns in der Finsternis, Maître Desgray, und ich glaube, Ihr ahnt gar nicht, wer ich bin.«

»Ich ahne es nicht, Madame, ich weiß es. Ich habe schon lange ausfindig gemacht, wer in diesem Hause wohnt, und da mir keine Pariser Schenke unbekannt ist, habe ich Euch auch in der >Roten Maske< gesehen. Ihr nennt Euch Madame Morens, und Ihr habt zwei Kinder, von denen das ältere Florimond heißt. Früher hießt Ihr Madame de Peyrac.«

»Man kann nichts vor Euch verheimlichen, Polizist. Aber wenn Ihr mich längst ausfindig gemacht habt, wie Ihr sagt, warum bedarf es da eines Zufalls, daß wir uns sprechen?«

»Ich war nicht ganz sicher, ob mein Besuch Euch erfreuen würde, Madame. Als wir uns das letztemal sahen, sind wir ziemlich uneinig auseinandergegangen.«

Angélique rief sich die nächtliche Jagd im Faubourg Saint-Germain ins Gedächtnis zurück; es kam ihr vor, als habe sie einen völlig trockenen Mund.

Mit ausdrucksloser Stimme fragte sie:

»Was wollt Ihr damit sagen?«

»Es schneite genau wie heute nacht, und unter dem Torbogen war es nicht minder dunkel als hier.«

Angélique stieß heimlich einen Seufzer der Erleichterung aus.

»Wir waren nicht uneinig, wir waren besiegt, das ist nicht dasselbe, Maître Desgray.«

»Nennt mich nicht mehr Maître, Madame, denn ich habe meine Advokatenzulassung verkauft, und man hat mir außerdem meinen akademischen Titel genommen. Indessen habe ich sie zu einem sehr günstigen Preise abgetreten und mir dafür die Stelle eines Polizeioffiziers erstanden, weswegen ich mich jetzt einer einträglicheren und nicht minder nützlichen Aufgabe widme: der Verfolgung der Übeltäter und Übelgesinnten in dieser Stadt. Ich bin also von den Höhen des Worts in die Niederungen des Schweigens hinuntergestiegen.«

»Ihr seid noch genauso wortgewandt wie früher, Maître Desgray.«

»Gelegentlich finde ich wieder Geschmack an gewissen oratorischen Perioden. Das ist wohl auch der Grund, warum ich speziell damit beauftragt wurde, mich mit den Poeten, den Pamphletisten, den Federfuchsern jeglicher Art zu befassen. So verfolge ich heute abend einen heimtückischen Burschen, einen gewissen Claude Le Petit, den man auch Schmutzpoet nennt. Dieses Individuum wird Euch zweifellos für Eure Dazwischenkunft segnen.«

»Weshalb das?«

»Weil Ihr uns kurz vor dem Ziel in die Quere kamt, während er weiterlief«

»Verzeiht, daß ich Euch aufhielt.«

»Mir persönlich ist es ein ausgesprochenes Vergnügen gewesen, obwohl es dem kleinen Salon, in dem Ihr mich empfangt, ein wenig an Bequemlichkeit mangelt.«

»Vergebt mir. Ihr müßt wiederkommen, Desgray.«

»Ich werde wiederkommen, Madame.«

Er beugte sich über den Hund, um ihn an die Leine zu nehmen. Das Schneegestöber war dichter geworden. Der Polizist schlug den Mantelkragen hoch, tat ein paar Schritte und blieb noch einmal stehen.

»Da fällt mir etwas ein«, sagte er. »Dieser Schmutzpoet hat zur Zeit des Prozesses Eures Gatten ein übles Lästergedicht verfaßt. Wartet mal .

