Er hatte die deutsche Grenze gerade überschritten, als sein Name erschien, ohne daß man sonderlich Notiz davon nahm. Am Tage zuvor war nämlich de Vardes bloßgestellt worden, und zwar unter Umständen, die den König in beträchtliche Erregung versetzt hatten. Denn der Schmutzpoet beschuldigte diesen »mondänen Bösewicht« rundheraus, der Verfasser jenes spanischen Briefs zu sein, der zwei Jahre zuvor in die Gemächer der Königin eingeschmuggelt worden war, in der eindeutigen Absicht, sie schonend über die intimen Beziehungen ihres Gatten zu Mademoiselle de La Vallière aufzuklären. Die Anschuldigung riß von neuem eine schmerzende Wunde im Herzen des Monarchen auf, denn er hatte die Schuldigen nie fassen können und sich in dieser Angelegenheit des öfteren ratsuchend an de Vardes gewandt.

Während er den Hauptmann der Schweizergarde verhörte, Madame de Soissons, dessen Mätresse und Komplicin, vor sich kommen ließ, während seine Schwägerin Henriette von England, die gleichfalls in die Geschichte mit dem spanischen Brief verwickelt war, sich ihm zu Füßen warf, während de Guiche und der kleine Monsieur sich insgeheim erbittert mit dem Chevalier de Lorraine stritten, bot die Verbrecherliste der Schenke zur »Roten Maske« Tag für Tag der Menge ein neues Opfer. Louvigny und Saint-Thierry, die im voraus resignierten und bereits ihre Vorkehrungen getroffen hatten, erfuhren eines schönen Morgens, daß Paris die genaue Zahl ihrer Mätressen und deren amouröse Absonderlichkeiten genauestens kannte. Diese Einzelheiten würzten den üblichen Refrain:

»Und der letzte gehört dem, der euch allen bekannt:

Wer ist’s, der den Oblatenverkäufer gen Himmel gesandt?«

Die Bestürzung, in die der König durch die Enthüllungen über de Vardes versetzt worden war, gereichte jenen Herrn zum Vorteil: sie wurden lediglich gebeten, ihre Ämter abzulegen und sich auf ihre Besitzungen zu begeben. Ein Sturm der Erregung fegte durch Paris.

»Wer ist heute dran? Wer ist heute dran?« brüllten allmorgendlich die Pasquillenverkäufer, sobald sie keinen Polizeispitzel in der Nähe wußten. Man riß sich gegenseitig die Blätter aus den Händen. Von der Straße zu den Fenstern hinauf rief man einander »den Namen« des Tages zu.

Leute aus besseren Kreisen nahmen die Gewohnheit an, einander mit den geheimnisvoll getuschelten Worten zu begrüßen:

»Aber wer hat denn nun den kleinen Oblatenverkäufer ermordet .?« Und man prustete vor Lachen.

Dann verbreitete sich ein Gerücht, und das Gelächter erstarrte. Im Louvre löste eine Atmosphäre der Panik und der tiefen Bestürzung die muntere Stimmung derjenigen ab, die im Vertrauen auf ihr gutes Gewissen vergnügt das Gemetzel verfolgten. Mehrmals sah man die Königin-Mutter sich persönlich ins Palais Royal begeben, um mit ihrem zweiten Sohn Zwiesprache zu halten. In der Umgebung des Palastes, den der kleine Monsieur bewohnte, lungerten ganze Scharen feindseliger, stummer Tagediebe herum. Noch wußte niemand etwas Bestimmtes, aber man flüsterte sich zu, der Bruder des Königs habe an der Orgie in der »Roten Maske« teilgenommen und er sei es gewesen, der den kleinen Oblatenverkäufer ermordet habe.

Durch Desgray erfuhr Angélique die ersten Reaktionen des Hofs. Gleich an dem der Mordnacht folgenden Tage, als der auf dem Wege zur Bastille befindliche Brienne alle Mühe hatte, an seinen Bestimmungsort zu gelangen, klopfte der Polizist an das kleine Haus in der Rue des Francs-Bourgeois, in das Angélique sich zurückgezogen hatte.

