Sich das Leben nehmen? Was für ein komischer Gedanke! Warum hatte sie sich nur das Leben nehmen wollen? Das war wirklich nicht der richtige Augenblick. Da sie sich doch zum erstenmal seit Jahren vor dem Ziel all ihrer Bemühungen sah! Da sie den König von Frankreich sozusagen in der Hand hatte .!
»Ja, ja«, sagte sie hastig, »gebt ihn mir zurück.«
Er öffnete die Schatulle und reichte ihr den versiegelten Umschlag. Aber er zog ihn zurück, als sie ihn eben ergreifen wollte, und Angélique sah ihn fragend an.
Abermals hatte er jenen rötlich schimmernden Blick, der wie ein Strahl bis ins Innerste der Seele zu dringen schien.
»Ihr wolltet sterben, nicht wahr?«
Angélique starrte ihn schuldbewußt wie ein ertapptes Schulmädchen an, dann senkte sie nickend den Kopf.
»Und jetzt?«
»Jetzt? Ich weiß es nicht. Jedenfalls habe ich vor, aus dieser Situation meinen Vorteil zu ziehen. Es ist eine einzigartige Gelegenheit, und ich bin überzeugt, daß ich wieder vorankommen werde, wenn es mir gelingt, das Schokoladegeschäft in Zug zu bringen.«
»Gut so.«
Er ging mit dem Umschlag zum Kamin und warf ihn ins Feuer. Nachdem das letzte Blatt in Flammen aufgegangen war, kehrte er lächelnd zu ihr zurück.
»Desgray«, murmelte sie, »wie habt Ihr erraten .?«
»Oh, meine Liebe«, rief er lachend aus, »glaubt Ihr, daß ich so wenig abgefeimt bin, eine Frau nicht verdächtig zu finden, die sich mit verstörter Miene, ungepudert und ungeschminkt bei mir einstellt und mir obendrein noch erzählt, sie sei mit einem Stutzer verabredet, um in der Galerie des Palais zu paradieren? Im übrigen .«
Er sah nachdenklich vor sich hin.
»Ich kenne Euch zu gut. Ich habe sofort gemerkt, daß etwas nicht stimmte, daß Ihr gefährdet wart, und daß es galt, rasch und wirksam zu handeln. In Anbetracht meiner freundschaftlichen Gesinnung werdet Ihr mir verzeihen, daß ich so unzart mit Euch umgegangen bin, nicht wahr, Madame?«
»Ich weiß noch nicht«, sagte sie in sanft grollendem Ton. »Ich werde es mir überlegen.«
Doch Desgray lachte und warf ihr einen warmen, besitzergreifenden Blick zu.
Die junge Frau fühlte sich gedemütigt, aber sie sagte sich zu gleicher Zeit, daß sie auf der Welt keinen besseren Freund besaß als ihn.
»Wegen der Auskunft«, fuhr er fort, »die Ihr mir ... so bereitwillig gabt, braucht Ihr Euch keine Gedanken zu machen. Sie ist mir wertvoll, aber das war nur ein Vorwand. Ich werde sie mir merken, aber ich habe bereits vergessen, wer sie mir erteilt hat. Einen Rat noch, Madame, wenn Ihr ihn einem bescheidenen Polizisten verstattet: Schaut immer geradeaus, wendet Euch nie nach der Vergangenheit um. Vermeidet es, in ihrer Asche zu stochern . jener Asche, die man in alle Winde verstreut hat. Denn jedesmal, wenn Ihr daran denkt, werdet Ihr Euch nach dem Tode sehnen. Und ich werde nicht immer da sein, um Euch rechtzeitig aufzurütteln .«
Maskiert und eines Übermaßes von Vorsicht wegen mit verbundenen Augen wurde Angélique von einer Kutsche, deren Rouleaus heruntergelassen waren, zu einem kleinen Haus im Vorort Vaugirard gefahren. Man nahm ihr die Binde erst in einem von ein paar Leuchtern erhellten Salon ab, in dem sich vier oder fünf gemessene, mit Perücken versehene Herren befanden, die über Angéliques Erscheinen einigermaßen ungehalten zu sein schienen. Ohne Desgrays Gegenwart hätte sie das Gefühl gehabt, in eine Falle geraten zu sein.
Doch die Absichten Monsieur Colberts, eines Bürgerlichen mit kühlen, strengen Zügen, waren ohne Falsch. Kein anderer als dieser Ehrenmann, der den ausschweifenden Lebenswandel und die Ausgaben der Leute vom Hofe verurteilte, konnte besser die Billigkeit der Forderungen ermessen, die Angélique an den König stellte. Auch Seine Majestät hatte es eingesehen, gezwungenermaßen freilich und unter dem Druck des durch die Pamphlete des Schmutzpoeten ausgelösten Skandals.
