»Komm«, sagte Angélique und packte den Jüngling beim Arm. »Wir müssen nachschauen. Ich gehe durch den Hof.«
Zwanzig Hände suchten sie zurückzuhalten.
»Bist du denn verrückt? Sie werden dich aufspießen! Das sind doch Wölfe ...!«
»Vielleicht kommen wir noch zurecht, um Linot und Meister Bourgeaud zu retten.«
»Warte. Wir gehen hinein, wenn sie zu schnarchen anfangen.«
»Bis dahin werden sie alles zerschlagen und in Brand gesteckt haben!«
Sie riß sich los, trat mit David in den Hof und von dort in die Küche. David hatte, bevor er mit den übrigen Dienstboten geflüchtet war, die in die Gaststube führende Tür sorgsam verriegelt. Angélique stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. So waren wenigstens die hier untergebrachten beträchtlichen Vorräte nicht der Zerstörungswut der Elenden zum Opfer gefallen.
Mit Hilfe des jungen Mannes schob sie einen Tisch an die Wand, kletterte hinauf und spähte durch das in halber Höhe angebrachte Fenster in die verwüstete Gaststube, deren Fußboden zerbrochenes Geschirr und beschmutzte Tischtücher bedeckten. Die Schinken und Hasen waren von den Haken gerissen und mit kräftigen Fußstößen durch den Raum getrieben worden. Die obszönen Worte ihrer Lieder, ihre Flüche, ihre Lästereien waren jetzt deutlich zu verstehen.
Die meisten von ihnen hockten um einen Tisch am Kamin. Ihre Haltung und die immer schläfriger klingenden Stimmen verrieten, daß sie bald einnicken würden. Der Anblick der lallend klaffenden Münder unter den schwarzen Masken hatte etwas Unheimliches. Ihre prächtigen Gewänder waren von Wein und Soße und vielleicht auch von Blut befleckt.
Angélique bemühte sich, die Körper Linots und des Bratkochs zu entdecken, aber der hintere Teil der Stube lag im Halbdunkel, da die Leuchter umgeworfen worden waren.
»Wer hat sich zuerst an Linot vergriffen?« fragte sie leise.
»Der kleine Mann dort an der Ecke des Tischs, der mit den vielen rosafarbenen Bändern am grünen Rock. Der hat den Anstoß gegeben und die andern ermuntert.«
Im selben Augenblick richtete sich der Bezeich-nete mühsam auf, hob sein Glas und rief mit Fistelstimme:
»Ihr Herren, ich trinke auf das Wohl Asträas und Asmodis, der Hüter der Freundschaft!«
»Oh, diese Stimme!« rief Angélique und zuckte unwillkürlich zurück. Sie hätte sie unter Tausenden erkannt. Es war die Stimme, die sie zuweilen noch immer in ihren schlimmsten Alpträumen hörte: »Madame, Ihr werdet sterben .!«
So war er es also - immer er. Hatte ihn denn die Hölle auserkoren, in Angéliques Leben den Dämon des Bösen zu verkörpern?
»Der ist es auch, nicht wahr, der Linot den ersten Degenstich versetzt hat?«
»Ja, und danach der Große dort hinten in der roten Kniehose.«
Auch der brauchte seine Maske nicht abzunehmen, damit sie ihn wiedererkannte. Der Bruder des Königs! Der Chevalier de Lorraine! Und nun wußte sie, daß sie jede dieser maskierten Gestalten mit ihrem Namen benennen konnte!
Plötzlich begann einer der Trunkenbolde, die Stühle und Schemel ins Feuer zu werfen. Ein anderer ergriff eine Flasche und warf sie durch den Raum. Sie zerbarst im Feuer. Es war Branntwein. Eine mächtige Flamme schoß in die Höhe und erfaßte alsbald die Möbel. Ein Höllenfeuer prasselte im Kamin, und glühende Holzteile fielen auf den Boden.
Angélique sprang vom Tisch herunter. »Sie werden das Haus in Brand setzen. Man muß ihnen Einhalt gebieten!«
Aber der Gehilfe hielt sie fest. »Ihr dürft nicht hineingehen. Sie werden Euch umbringen!«
Sie rangen eine Weile verbissen und stumm, und da der Zorn und die Angst vor dem Feuer ihre Kraft verzehnfachten, gelang es ihr, sich loszureißen und David zurückzustoßen. Überdies schien der gute Junge in der Berührung mit diesem so ersehnten Körper seine ganze Energie zu verlieren.
Um nicht erkannt zu werden, setzte Angélique ihre Maske auf, dann schob sie entschlossen die Riegel zurück und öffnete geräuschvoll die Küchentür. Das plötzliche Auftauchen dieser in einen schwarzen Umhang gehüllten und so seltsam maskierten Frau rief unter den Zechern einige Verblüffung hervor.