Mit verschlossener Miene hörte sie den Bericht an, den er über die Äußerungen und Verfügungen des Königs erstattete.

»Er bildet sich ein, mit Briennes Bestrafung sei alles wieder ins Lot gebracht«, sagte sie erbittert, »aber das ist erst der Anfang. Zuerst sind die minder Schuldigen an der Reihe. Allmählich wird es immer höher steigen, bis zum Tage des großen Skandals, an dem Linots Blut die Stufen des Throns besudeln wird.«

Sie rang erregt ihre blassen, eisigen Hände. »Ich habe ihn eben zum Friedhof der Unschuldigen Kindlein geleitet. Alle Marktweiber ließen ihre Stände im Stich und folgten diesem armen, kleinen Wesen, das auf dieser Erde nichts anderes besaß als sein Leben. Und dieses einzige Gut mußten ihm nun lasterhafte Edelleute nehmen. Bei seiner Bestattung hat er dafür das schönste Geleit gehabt.«

»Jene Damen von der Markthalle geleiteten in diesem Augenblick Monsieur de Brienne.«

»Sie sollen ihn hängen, sie sollen seine Kutsche in Brand stecken, sie sollen das Palais Royal in Brand stecken. Sie sollen alle Schlösser in der Umgebung in Brand stecken: Saint-Germain, Versailles ...«

»Brandstifterin! Wohin wollt Ihr dann tanzen gehen, wenn Ihr wieder eine große Dame geworden seid?«

Sie sah ihn eindringlich an und schüttelte den Kopf. »Nie, nie wieder werde ich eine große Dame sein. Ich habe alles versucht und danach alles aufs neue verloren. Sie sind die Stärkeren. Habt Ihr die Namen, um die ich Euch gebeten habe?«

»Hier«, sagte Desgray und zog eine Pergamentrolle aus seinem Mantel. »Das Resultat völlig privater Nachforschungen, das nur ich ganz allein kenne: Es haben an besagtem Oktoberabend des Jahres 1664 die Schenke zur >Roten Maske< betreten: Monsieur d’Orléans, der Chevalier de Lorraine, der Herr Herzog von .«

»Oh, keine Titel, bitte!« murmelte Angélique.

»Ich kann nun mal nicht anders«, sagte Desgray lachend. »Ihr wißt ja, ich bin ein respektvoller Beamter des Regimes. Sagen wir also: die Herren de Brienne, de Vardes, du Plessis-Bellière, de Louvigny, de Saint-Thierry, de Frontenac, de Cavois, de Guiche, de La Vallière, d’Olone, de Tormes.«

»De La Vallière? Etwa der Bruder der Favoritin?«

»Eben der.«

»Das ist zu schön«, flüsterte sie mit rachelüstern leuchtenden Augen. »Aber ... wartet, das sind doch vierzehn. Ich hatte deren dreizehn gezählt.«

»Zu Beginn waren es vierzehn, denn da hat sich noch der Marquis de Tormes bei ihnen befunden. Diesem bejahrten Herrn macht es Vergnügen, gelegentlich an den Ausschweifungen der Jugend teilzunehmen. Doch als er merkte, was Monsieur mit dem kleinen Jungen plante, zog er sich mit den Worten zurück: >Gute Nacht, Ihr Herren, ich möchte Euch nicht auf so abwegigen Pfaden begleiten. Ich gehe lieber meinen gewohnten Weg und werde ganz brav bei der Marquise de Castelnau schlafen.< Alle Welt weiß, daß diese üppige Dame seine Mätresse ist.«

»Eine hübsche Geschichte, die dazu dienen wird, ihm seine Feigheit heimzuzahlen!«

Desgray betrachtete eine Weile Angéliques Gesicht und mußte lächeln.