Angélique erfaßte rasch, daß es, wenn überhaupt, nur um der Form willen zu einer Diskussion kommen würde. Ihre moralische Position war ausgezeichnet.
Als sie zwei Stunden danach die erlauchte Gesellschaft verließ, nahm sie die Zusage mit, daß ihr für den Wiederaufbau der Schenke zur »Roten Maske« aus der königlichen Privatschatulle der Betrag von fünfzigtausend Livres übergeben werden würde. Das dem Vater des jungen Chaillou gewährte Patent für die Schokoladeherstellung sollte bestätigt werden. Diesmal lautete es auf Angéliques Namen, und es wurde ausdrücklich festgelegt, daß keine Zunft Forderungen an sie stellen dürfe. Schließlich forderte sie, gleichsam als Wiedergutmachung, daß man ihr eine Aktie der kürzlich gegründeten Ostindischen Gesellschaft übereigne.
Diese letzte Bedingung löste große Verwunderung aus. Aber die Herren der hohen Finanz erkannten, daß ihre Gesprächspartnerin sich vorzüglich auf ihre Sache verstand. Monsieur Colbert stellte murrend fest, die Forderungen dieser Person gingen zwar recht weit, sie seien jedoch vernünftig und wohlbegründet.
Am Ende wurde ihr alles zugestanden.
Dafür sollten sich die Sbirren Monsieur d’Aubrays, des Polizeigewaltigen, in ein Haus auf dem flachen Lande begeben, wo sie zwei heimlich dorthin geschaffte Kisten voller Pamphlete vorfinden würden, auf denen die Namen des Marquis de La Vallière, des Chevalier de Lorraine und des Bruders des Königs, Monsieur d’Orléans, verzeichnet waren.
Die nämliche Kutsche mit den herabgelassenen Rouleaus brachte sie nach Paris zurück. Während der Fahrt bemühte sich Angélique, ihren Optimismus und ihre Freude im Zaum zu halten. Es kam ihr unziemlich vor, so zuversichtlich und zufrieden zu sein, wenn sie sich vergegenwärtigte, aus welchen Schrecken dieser Triumph hervorgegangen war. Aber schließlich mußte es ja, wie die Dinge jetzt lagen, mit dem Teufel zugehen, wenn sie nicht eines Tages eine der reichsten Persönlichkeiten der Hauptstadt sein würde.
Und was konnte sie mit Geld nicht alles erreichen! Sie würde nach Versailles gehen, dem König vorgestellt werden, wieder den ihr zukommenden Platz einnehmen, und ihre Söhne würden wie junge Edelleute erzogen werden. Für den Rückweg hatte man ihr nicht die Augen verbunden, denn es war finstere Nacht. Sie fuhr allein, aber da sie sich völlig ihren Spekulationen und Träumen hingab, verging ihr die Zeit sehr rasch. Zu beiden Seiten der Kutsche hörte sie das Hufeklappern der Pferde einer kleinen Eskorte.
Plötzlich blieb der Wagen stehen, und eines der Rouleaus wurde von außen hochgezogen.
Im Schein einer Laterne erkannte sie Desgrays Gesicht, das sich zur Tür herabbeugte. Er saß zu Pferde.
»Ich verlasse Euch jetzt, Madame. Die Kutsche wird Euch nach Hause bringen. In zwei Tagen gedenke ich Euch zu überbringen, was Euch zukommt. Alles in Ordnung?«
»Ich denke schon. Oh, Desgray, ist das nicht herrlich? Wenn es mir gelingt, die Schokoladefabrikation in Gang zu bringen, ist mein Glück gemacht.«
»Es wird Euch gelingen. Es lebe die Schokolade!« sagte Desgray.
Er nahm seinen Hut ab, beugte sich herab und küßte ihr die Hand - vielleicht ein wenig länger, als die Höflichkeit es vorschrieb.
»Adieu, Marquise der Engel!«
Sie mußte lächeln.
»Adieu, Polizist!«
Zwei erfolgreiche Jahre waren vergangen, als Angélique eines Abends zu später Stunde gemeldet wurde, daß ein Geistlicher sie dringend zu sprechen wünsche. Im Flur fand die junge Frau einen Priester vor, der ihr sagte, ihr Bruder, der R. P. de Sancé, erwarte sie.
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