Doch Madame de Peyrac - sollt’ man’s glauben? -läßt sich dadurch nicht die Stimmung rauben. Hoffend, daß noch lang’ in der Bastille er möge bleiben .«

»Oh, schweigt, ich flehe Euch an!« rief Angélique und hielt sich die Ohren zu. »Sprecht mir nie von diesen Dingen. Ich erinnere mich an nichts mehr. Ich will mich nicht mehr daran erinnern .«

»Die Vergangenheit ist also für Euch tot, Madame?«

»Ja, die Vergangenheit ist tot!«

»Das ist das Beste, was Ihr tun konntet. Ich werde nicht mehr davon reden. Auf Wiedersehen, Madame ... und gute Nacht!«

Angélique schob zitternd die Riegel vor. Sie war völlig durchgefroren, da sie, nur mit ihrem Schlafrock bekleidet, so lange in der Kälte gestanden hatte. Zu dem Kältegefühl gesellte sich die durch die Wiederbegeg-nung mit Desgray und seine Äußerungen ausgelöste Erregung.

Sie kehrte in ihr Zimmer zurück und schloß die Tür. Der Mann saß, die Arme um die mageren Knie verschränkt, auf dem Kaminrand. Er glich einem Heimchen.

Die junge Frau lehnte sich an die Tür und sagte mit ausdrucksloser Stimme:

»Seid Ihr der Schmutzpoet?«

Er lächelte ihr zu. »Schmutz? Gewiß. Poet? Vielleicht.«

»Seid Ihr es, der diese ... diese Gemeinheiten über Mademoiselle de La Vallière geschrieben hat? Könnt Ihr denn die Leute nicht in Ruhe sich lieben lassen? Der König und jenes Mädchen haben sich alle Mühe gegeben, ihre Beziehungen geheimzuhalten, und Ihr habt nichts Besseres zu tun, als auf widerliche Weise daraus einen Skandal zu machen. Das Verhalten des Königs ist gewiß tadelnswert, aber er ist ein leidenschaftlicher junger Mann, den man gezwungen hat, eine Prinzessin ohne Geist und körperliche Reize zu ehelichen.«

Er lachte spöttisch.

»Wie du ihn verteidigst, mein Täubchen! Hat dir dieser Freibeuter das Herz umgarnt?«

»Nein, aber es empört mich, wenn ich sehe, wie man ein achtbares, edles Gefühl in den Schmutz zieht.«

»Es gibt nichts Achtbares oder Edles auf der Welt.«

Angélique durchquerte den Raum und lehnte sich an die andere Seite des Kamins. Sie fühlte sich schlaff und überreizt. Der Schmutzpoet sah zu ihr auf. »Wußtest du nicht, wer ich bin?« fragte er.

»Niemand hat es mir gesagt, und wie hätte ich es erraten können? Eure Feder ist ruchlos und leichtfertig; und Ihr .«

»Und ich?«

»Ihr, Ihr schient mir gut und fröhlich.«

»Ich bin gut zu den armen, kleinen Mädchen, die in Heukähnen weinen, und böse zu den Fürsten.«

Angélique seufzte. Sie wies mit dem Kinn nach der Tür.

»Ihr müßt jetzt gehen.«

»Gehen?« rief er aus. »Gehen, wo der Hund Sorbonne auf mich wartet, um sich in meine Hosen zu verbeißen, und der Polizist des Teufels seine Handschellen bereithält?«

»Sie sind fort.«

»Fort? O nein! Sie warten im Dunkeln.«

»Ich schwöre Euch, sie ahnen nicht, daß Ihr hier seid.«

»Kann man das wissen? Kennst du denn diese beiden Gesellen nicht, mein Herzchen, du, die Calembredaines Bande angehört hat?«

Sie bedeutete ihm energisch zu schweigen.

»Siehst du? Du spürst selbst, daß sie auf der Lauer liegen, draußen, hinter den Schneeschleiern. Und du willst, daß ich gehe!«

»Ja, geht!«

»Du jagst mich fort?«

»Ich jage Euch fort.«

»Dir habe ich doch nichts Böses getan?«

»Doch.«

Er starrte sie lange an, dann streckte er ihr die Hand entgegen.