»Die Boshaftigkeit steht Euch gut. Als ich Euch kennenlernte, hattet Ihr etwas Rührendes - das, was die Meute anzieht.«

»Und als ich Euch kennenlernte, hattet Ihr etwas Umgängliches, Fröhliches, Aufrichtiges. Jetzt könnte ich Euch manchmal hassen.«

Sie funkelte ihn mit ihren grünen Augen an und stieß zwischen den Zähnen hervor: »Polizist des Teufels!«

Er lachte belustigt.

»Madame, wenn man Euch so reden hört, könnte man meinen, Ihr hättet Umgang mit der Klasse der Rotwelschen gepflogen.«

Angélique zuckte die Schultern und trat zum Kamin, wo sie mit der Zange ein Holzscheit ergriff, um ihre Erregung zu verbergen.

»Ihr seid in Sorge um Euren kleinen Schmutzpoeten, nicht wahr?« fuhr Desgray im nasalen, gedehnten Tonfall des Vorstadtparisers fort. »Ich möchte Euch schonend darauf vorbereiten: diesmal entgeht er dem Galgen nicht.«

Die junge Frau versagte es sich zu antworten, sich umzuwenden und zu schreien: »Niemals kommt er an den Galgen! Den Poeten des Pont-Neuf hängt man nicht. Er wird gleich einem mageren Vogel davonfliegen und sich auf den Türmen von Notre-Dame niederlassen.«

Ihre Nerven waren bis zum Äußersten gespannt. Sie stocherte im Feuer und beugte sich über die Flamme. Warum ging Desgray nicht: Im Grunde war es ihr freilich lieb, daß er da war. Aus alter Gewohnheit vermutlich.

»Welchen Namen habt Ihr da genannt?« rief sie plötzlich. »Du Plessis-Bellière? Der Marquis?«

»Seid Ihr jetzt für Titel zu haben? Nun, es handelt sich tatsächlich um den Marquis du Plessis-Bellière, Feldmarschall des Königs ... Ihr wißt doch, der Sieger von Norwegen.«

»Philippe!« murmelte Angélique.

Wie war es nur möglich, daß sie ihn nicht erkannt hatte, als er seine Maske abgenommen und genau den gleichen kalten, verächtlichen Blick auf sie gerichtet hatte wie einst auf die halbwüchsige Kusine im grauen Kleid? Philippe du Plessis-Bellière! Das Schloß Plessis tauchte vor ihr auf wie eine weiße Seerose auf ihrem Teich.

»Wie seltsam das ist, Desgray! Dieser junge Mann ist ein Verwandter, ein Vetter von mir, der ein paar Meilen von unserm Schloß entfernt wohnte. Wir haben zusammen gespielt.«

»Und jetzt, da der kleine Vetter in der Schenke mit Euch spielte, wollt Ihr ihn schonen?«

»Vielleicht. Schließlich waren es ihrer dreizehn. Mit dem Marquis de Tormes ist die Rechnung beglichen.«

»Ist es nicht unvorsichtig von Euch, meine Liebe, dem Polizisten des Teufels alle Eure Geheimnisse zu erzählen?«

»Deswegen bekommt Ihr noch lange nicht heraus, wer die Pamphlete des Schmutzpoeten druckt, wer sie in Paris verbreitet und wie sie in den Louvre gelangen. Und im übrigen werdet Ihr mich nicht verraten!«

»Nein, Madame, Euch werde ich nicht verraten, aber ich werde Euch auch nicht täuschen. Diesmal entgeht der Schmutzpoet dem Galgen nicht!«

»Das werden wir sehen!«

»Ja, das werden wir leider sehen«, wiederholte er. »Lebt wohl, Madame.«

Nachdem er gegangen war, hatte sie alle Mühe, die Schauer zu bekämpfen, die sie überkamen. Der Herbstwind pfiff durch die Rue des Francs-Bourgeois, und der Sturm riß Angéliques Herz mit sich fort. Noch nie hatte sie einen solchen inneren Aufruhr erlebt. Beklemmung, Angst, Schmerz waren ihr vertraut, aber diesmal hatte sie eine stechende, tränenlose Verzweiflung übermannt, für die es keine Beruhigung, keinen Trost gab.