»Oh, die rote Maske!«
»Ihr Herren«, rief Angélique mit bebender Stimme, »habt Ihr den Verstand verloren? Fürchtet Ihr den Zorn des Königs nicht, wenn die Kunde von Euren Verbrechen zu ihm dringt .?«
An dem betretenen Schweigen erkannte sie, daß sie das einzige Wort ausgesprochen hatte, das in die umnebelten Köpfe der Trunkenbolde zu dringen und dort einen Funken Klarsicht zu erzeugen vermochte: der König!
Sie nutzte ihren Vorteil und wagte sich beherzt weiter vor. Ihr Ziel war, bis zur Feuerstätte zu gelangen und die brennenden Möbel herauszuholen, um die Glut zu mindern und damit der Gefahr eines Kaminbrandes zu begegnen.
Doch da erblickte sie unter dem Tisch den verstümmelten Körper Meister Bourgeauds. Neben ihm lag mit aufgerissenem Leib und schneeweißem Engelsgesicht der Knabe Linot. Ihrer beider Blut vermischte sich mit den Weinlachen, die sich überall gebildet hatten.
Das Grausige dieses Anblicks lähmte sie für eine Sekunde, und wie ein Dompteur, der, von panischer Angst ergriffen, einen Moment seine Raubtiere aus den Augen läßt, verlor sie die Gewalt über die Meute. Das genügte, sie aufs neue zu entfesseln.
»Eine Frau! Eine Frau!«
»Das ist’s, was wir brauchen!«
Eine brutale Hand fuhr auf ihren Nacken nieder. Sie erhielt einen heftigen Schlag gegen die Schläfe. Es wurde ihr schwarz vor Augen. Sie wußte nicht mehr, wo sie war .
Irgendwo stieß eine weibliche Stimme einen langen, gellenden Schrei aus.
Sie merkte, daß sie es war, die da schrie. Ausgestreckt lag sie auf dem Tisch, und die schwarzen Masken beugten sich in glucksendem Gelächter über sie. Eiserne Fäuste hielten ihre Hand- und Fußgelenke fest. Ihre Röcke wurden ungestüm hochgestreift.
»Wer ist der erste? Wer macht sich an das Frauenzimmer?«
Sie schrie, wie man in Alpträumen schreit, in einem Paroxysmus von Entsetzen und Verzweiflung.
Ein Körper fiel schwer auf sie nieder. Ein vor Lachen zuckender Mund preßte sich auf ihre Lippen.
Dann trat jäh eine so tiefe Stille ein, daß Angélique glaubte, sie habe abermals das Bewußtsein verloren. Doch dem war nicht so. Die entfesselten Männer waren wie durch ein Wunder verstummt und stierten auf etwas am Boden, das Angélique nicht sah.
Der, der einen Augenblick zuvor auf den Tisch geklettert war und sie hatte vergewaltigen wollen, war hastig zur Seite gewichen. Angéliques Arme und Beine waren wieder frei. Sie richtete sich auf und schob ihre langen Röcke hinunter. Sie begriff nicht, welcher Zauberstab die Rasenden versteinert hatte.
Langsam ließ sie sich auf den Boden gleiten, und da erblickte sie den Hund Sorbonne, der den kleinen Mann in der grünen Kniehose zu Fall gebracht hatte und mit seinen Fangzähnen an der Gurgel hielt. Die Dogge war durch die Küchentür hereingekommen und hatte rasch wie der Blitz zugepackt.
Einer der Wüstlinge stammelte: »Ruft Euren Hund zurück . Wo . Wo ist die Pistole?«
»Rührt Euch nicht von der Stelle!« fuhr sie ihn an. »Wenn sich ein einziger von Euch rührt, befehle ich diesem Tier, den Bruder des Königs zu erwürgen!«
Ihre Beine zitterten wie die eines überrittenen Pferdes, aber ihre Stimme war klar.
»Ihr Herren, rührt Euch nicht«, wiederholte sie, »sonst werdet Ihr alle dem König gegenüber die Verantwortung für diesen Tod tragen.«
Sodann beugte sie sich ruhig über Sorbonne. Die Dogge hielt ihr Opfer fest, wie Desgray es ihr beigebracht hatte. Ein einziges Wort, und die stählernen Kiefer würden dieses schwammige Fleisch, diese Knochen zermalmen. Der Kehle des Monsieur d’Orléans entwich ein ersticktes Röcheln. Sein Gesicht hatte sich violett verfärbt.
»Warte«, sagte Angélique leise auf deutsch.
Sorbonne wedelte leicht mit dem Schwanz, um zu zeigen, daß er verstand. Rings um sie her verharrten die Urheber der Orgie regungslos in der Haltung, in der sie das Erscheinen des Hundes überrascht hatte. Sie waren alle viel zu betrunken, um zu begreifen, was vorging. Sie sahen nur, daß Monsieur, der Bruder des Königs, in Gefahr war, und das genügte, sie in tödlichen Schrecken zu versetzen.
Ohne sie aus den Augen zu lassen, öffnete Angélique eine der Tischschubladen, nahm ein Messer und näherte sich dem Mann im roten Rock, der zurückweichen wollte.