»Dann müssen wir uns versöhnen. Komm.«

Und da sie sich nicht rührte: »Wir werden beide vom Hund verfolgt. Was haben wir davon, wenn wir einander grollen?«

Er hielt ihr noch immer die Hand hin.

»Deine Augen sind hart und kalt wie ein Smaragd geworden. Sie haben den Reflex des kleinen Flusses unterm Laubdach verloren, der voller Sonnenschein ist und zu sagen scheint: Liebe mich, küsse mich .«

»Ist es der Fluß, der all das sagt?«

»Deine Augen sind’s, wenn ich nicht dein Feind bin. Komm!«

Plötzlich gab sie ihren Widerstand auf und setzte sich neben ihn, und er legte seinen Arm um ihre Schultern.

»Du zitterst. Du hast deine selbstsichere Haltung verloren. Irgend etwas hat dir Angst eingeflößt. Ist es der Hund? Oder der Polizist?«

»Der Hund ... der Polizist, und auch Ihr, Herr Schmutzpoet.«

»O finstere Dreieinigkeit von Paris!«

»Ihr, der Ihr über alles auf dem laufenden seid

- wißt Ihr, was ich tat, bevor ich mit Calembredaine zusammen war?«

Er schnitt eine verdrießliche Grimasse.

»Nein. Nachdem ich dich wieder ausfindig gemacht hatte, beobachtete ich, wie du deinen Bratkoch am Gängelband führtest. Aber vor Calembredaine, nein, da hab’ ich die Spur verloren.«

»Gottlob.«

»Was mich ärgert, ist, daß ich nahezu sicher bin, daß der Teufelspolizist deine Vergangenheit kennt.«

»Ihr wetteifert im Einziehen von Erkundigungen?«

»Wir tauschen sie häufig untereinander.«

»Im Grunde seid ihr euch sehr ähnlich.«

»Ein wenig. Aber es besteht gleichwohl ein großer Unterschied zwischen ihm und mir.«

»Nämlich?«

»Daß ich ihn nicht umbringen kann, während er mich in den Tod zu schicken vermag. Hättest du mir heute abend nicht die Tür aufgemacht, säße ich jetzt dank seiner >Fürsorge< im Châtelet. Ich wäre mit gütiger Unterstützung von Meister Aubins hölzernem Pferd bereits um drei Daumenlängen gewachsen und würde morgen bei Tagesanbruch am Ende eines Strickes baumeln.«

»Und warum sagt Ihr, daß Ihr Eurerseits ihn nicht töten könnt?«

»Ich kann nicht töten. Wenn ich Blut sehe, wird mir übel.«

Sie mußte über sein angeekeltes Mienenspiel lachen. Die nervöse Hand des Poeten legte sich auf ihre Schulter.

»Wenn du lachst, gleichst du einem Täubchen.«

Er beugte sich über ihr Gesicht. Sie sah zwischen den Lippen seines zärtlich und spöttisch lächelnden Mundes die von der Zange des Großen Matthieu verursachte Lücke und spürte das Bedürfnis, zu weinen und ihn zu lieben.

»Gut so«, flüsterte er, »du hast keine Angst mehr. Alles rückt fern ... Es gibt nichts mehr auf der Welt als den Schnee, der draußen fällt, und uns, die wir hier in der Wärme geborgen sind ... Du bist nackt unter diesem Kleidungsstück? Ja, ich spüre es. Bleib ganz ruhig, Liebste ... Sag nichts mehr .«

Seine Hand schob sacht den Mantel auseinander, folgte der Schulterlinie, glitt tiefer. Er lachte, weil er sie erschauern fühlte.

»Sieh da, die Frühlingsknospen! Dabei sind wir mitten im Winter!«

Er küßte ihre Lippen. Dann streckte er sich vor dem Feuer aus und zog sie sanft an sich.

