»Ein bißchen mehr oder weniger abscheulich, was macht das schon aus? Wenn man sich zu einer abscheulichen Rolle entschlossen hat, soll man sich nicht um Nuancen kümmern, sondern seine Position sichern.«

Er geleitete sie zu ihrer Kutsche zurück. Mit seinem schwarzen Käppchen, der ein wenig verschmitzten Art, seine trockenen Hände zu reiben, war er wie ein vertrautes Symbol ihrer frühen Jugend.

»Ich kehre zu den Meinen zurück«, sagte sich Angélique in einem Gefühl der Fülle, das die durch Philippes Verhalten verursachten Wunden schloß. »Ich werde wieder Fuß fassen, in meine frühere Welt wieder Einlaß finden.«

Auf der Türschwelle schien der Verwalter angelegentlich den bestirnten Himmel zu betrachten, während Madame Morens’ Kutsche umständlich im Hof wendete, bevor sie endlich vor ihnen hielt.

»Ich frage mich«, sagte er bekümmert, »wie ein solcher Mann sterben konnte.«

»Welcher Mann, Molines?«

»Der Herr Graf Peyrac .«

Angéliques Herz krampfte sich zusammen. Seit einiger Zeit fügten sich der Verzweiflung, die sie jedesmal erfaßte, wenn sie an Joffrey dachte, unklare Gewissensbisse zu. Auch ihre Augen wanderten unwillkürlich zum nächtlichen Firmament.

»Glaubt Ihr, daß ... er mir böse ist ... wenn ich Philippe heirate?« fragte sie kindlich.

Der Greis schien sie nicht zu hören.

»Daß ein solcher Mann sterben mußte, geht über jeden Menschenverstand«, fuhr er kopfschüttelnd fort. »Vielleicht hat der König das rechtzeitig eingesehen .«

Angélique griff in einer impulsiven Aufwallung nach seinem Arm.

»Molines ... wißt Ihr etwas?«

»Ich habe sagen hören, daß der König ihn begnadigt hatte ... im letzten Augenblick.«

»Ach, ich habe ihn mit eigenen Augen auf dem Scheiterhaufen brennen sehen!«

»Dann wollen wir die Toten begraben sein lassen«, sagte Molines mit einer pastoralen Gebäude, die gut zu ihm paßte. »Möge das Leben sich erfüllen!«

In der Kutsche, die sie nach Hause brachte, preßte Angélique ihre beringten Hände zusammen. »Joffrey, wo bist du? Was soll dieser Hoffnungsschimmer, da doch die Flammen des Scheiterhaufens seit so vielen Jahren erloschen sind? Wenn du noch auf Erden umherirrst, kehr zu mir zurück!«

Sie verstummte, erschrocken über die Worte, die sie murmelte. Die Straßenlaternen warfen huschende Lichtflecke auf ihr Kleid. Sie grollte ihnen, weil sie die Dunkelheit zerteilten, in die sie sich blind versenken wollte. Sie hatte Angst. Angst vor Philippe, Angst vor Joffrey, einerlei, ob er tot war oder lebendig .!

Im Hôtel du Beautreillis kamen ihr Florimond und Cantor entgegen. Beide waren in rosafarbene Seide gekleidet und trugen Spitzenkragen, winzige Degen und Hüte mit rosafarbenen Federn. Sie stützten sich auf eine große Dogge mit fuchsrotem Fell, die Cantor fast überragte.

Sie blieb stehen, und ihr Herz klopfte angesichts der Grazie dieser kleinen Wesen. Wie ernst und selbstbewußt sie waren! Wie gemessen sie sich bewegten, um ihre schönen Kleider nicht zu zerknittern!

Zwischen Philippe und dem Geist Joffreys tauchten sie auf, stark in ihrer Schwäche. »Möge das Leben sich erfüllen«, hatte der alte hugenottische Verwalter gesagt. Und das Leben, das waren sie. Für sie mußte sie ihren Weg weitergehen, stetig, ohne zu ermatten.

Man hatte die Kinder in ihren Sonntagsstaat gekleidet, um Madame de Sévigné zu begrüßen, die im großen Salon seit einer Stunde auf Angélique wartete.