»Rührt Euch nicht!« sagte sie in drohendem Ton. »Ich will Euch nicht töten. Ich will nur wissen, wie ein Mörder in Spitzen aussieht.«
Und mit einer raschen Bewegung durchschnitt sie das Band, das die Maske des Chevaliers de Lorraine festhielt. Nachdem sie in das bestialische Gesicht geblickt hatte, das sie seit jener unvergeßlichen Nacht im Louvre nur zu gut kannte, tat sie bei den andern das gleiche.
Sie befanden sich im letzten Stadium der Trunkenheit und waren zu keinem Widerstand fähig. Und sie erkannte sie alle, alle: Brienne, den Marquis d’Olone, den schönen de Guiche, dessen Bruder Louvigny, und als sie einen entdeckte, der eine spöttische Grimasse schnitt und murmelte: »Schwarze Maske gegen rote Maske«, war es Péguillin de Lauzun.
Sie gewahrte auch Saint-Thierry und Frontenac, und ein bitteres Haßgefühl überkam sie, als sie in einem auf dem Boden schnarchenden Edelmann den Marquis de Vardes erkannte.
Ach, die hübschen jungen Leute des Königs! Einstmals hatte sie ihr schillerndes Gefieder bewundert, aber die Wirtin der »Roten Maske« sah nur das Bild ihrer verworfenen Seelen.
Nur drei unter ihnen waren ihr unbekannt. Der letzte indessen weckte eine undeutliche Erinnerung in ihr, die sie nicht präzisieren konnte.
Es war ein hochgewachsener, breitschultriger Bursche mit einer prächtigen, goldblonden Perücke. Nicht ganz so betrunken wie die andern, lehnte er an einem Pfeiler der Gaststube und tat, als poliere er sich die Nägel. Als Angélique auf ihn zutrat, wartete er nicht ab, bis sie das Band seiner Maske durchschnitt, sondern löste es mit einer anmutigen und lässigen Geste selbst. Seine hellblauen Augen hatten einen eisigen, geringschätzigen Ausdruck. Er machte sie unsicher. Die nervöse Gespanntheit, die sie aufrecht hielt, verlor sich. Bleierne Müdigkeit überkam sie, und der Schweiß rann ihr von den Schläfen, denn die Hitze im Raum war unerträglich geworden.
Sie kehrte zu Sorbonne zurück und faßte die Dogge beim Halsband, um sie zu veranlassen, ihr Opfer freizugeben. Sie hatte gehofft, Desgray werde auftauchen, aber sie blieb allein und verlassen zwischen diesen gefährlichen Phantomen. Das einzige Wesen, das ihr wirklich erschien, war Sorbonne.
»Steht auf, Monseigneur«, sagte sie mit müder Stimme. »Und nun geht. Ihr habt genug Unheil angerichtet.«
Schwankend machten sich die Höflinge davon und schleppten ihre beiden bewegungsunfähigen Genossen, den Marquis de Vardes und den Bruder des Königs, mit sich. Ihre Masken preßten sie, so gut es gehen wollte, mit den Händen vor die Gesichter, denn auf der Straße mußten sie auch noch mit den Degen die Bratspieße der Köche abwehren, die sie mit zornigen und empörten Rufen verfolgten.
Sorbonne beschnupperte das Blut und knurrte mit hochgezogenen Lefzen. Angélique drückte den Körper des kleinen Oblatenverkäufers an sich und streichelte seine reine und kalte Stirn. »Linot! Linot! Mein süßer, kleiner Junge ... mein armes, kleines Unglückswürmchen .«
Von draußen kommendes Geschrei riß sie aus ihrer Verzweiflung.
»Feuer! Feuer!«
Der Kaminbrand war ausgebrochen und hatte den Dachstuhl erfaßt. Trümmer prasselten auf die Feuerstätte, und dicker Rauch quoll erstickend in die Gaststube.
Mit Linot auf dem Arm rannte sie aus dem Raum. Die Straße war taghell erleuchtet. Gäste und Köche machten einander entsetzt auf den Flammenkranz aufmerksam, der das Dach des alten Hauses krön-te. Funkengarben regneten auf die benachbarten Dächer.
Man lief zur nahen Seine, um in aller Eile eine Eimerkette zu organisieren. Aber man mußte das Wasser in den beiden Nachbarhäusern hochtragen, denn die Treppe der »Roten Maske« stürzte ein.
Zusammen mit David hatte Angélique noch einmal in die Gaststube vordringen wollen, um den Leichnam Meister Bourgeauds zu holen, aber durch den Rauch waren sie zum Rückzug gezwungen worden. Doch konnten sie über den Hof die Küche erreichen und alles in Sicherheit bringen, was sie vorfanden.
Unterdessen erschienen die Kapuziner, von der Menge mit Beifall begrüßt. Das Volk hatte eine Vorliebe für diese Mönche, die ihre Ordensregel verpflichtete, bei Feuersbrünsten Hilfe zu leisten. Sie brachten Leitern und eiserne Haken mit, dazu große Spritzen aus Blei, die den Zweck hatten, in weite Entfernung kräftige Wasserstrahlen zu werfen.
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