»Jenes weiße Pulver war auf einem Gestell in einer Bronzeschüssel. Ich erkannte es an seinem Knoblauchgeruch. Prudent wollte es kosten. Ich hinderte ihn daran, indem ich sagte, es sei Gift.«
»Was hast du noch bemerkt?«
»Neben der Arsenikschüssel lag ein in grobes Papier gewickeltes Päckchen, das mit roten Siegeln versehen war.«
»Stand etwas drauf?«
»Ja: >Für Monsieur de Sainte-Croix<.«
»Gut. Und weiter?«
»Prudent warf eine Retorte um, die zerbrach. Von dem Geräusch muß der Besitzer des Hauses aufgewacht sein. Wir liefen davon, aber als wir in den Hausflur kamen, hörten wir ihn die Treppe herabsteigen. Er rief: >Nanette - oder einen ähnlichen Vornamen -, Ihr habt vergessen, die Katzen einzuschließen, und dann hat er gesagt: >Seid Ihr es, Sainte-Croix? Wollt Ihr die Arznei abholen?<«
»Ausgezeichnet! Ausgezeichnet!«
»Danach .«
»Das danach interessiert mich nicht. Ich habe, was ich brauche .«
Sie sah die dunkle Straße vor sich, in der die Silhouette des Hundes Sorbonne aufgetaucht war. Sie überblickte ihren tragischen Lebensweg. Die Vergangenheit wollte nicht sterben. Sie erstand aufs neue, düster und schmutzig, und löschte mit einem Schlage diese vier Jahre geduldigen und ehrlichen Mühens aus. Angéliques Kehle war wie zugeschnürt. Schließlich brachte sie mühsam hervor:
»Desgray ... seit wann wißt Ihr .?«
Er warf ihr einen spöttischen Blick zu.
»Daß du die Marquise der Engel bist? Nun, seit jener Nacht. Glaubst du, es ist meine Art, ein Mädchen laufenzulassen, das ich geschnappt habe, und ihr noch dazu ihr Messer zurückzugeben?«
Er hatte sie also erkannt! Er wußte über alle Etappen ihres Abstiegs Bescheid. Sie verging vor Schamgefühl. Überstürzt sagte sie: »Ich muß Euch das erklären. Calembredaine war ein Bauernsohn aus meiner Heimat ... ein Kindheitsgefährte. Wir haben denselben Dialekt gesprochen.«
»Ich verlange nicht, daß du mir deinen Lebenslauf erzählst«, knurrte er streng.
Aber sie klammerte sich an ihn und fuhr fast schreien fort: »Doch ... ich muß Euch das sagen ... Ihr müßt verstehen. Er war mein Kindheitsgefährte. Er war Knecht im Schloß. Dann ist er verschwunden. Er stöberte mich auf, als ich nach Paris kam . Er wollte mich von jeher haben, versteht Ihr . Und alle hatten mich im Stich gelassen ... Auch Ihr hattet mich im Stich gelassen ... damals im Schnee. Da nahm er mich zu sich, unterwarf mich seinem Willen . Es stimmt, daß ich mit ihm gegangen bin, aber ich habe die Verbrechen, die Ihr mir zur Last legt, nicht verübt. Desgray, ich war es nicht, der den Büttel Martin getötet hat, ich schwöre es Euch ... Ich habe nur ein einziges Mal getötet. Ja, es ist wahr, ich habe den Großen Coesre getötet. Aber nur, um mein Leben zu retten, um mein Kind vor einem schrecklichen Schicksal zu bewahren .«
Desgray sah sie amüsiert und verwundert an. »Du hast den Großen Coesre umgebracht? Rolin-le Trapu, vor dem jedermann sich fürchtete?«
»Ja.«
Er lachte vor sich hin. »O lala! Eine tolle Nummer, diese Marquise der Engel! Du ganz allein mit deinem großen Messer?«
Sie wurde bleich. Das Ungeheuer war da, zwei Schritte von ihr entfernt, zusammengesunken, aus seiner durchschnittenen Kehle sprudelte Blut. Es wurde ihr übel. Desgray tätschelte lachend ihre Wange.
