Vor kurzer Zeit war sie aus der »Roten Maske« zurückgekehrt, wo sie noch die turbulente Ankunft eines Schwarms junger Edelleute hatte verzeichnen können, deren mit erlesenen Genueser Spitzen besetzte Kleidung wohlgefüllte Börsen vermuten ließ. Sie waren zudem maskiert gewesen, was als weiterer Beweis für ihren hohen Rang gelten mochte. Gewisse Persönlichkeiten des Hofs zogen es vor, ihr Inkognito zu wahren, um sich in den Schenken ungezwungener vom Joch der Etikette erholen zu können.

Wie häufig in letzter Zeit, hatte die junge Frau es Meister Bourgeaud, David und ihren Gehilfen überlassen, sie zu empfangen. Jetzt, da der Ruf des Hauses gefestigt war, trat sie seltener in Erscheinung und widmete ihre Zeit hauptsächlich den Einkäufen und der Geschäftsführung des Unternehmens.

Man befand sich gegen Ende des Jahres 1664. Ganz allmählich hatte sich eine Entwicklung vollzogen, die vor drei Jahren kein Mensch in der Rue de la Vallée-de-Misère für möglich gehalten hätte. Wenn sie Maître Bourgeaud auch noch nicht das Haus abgekauft hatte, wie sie es insgeheim beabsichtigte, war Angélique sozusagen doch die eigentliche Inhaberin des Unternehmens geworden. Der Bratkoch blieb Besitzer, aber sie übernahm alle Unkosten und hatte entsprechend ihren Gewinnanteil erhöht. Genau besehen, war es jetzt Meister Bourgeaud, der einen Prozentsatz des Überschusses bekam und sich nun glücklich schätzte, jeglicher Sorge ledig zu sein, in seiner eigenen Gastwirtschaft ein fettes Leben führen und sich außerdem für seine alten Tage noch einen guten Batzen zurücklegen zu können. Angélique durfte so viel Geld anhäufen, wie sie wollte. Meister Bourgeaud kam es einzig darauf an, unter ihren Fittichen zu bleiben, von ihrer wachen, tatkräftigen Zuneigung umhegt zu sein. Zuweilen, wenn er von ihr sprach, sagte er »mein Kind«, und das mit so viel Überzeugung, daß viele Gäste der »Roten Maske« an ihre Verwandtschaft glaubten.

Zur Melancholie neigend und stets von seinem nahe bevorstehenden Ende überzeugt, erzählte er jedem, der es hören wollte, er habe, ohne seinen eigenen Neffen zu vergessen, in seinem Testament Angélique reichlich bedacht. Und es schien höchst unwahrscheinlich, daß David gegen die von seinem Onkel getroffenen Verfügungen zugunsten einer Frau, der er sich noch immer völlig unterordnete, Einwände erheben würde. Er wurde im übrigen allmählich ein recht hübscher Bursche, war sich dessen durchaus bewußt und gab im Vertrauen auf die bei der Polackin gewonnenen Erfahrungen die Hoffnung nicht auf, diejenige zu seiner Geliebten zu machen, die er anbetete.

Angélique entgingen Davids Fortschritte auf dem Gebiet der Liebeskunde nicht. Sie ermaß sie an ihren eigenen Reaktionen, denn wenn die Unbeholfenheit des Jünglings sie früher zum Spott gereizt hatte, verursachten ihr jetzt gewisse Blicke ein leicht beunruhigendes Vergnügen. Sie faßte ihn weiterhin hart an wie einen jüngeren Bruder, aber in ihre spitzen Bemerkungen mischte sich, wie sie zuweilen feststellte, eine leise Spur von Koketterie. Immerhin brauchte sie David ja auch. David war einer der Pfeiler, auf denen der Erfolg ihrer zukünftigen Unternehmungen ruhte. Der andere war Audiger, und auch den mußte man sich warmhalten, diesen sehr viel ernsthafter entflammten Liebhaber, dessen betonte Zurückhaltung auf ein immer mehr sich vertiefendes Gefühl schließen ließ. Bei ihm fürchtete sie ein wenig die Hartnäckigkeit des gereiften Mannes, der über das Alter der Liebeleien hinaus ist, ohne dasjenige der Leidenschaften gekannt zu haben. Dieser gesetzte Bürger, Bedienter ohne jeden niedrigen Zug, ehrlich, beherzt und vernünftig wie andere blond oder braun sind, würde sich nicht foppen lassen.

Angélique schüttelte den Sand von dem Blatt, auf dem sie ihre Abrechnung gemacht hatte. Sie lächelte nachsichtig.

»Da lebe ich nun zwischen meinen drei Köchen, die zärtliche Gefühle für mich hegen, jeder auf seine Art. Ob das der Beruf mit sich bringt? Die Hitze des Herdfeuers läßt ihr Herz schmelzen wie das Fett der Truthähne.«

Javotte kam herein, um ihr beim Auskleiden be-hilflich zu sein.

»Was ist denn das für ein Geräusch an der Haustür?« forschte Angélique.