Er kam wieder. Er erschien des Abends und scharrte vor der Schwelle, wie sie es verabredet hatten. Sie öffnete ihm geräuschlos, und in der Wärme der kleinen Stube, neben dem abwechselnd gesprächigen, spöttischen und verliebten Gefährten, vergaß sie die Mühen des Alltags. Er berichtete ihr alle Skandale des Hofs und der Stadt. Das machte ihr Spaß, denn sie kannte die meisten Persönlichkeiten, von denen er sprach.

»Ich bin reich durch die Angst der Leute, die mich fürchten«, sagte er.

Aber er hing nicht am Geld. Vergeblich redete sie ihm zu, sich anständiger zu kleiden.

Nach einem guten Mittagessen, das er annahm, ohne auch nur auf den Gedanken zu kommen, nach seiner Börse zu greifen, ließ er sich zuweilen eine ganze Woche nicht sehen, und wenn er abgezehrt, hungrig und lächelnd wieder erschien, fragte sie ihn vergeblich aus. Warum ließ er sich nicht bei Gelegenheit von den verschiedenen Gaunerbanden verköstigen, da er doch in so gutem Einvernehmen mit ihnen stand? Nie hatte man ihn in der Tour de Nesle zu sehen bekommen, wo er als eine der hervorragenden Persönlichkeiten des Pont-Neuf stets willkommen gewesen wäre. Und mit all den Geheimnissen, die er kannte, hätte er gar viele Leute erpressen können.

»Es ist amüsanter, sie weinen und mit den Zähnen knirschen zu sehen«, sagte er.

Nur von den Frauen, die er liebte, nahm er Hilfe an. Wenn eine kleine Blumenverkäuferin, ein Freudenmädchen, eine Magd sich seinen Liebkosungen hingegeben hatte, räumte er ihr das Recht ein, ihn ein bißchen zu verwöhnen. Sie sagten zu ihm: »Iß, mein Kleiner«, und schauten gerührt zu, wie er futterte.

Dann flog er davon. Gleich der Blumenverkäuferin, dem Freudenmädchen oder der Magd hatte Angélique zuweilen das Verlangen, ihn festzuhalten. Wenn sie im warmen Bett neben diesem langen, mageren Körper lag, dessen Umarmungen so feurig und beschwingt waren, legte sie ihren Arm um seinen Hals und zog ihn an sich. Aber schon schlug er die Augen auf und bemerkte, daß es hinter den Butzenscheiben zu tagen begann. Hastig sprang er aus dem Bett und kleidete sich an.

Tatsächlich hielt es ihn nirgends. Er war von einem in seiner Epoche recht ungewöhnlichen Drang besessen, den man zu allen Zeiten teuer bezahlt: dem Drang nach Freiheit.

Und er hatte nicht immer unrecht, so unstet zu sein. Gar oft tauchte, wenn Angélique eben mit dem Anziehen fertig war, ein dunkler Schatten vor den Gitterstäben des offenstehenden Fensters auf.

»Ihr stattet Eure Besuche zu früher Stunde ab, Herr Polizist.«

»Ich komme nicht zu Besuch, Madame. Ich suche einen Pamphletisten.«

»Und Ihr glaubt, ihn in dieser Gegend zu finden?« fragte Angélique ungezwungen, während sie ihren Umhang über die Schultern warf, um sich nach der Schenke zur »Roten Maske« zu begeben.

»Wer weiß?« erwiderte er.

Sie trat aus dem Haus, und Desgray begleitete sie durch die verschneiten Straßen. Der Hund Sorbonne sprang vor ihnen her, und Angélique fühlte sich an die Zeit erinnert, da sie auf gleiche Weise durch Paris gewandert waren. Eines Tages hatte Desgray sie in die Saint-Nicolas-Badestuben mitgenommen. Ein andermal war ihnen der Bandit Calembredaine in den Weg getreten.