»Na, nun mach kein solches Gesicht! Du siehst ja wie erstarrt aus. Komm, laß dich ein bißchen aufwärmen.«
Er zog sie auf seine Knie, drückte sie fest an sich und biß ihr heftig in die Lippen. Sie stieß einen Schmerzensschrei aus und riß sich los. Plötzlich hatte sie ihre Kaltblütigkeit wiedergewonnen.
»Monsieur Desgray«, sagte sie, während sie einen letzten Rest von Würde aufbot, »ich wäre Euch zu Dank verpflichtet, wenn Ihr eine Entscheidung über meine Person treffen würdet. Verhaftet Ihr mich, oder laßt Ihr mich gehen?«
»Im Augenblick weder das eine noch das andere«, sagte er lässig. »Nach einer anregenden kleinen Unterhaltung wie der unsrigen kann man nicht einfach so auseinandergehen. Du würdest mich ja für einen Unmenschen halten. Obwohl ich zuzeiten doch recht sanft sein kann!«
Er erhob sich lächelnd, doch in seinen Augen funkelte wieder jener rötliche Glanz. Ohne daß ihr eine abwehrende Geste gelang, nahm er sie in seine Arme, neigte sich über sie und flüsterte:
»Komm, mein hübsches, kleines Tier.«
»Ich dulde nicht, daß Ihr auf solche Weise zu mir sprecht«, rief sie und schluchzte auf.
Ganz plötzlich war es über sie gekommen: eine Sintflut von Tränen, die ihr das Herz aus dem Leibe rissen, die sie fast zum Ersticken brachten.
Desgray trug sie zum Bett, wo er sie niedersetzte und lange Zeit aufmerksam betrachtete. Als ihre Verzweiflung sich schließlich ein wenig legte, begann er, sie zu entkleiden. Sie spürte auf ihrem Nacken seine Finger, die die Haken ihres Mieders mit der Geschicklichkeit von Zofenhänden lösten. Tränenüberströmt, hatte sie keinen Funken Kraft mehr, um Widerstand zu leisten.
»Desgray, Ihr seid schlecht!« stammelte sie.
»Nicht doch, mein Herzchen, ich bin nicht schlecht.«
»Ich glaubte, Ihr wäret mein Freund ... Ich glaubte ... ach, mein Gott, wie unglücklich ich bin.«
»Na, na, was sind das für dumme Ideen!« sagte er in nachsichtig-brummendem Ton.
Mit geschickter Hand streifte er ihre weiten Röcke ab, löste die Strumpfbänder und zog ihr die Schuhe aus. Als sie nur noch ihr Hemd anhatte, wandte er sich ab und entkleidete sich seinerseits. Dann schwang er sich zu ihr aufs Bett und zog die Vorhänge zu.
»So, nun hör endlich mit dem Geflenne auf, jetzt wird’s lustig! Komm ein bißchen zu mir.«
Er riß ihr das Hemd herunter und versetzte ihr im gleichen Augenblick einen schallenden Klaps, daß sie ob dieser Demütigung zornig auffuhr und ihre spitzen kleinen Zähne in seine Schulter bohrte.
»Warte, mein Hündchen, das sollst du büßen!«
Aber sie wehrte sich. Sie kämpften miteinander. Sie bedachte ihn mit den übelsten Schimpfworten. Das ganze Vokabular der Polackin rollte ab, und Desgray bog sich vor Lachen. Das Blitzen dieser weißen Zähne, der scharfe Tabaksgeruch, der sich mit dem Schweißgeruch dieses Mannes vermischte, verwirrten Angélique zutiefst. Sie war überzeugt, daß sie Desgray haßte, daß sie seinen Tod wünschte. Sie drohte ihm, ihn mit ihrem Messer umzubringen. Er lachte schallend. Endlich gelang es ihm, sie zu überwältigen, und er suchte ihre Lippen.