Audiger war verstörten Gesichts herbeigeeilt. Er hatte sie in die Arme genommen, und wie erloschen hatte sie den Kopf an seine kräftige Schulter gelehnt.

»Mein armer Liebling, das ist eine wahre Tragödie, aber Ihr dürft nicht mutlos werden. Fort mit dieser verzweifelten Miene! Ihr macht mir Angst!«

»Es ist eine Katastrophe, eine furchtbare Katastrophe! Wie soll ich jetzt, da die >Rote Maske< nicht mehr ist, zu Geld kommen? Die Zünfte gewähren mir keinen Schutz, im Gegenteil. Mein Vertrag mit Meister Bourgeaud ist nichtig geworden. Meine Ersparnisse werden bald erschöpft sein. Ich hatte erst kürzlich beträchtliche Summen für die Ausbesserung der Gaststube und für Wein-, Branntwein- und Likörvorräte ausgegeben. Sicher wird David von der Feuerversicherung etwas ersetzt bekommen, aber man weiß ja, wie knauserig diese Leute sind. Und in jedem Fall kann ich den armen Jungen, der sein ganzes Erbe verlor, nicht bitten, mir das wenige Geld zu geben, das er eventuell aus ihnen herauspreßt. Alles, was ich so mühsam aufgebaut habe, ist zusammengestürzt ... Was soll aus mir werden?«

Audiger schmiegte seine Wange an die weichen Haare der jungen Frau.

»Habt keine Angst, Liebste. Solange ich da bin, wird es Euch und Euren Kindern an nichts fehlen. Ich bin nicht reich, aber ich besitze genügend Geld, um Euch zu helfen. Und sobald mein Geschäft läuft, werden wir gemeinsam arbeiten, wie wir es verabredet haben.«

Sie riß sich aus seiner Umarmung los.

»Aber so habe ich es doch nicht gemeint«, rief sie aus. »Es ist nicht meine Absicht, als Magd bei Euch zu arbeiten ...«

»Nicht als Magd, Angélique.«

»Magd oder Ehefrau, das kommt auf dasselbe heraus. Ich wollte meinen Anteil zu diesem Geschäft beisteuern, gleichberechtigt sein .«

»Da also drückt Euch der Schuh, Angélique. Ich möchte fast meinen, Gott hat Euch für Euren Hochmut strafen wollen. Warum redet Ihr immer von der Gleichberechtigung der Frau? Das ist Ketzerei, mein Kleines. Wenn Ihr Euch mit dem Platz begnügtet, den Gott den Menschen Eures Geschlechts zugewiesen hat, würdet Ihr ohne Frage glücklicher sein. Die Frau ist dazu geschaffen, in ihrem Heim zu leben, unter dem Schutz ihres Gatten, den sie umsorgt, und mit den Kindern, die ihrer Verbindung entsprossen sind.«

»Welch liebliches Gemälde!« spöttelte Angélique. »Stellt Euch vor, ein so behütetes Dasein hat mich nie gelockt. Ich habe mich aus ganz persönlicher Neigung in dieses Getümmel gestürzt, mit meinen beiden Knirpsen auf dem Arm. So, und nun geht, Audiger! Ihr kommt mir mit einem Male so albern vor, daß mir richtig übel wird.«

»Angélique!«

»Geht, ich bitte Euch!«

Sie konnte ihn nicht mehr ertragen. Wie sie auch den Anblick der flennenden Barbe, des stumpfsinnigen David, der verstörten Javotte, ja selbst die Gegenwart der Kinder nicht mehr ertragen konnte, die instinktiv erfaßt hatten, daß ihr Universum bedroht war, und sich deshalb lärmender und launischer denn je aufführten. Sie gingen ihr alle auf die Nerven. Warum mußten sie sich so an sie klammern? Sie hatte das Steuer verloren, und der Sturm riß sie in seinen Wirbel, in dem die weißen Blätter der giftigen Pamphlete des Schmutzpoeten wie große Vögel flatterten.