»Ich weiß nicht. Es klingt, als nage eine Ratte am Holz.«

Die junge Frau trat in den Vorplatz hinaus und stellte fest, daß das Geräusch nicht vom unteren Teil der Tür, sondern von dem kleinen Guckloch auf halber Höhe kam. Sie schob das Brettchen zurück und stieß einen leisen Schrei aus, denn sofort hatte sich eine kleine, schwarze Hand durch das Gitter der Öffnung gezwängt und sich verzweifelt nach ihr ausgestreckt.

»Es ist Piccolo!« riefJavotte aus.

Angélique öffnete die Tür, und der Affe stürzte sich in ihre Arme.

»Was hat denn das zu bedeuten? Er ist noch nie allein hierhergekommen. Man könnte meinen . ja, tatsächlich, man könnte meinen, er habe sich von seiner Kette losgerissen.« Beunruhigt trug sie das Tierchen in ihr Zimmer und setzte es behutsam auf den Tisch.

»O lala!« rief die Magd lachend aus. »Der ist ja in einem netten Zustand! Sein Fell ist ganz verklebt und rot. Er muß in Wein gefallen sein.«

Angélique, die Piccolo streichelte, roch an ihren geröteten Fingern und fühlte sich alsbald schreckensbleich werden.

»Das ist kein Wein«, sagte sie, »es ist Blut!«

»Ist er verletzt?«

»Ich will mal sehen.«

Sie streifte ihm Jäckchen und Höschen ab, die beide blutdurchtränkt waren. Indessen zeigte das Tier keinerlei Spuren einer Verletzung, obwohl es von krampfartigen Zuckungen geschüttelt wurde.

»Was hast du, Piccolo?« fragte Angélique leise. »Was ist denn geschehen, mein kleines Kerlchen? Erklär mir’s doch!«

Der Affe sah sie mit seinen traurigen, weitaufge-rissenen Augen an. Plötzlich machte er einen Satz, erwischte ein Kästchen mit Siegellack und begann, höchst würdevoll auf und ab zu schreiten, indem er das Kästchen vor sich hertrug.

»O dieser Schelm!« riefJavotte aus und lachte schallend. »Erst jagt er uns einen ordentlichen Schrecken ein, und nun ahmt er Linot mit seinem Oblatenkorb nach. Ist das nicht zum Verwundern, Madame? Genau wie Linot, wenn er auf seine anmutige Art seinen Korb anbietet.«

Aber nachdem das Tierchen eine Runde um den Tisch gemacht hatte, schien es abermals von Unruhe erfaßt zu werden. Es schaute sich um und wich zurück. Sein Mund zog sich zu einem zugleich kläglichen und ängstlichen Ausdruck zusammen. Es hob das Gesicht nach rechts, dann nach links. Es war, als wende es sich flehend an irgendeine unsichtbare Person. Schließlich schien es sich zu wehren, zu kämpfen. Es ließ das Kästchen los, preßte beide Hände gegen seinen Bauch und fiel mit einem schrillen Schrei auf den Rücken.

»Was hat er denn nur? Was hat er nur?« stammelte Javotte bestürzt. »Ist er krank? Ist er verrückt geworden?«

Doch Angélique, die das Treiben des Affen aufmerksam beobachtet hatte, ging raschen Schrittes zum Kleiderrechen, nahm ihren Umhang ab und ergriff ihre Maske.

»Ich glaube, Linot ist etwas zugestoßen«, sagte sie mit tonloser Stimme. »Ich muß hinübergehen.«

»Ich begleite Euch, Madame.«

»Wenn du willst. Du kannst die Laterne tragen. Bring erst den Affen zu Barbe hinauf, damit sie ihn säubert, wärmt und ihm Milch zu trinken gibt.«

Trotz der beruhigenden Worte, die Javotte ihr unterwegs zuflüsterte, zweifelte Angélique keinen Augenblick, daß Piccolo einer fürchterlichen Szene beigewohnt hatte. Aber die Wirklichkeit übertraf ihre schlimmsten Ahnungen. Als sie auf den Quai des Tanneurs einbog, wäre sie fast von einem verstört dreinblickenden jungen Burschen umgerannt worden. Es war Flipot.

Sie packte ihn bei den Schultern und schüttelte ihn, um ihn zu klarer Besinnung zu bringen.

»Ich wollte dich holen, Marquise der Engel«, stammelte der Junge. »Sie haben ... sie haben Linot umgebracht!«

»Wer sie?«

»Sie ... Jene Männer, die Gäste.«

»Weshalb? Was ist geschehen?«

Der arme Küchenjunge schluckte und berichtete dann überstürzt, als ob er eine auswendig gelernte Lektion aufsage:

»Linot war auf der Straße mit seinem Korb. Er sang: >Oblaten! Oblaten! Wer kauft Oblaten .. .?< Er sang wie jeden Abend. Einer der Gäste, die bei uns waren, einer von den maskierten Edelleuten in Spitzenkragen, sagte: Welch hübsche Stimme! Ich verspüre Lust auf Oblaten. Man bringe den Verkäufer her.< Linot kam, und der Edelmann sagte: >Beim heiligen Dionysius, dieser Junge ist ja noch verführerischer als seine Stimme!< Er nahm Linot auf die Knie und küßte ihn ab. Andere kamen dazu und wollten ihn auch küssen ... Sie waren alle blau wie die Märzveilchen ... Schließlich packten sie Linot und wollten ihm die Hose ausziehen . Er ließ seinen Korb fallen und fing an zu schreien und ihnen Fußtritte zu versetzen. Der Edelmann, der ihn zuerst hatte haben wollen, zog seinen Degen und bohrte ihn ihm in den Leib. Linot sank zusammen .«

»Ist Meister Bourgeaud denn nicht eingeschritten?«

»Doch, aber sie haben ihn entmannt.«

»Wie? Was sagst du? Wen haben sie .?«

»Meister Bourgeaud. Als er Linot schreien hörte, ist er aus der Küche gekommen. Er sagte: >Messeigneurs! Nicht doch! Messeigneurs!< Aber sie sind über ihn hergefallen. Sie lachten und verprügelten ihn und riefen: >Alter Säufer! Dickes Faß!< Wider meinen Willen hab’ ich schließlich lachen müssen. Und dann hat einer gesagt: >Ich erkenne ihn, er ist der ehemalige Wirt des »Kecken Hahns« ...< Ein anderer sagte: >Für einen Hahn bist du nicht sonderlich keck, ich werde einen Kapaun aus dir machen.< Er nahm ein großes Fleischmesser, sie alle fielen von neuem über ihn her und haben ihm . was abgeschnitten.«

Der Junge machte eine Bewegung, die keinen Zweifel über die Art der Verstümmelung zuließ, deren Opfer der arme Bratkoch geworden war.

»David haben sie eins mit dem Degen über den Kopf gegeben, als er sie aufhalten wollte, und wir andern haben uns schleunigst aus dem Staube gemacht.«

Die Rue de la Vallée-de-Misère bot beinahe den üblichen Anblick. Sie war, wie immer in dieser Karnevalszeit, sehr belebt, und aus den von zahlreichen Gästen besetzten Bratstuben erscholl fröhlicher Gesang und Gläserklirren. An ihrem Ende jedoch hatte sich vor der »Roten Maske« eine ungewöhnliche Anhäufung von weißen Gestalten mit hohen Mützen zusammengefunden. Die benachbarten Bratköche und ihre Küchenjungen standen, mit Spicknadeln und Bratenwendern bewaffnet, aufgeregt gestikulierend vor der Schenke.

»Wir wissen nicht, was wir tun sollen!« rief einer von ihnen Angélique zu. »Diese Teufel haben die Tür mit Bänken verrammelt. Und sie haben eine Pistole .«

»Man muß die Polizei holen.«

»David ist schon hingelaufen, aber .«

Der Wirt vom »Gerupften Kapaun«, dem Nachbarlokal der »Roten Maske«, fuhr mit gedämpfter Stimme fort:

». er wurde in der Rue de la Triperie von Lakaien aufgehalten. Sie erzählten ihm, die Gäste, die sich im Augenblick in der >Roten Maske< befänden, seien sehr hochmögende Edelleute, Persönlichkeiten aus der nächsten Umgebung des Königs. Die Polizei werde ein komisches Gesicht machen, wenn sie sich in diese Geschichte hineingezogen sähe. David ist trotzdem zum Châtelet gelaufen, aber die Lakaien hatten bereits die Wachen verständigt, und er bekam zur Antwort, daß er gefälligst selbst sehen solle, wie er mit seinen Gästen fertig werde.«

Aus der Schenke zur »Roten Maske« drang fürchterlicher Lärm: viehisches Gelächter, johlender Gesang und ein so wildes Geschrei, daß sich den biederen Bratköchen die Haare unter ihren Mützen sträubten.

Da auch vor den Fenstern Tische und Bänke aufgetürmt worden waren, konnte man nicht erkennen, was im Innern vorging, aber das Klirren zerschmetterten Geschirrs war zu hören und von Zeit zu Zeit der trockene Knall einer Pistole. Offenbar nahmen sich die Herren die schönen Karaffen aus kostbarem Glas zum Ziel, mit denen Angélique ihre Tische und den Kaminsims geschmückt hatte.

Angélique entdeckte David. Er war ebenso bleich wie seine Schürze und trug eine Binde um die Stirn, durch die Blut sickerte.

Stammelnd vervollständigte er den Bericht Flipots über die grausigen Saturnalien: Die Edelleute hatten sich von Anfang an sehr herausfordernd benommen.

Sie waren sichtlich schon bei ihrer Ankunft betrunken gewesen.

Zuerst hatten sie eine Schüssel mit fast kochend heißer Suppe über den Kopf eines der Küchenjungen gestülpt. Dann hatte man die größte Mühe gehabt, sie aus der Küche zu vertreiben, wo sie sich Suzannes hatten bemächtigen wollen, die wahrhaftig eine wenig verlockende Beute darstellte. Schließlich war die Geschichte mit Linot passiert, dessen reizendes Gesicht üble Gelüste in ihnen geweckt hatte .