»Küß mich«, sagte er. »Küß den Polizisten ... Gehorche, oder ich prügle dich blau und grün ... Küß mich . Fester. Ich weiß ganz genau, daß du zu küssen verstehst .«
Sie konnte der gebieterischen Verleitung dieses Mundes nicht mehr widerstehen, und ihre Antwort auf Desgrays Lippen bezeichnete das Ende des Kampfes. Sie sagte sich, daß er sie respektlos behandelte, daß niemand sie so behandelt hatte, nicht einmal Nicolas, nicht einmal der Hauptmann. Aber ihr Körper wurde von Schauern geschüttelt.
Der Mann preßte sie mit gebieterischem Arm an sich. Einen Augenblick lang sah sie eine völlig veränderte Maske: geschlossene Lider, leidenschaftlichen Ernst, ein Gesicht, in dem jeglicher Zynismus erstarb, jegliche Ironie unter dem Drang eines einzigen Gefühls erstarb. Im nächsten Moment spürte sie, daß sie ihm gehörte. Er lachte von neuem, auf genießerische und verwegene Weise. So mißfiel er ihr. In diesem Augenblick brauchte sie Zärtlichkeit. Ein neuer Liebhaber erzeugte bei der ersten Umarmung jedesmal einen Reflex der Verwunderung und des Erschreckens, vielleicht auch des Abscheus in ihr.
Ihre Erregung legte sich, bleischwere Müdigkeit überfiel sie. Willenlos ließ sie sich nehmen, doch er schien sich nicht daran zu stoßen. Sie hatte den Eindruck, daß er mit ihr wie mit einem beliebigen Mädchen verfuhr.
Da beklagte sie sich, indem sie ihren Kopf hin und her bewegte:
»Laß mich ... Laß mich!«
Aber er kümmerte sich nicht darum. Alles wurde dunkel. Die nervöse Spannung, die sie in den letzten Tagen aufrecht gehalten hatte, wich einer zermürbenden Müdigkeit. Sie war am Ende ihrer Kräfte, ihrer Tränen, ihrer Sinnenlust ...
Als sie erwachte, fand sie sich ausgestreckt auf dem Bett liegend, mit gespreizten Armen und Beinen, in der Stellung, in der der Schlaf über sie gekommen war. Die Vorhänge waren zurückgezogen. Ein runder Sonnenfleck tanzte auf den Fliesen. Sie hörte das Wasser der Seine zwischen den Bogen des Pont Notre-Dame singen. Ein anderes, näheres Geräusch mischte sich ein, ein lebhaftes und gedämpftes Kratzen.
Sie wandte den Kopf und erblickte Desgray, der an seinem Arbeitstisch schrieb. Er trug seine Perücke und einen weißen, gestärkten Kragen. Er wirkte sehr ruhig und völlig von seiner Arbeit absorbiert. Sie betrachtete ihn, ohne zu begreifen. Ihr Erinnerungsvermögen war wie ausgeschaltet. Schließlich wurde sie sich ihrer schamlosen Stellung bewußt und nahm die Beine zusammen.
In diesem Augenblick hob Desgray den Kopf, und als er bemerkte, daß sie wach war, legte er die Feder nieder und trat ans Bett.
»Wie geht’s? Habt Ihr gut geschlafen?« Seine Stimme klang überaus höflich und ungezwungen.
Verständnislos sah sie zu ihm auf. Sie wußte nicht recht, was sie von ihm halten sollte. Wo war er ihr doch beängstigend, brutal, schamlos vorgekommen? Im Traum zweifellos.
»Geschlafen?« stammelte sie. »Meint Ihr, ich habe geschlafen? Wie lange denn?«
»Meiner Treu, seit bald drei Stunden genieße ich diesen reizvollen Anblick.«
»Drei Stunden!« wiederholte Angélique, indem sie auffuhr und das Laken heranzog, um ihre Blöße zu bedecken. »Das ist ja schrecklich! Und die Verabredung mit Monsieur Colbert?«
»Ihr habt noch eine Stunde, um Euch darauf vorzubereiten.«
Er betrat den anstoßenden Raum, wandte sich noch einmal zurück. »Ich habe hier einen bequemen Waschraum mit allem, was die Toilette der Damen erfordert: Schminke, Schönheitspflästerchen, Parfüm und so weiter ...«
Mit einem seidenen Morgenrock über dem Arm kam er zurück. Er warf ihn ihr zu.
»Zieht das an und beeilt Euch, meine Schöne.«
Ein wenig benommen machte sich Angélique daran, zu baden und sich anzukleiden. Ihre Sachen lagen sorgfältig gefaltet auf einer Truhe. Aus dem Nebenraum hörte sie das Kratzgeräusch der Feder. Plötzlich schob Desgray seinen Stuhl zurück und fragte:
»Kommt Ihr zurecht? Darf ich Eure Zofe spielen?«
Ohne ihre Antwort abzuwarten, trat er ein und begann, flink die Verschnürungen ihres Rocks zu knüpfen.
Angélique wußte nicht mehr, was sie denken sollte. Bei der Erinnerung an die Liebkosungen, die er sich herausgenommen hatte, geriet sie in lähmende Verlegenheit. Doch Desgray schien das alles vergessen zu haben. Es wäre ihr wie ein Traum vorgekommen, hätte sie nicht im Spiegel ihr Gesicht gesehen, ein sinnliches, gesättigtes Frauengesicht, dessen Lippen von den Bissen der Küsse geschwollen waren. Welche Schande! Auch für die Augen Uneingeweihter trug ihr Gesicht die Male der leidenschaftlichen Liebesspiele, in die Desgray sie mitgerissen hatte.
Unwillkürlich legte sie zwei Finger auf ihre Lippen, die noch immer schmerzhaft brannten. Dabei begeg-nete sie im Spiegel Desgrays lächelndem Blick.
»O ja, man sieht es«, sagte er, »aber das macht nichts. Die würdevollen Herrschaften, denen Ihr begegnet, werden sich dadurch nur um so leichter bezwingen lassen ... und vielleicht auch ein wenig neidisch sein.«
Der Polizist hatte sein Degengehänge umgeschnallt und griff nach seinem Hut. Er wirkte ausgesprochen elegant, wenn sein Äußeres auch etwas Düsteres und Strenges behielt.
»Ihr klettert die Stufenleiter hinauf, Monsieur Desgray«, sagte Angélique, indem sie sich bemühte, seine Ungezwungenheit nachzuahmen. »Ihr tragt den Degen, und Eure Wohnung ist fürwahr gutbürgerlich.«
»Ich empfange viel Besuch. Die Gesellschaft macht eine seltsame Entwicklung durch. Ist es meine Schuld, wenn die Spuren, die ich verfolge, mich immer ein wenig höher führen? Sorbonne wird langsam alt. Wenn er stirbt, werde ich ihn nicht ersetzen, denn heutzutage findet man die übelsten Mörder nicht in den Spelunken, sondern anderwärts.«
Er schien nachzudenken und fügte kopfschüttelnd hinzu: »In den Salons, beispielsweise ... Seid Ihr bereit, Madame?«
Angélique nahm ihren Fächer und nickte.
»Soll ich Euch Euren Umschlag zurückgeben?«
»Welchen Umschlag?«
»Den, den Ihr mir anvertrautet, als Ihr kamt.«
Sie wußte nicht sofort, was er meinte, doch dann erinnerte sie sich plötzlich, und eine leichte Röte stieg in ihr Gesicht. Es war der Umschlag, der ihr Testament enthielt und den sie Desgray in der Absicht übergeben hatte, sich danach das Leben zu nehmen.
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