Zum großen Ärgernis der Lakaien ließ sich Angélique auf die Knie nieder, breitete ihre Arme aus und drückte die beiden Pagen samt der Dogge an ihr Herz.

Von dem Grauen und den Skrupeln, die Angélique in dieser Zeit überfielen, ahnten ihre Umgebung und ihre Freundinnen nichts. Nie hatte sie so schön, so ausgeglichen gewirkt. Sie trotzte mit einem zugleich herablassenden und völlig natürlichen Lächeln der Neugier der Salons, in denen sich zur gleichen Zeit wie ein Lauffeuer die Kunde von ihrem zukünftigen Marquisat und ihrer aristokratischen Herkunft verbreitete.

Madame Morens, die Schokoladenfabrikantin, eine Sancé, Angehörige einer im Laufe der letzten Jahrhunderte zwar verschollenen, aber durch ein Geflecht glorreicher Seitenlinien mit den Montmorency, ja sogar mit den Guise verschwägerten Familie? Die letzten Schößlinge dieser Familie hatten begonnen, ihr neuen Glanz zu verleihen. Hatte nicht Anne von Österreich jenen großen Jesuiten mit den feurigen Augen an ihr Sterbebett rufen lassen, den R. P de Sancé, den alle vornehmen Damen des Hofs so gern in Gewissensangelegenheiten um Rat angegangen wären? Madame Morens, deren frühere Existenz und überstürzter Aufstieg, wenn man es auch nicht wahrhaben wollte, einiges Ärgernis erregte, sollte die leibliche Schwester dieses schon geradezu berühmten Geistlichen sein? Man wollte es nicht glauben. Doch bei einem von Madame d’Albert veranstalteten Empfang beobachtete man, wie der Jesuit die zukünftige Marquise du Plessis-Bellière umarmte, sie ostentativ duzte und sich in brüderlich-scherzhaftem Ton mit ihr unterhielt.

Angélique war übrigens am Tage nach ihrer Begegnung mit Molines zu Raymond geeilt. Sie wußte, daß sie in ihm einen sicheren Bundesgenossen hatte, der ganz unauffällig ihre gesellschaftliche Rehabilitierung organisieren würde. Was auch geschah.

Noch war keine Woche vergangen, als die zwischen ihrem angeblichen Bürgerstand und der Sympathie der adligen Damen des Marais errichtete Mauer der Arroganz einstürzte. Man sprach ihr von der bezaubernden Marie-Agnès de Sancé, deren Grazie den Hof entzückt hätte. Künftighin würde also der Hof durch die Gegenwart einer weiteren Sancé beehrt werden, deren Schönheit der der ersteren in nichts nachstand und deren Geist bereits allüberall gerühmt wurde.

Infolge eines allgemein eingehaltenen stillschweigenden Übereinkommens schienen die letzten Jahre von Angéliques Existenz wie in einem dunklen Loch zu versinken. Sie selbst nahm es halb ängstlich, halb erleichtert hin. Eines Abends, nachdem sie wieder einmal den Dolch Rodogones des Ägypters hervorgeholt und betrachtet hatte, wurde ihr klar, daß all dies nur ein wüster Traum gewesen war, an den sie nicht mehr denken durfte. Ihr Leben mündete wieder in den Weg ein, den Geburt und Überlieferung ihr vorgezeichnet hatten, den Weg einer gewissen Angélique de Sancé, Edelfräuleins aus dem Poitou, dem, wie es scheinen wollte, Philippe du Plessis-Bellière schon vor Zeiten anverlobt worden war.

Indessen vollzog sich dieses Verlöschen einer Phase ihrer Existenz nicht ohne einige Widrigkeiten. Eines Morgens, als sie eben mit ihrer Toilette beschäftigt war, ließ sich der Haushofmeister des Grafen Soissons, Audiger, melden. - Im Begriff, ein Kleid

überzustreifen und hinunterzugehen, um ihn zu begrüßen, besann sie sich eines andern und blieb vor ihrem Frisiertisch sitzen. Eine große Dame konnte einen Besucher geringeren Standes sehr wohl im Morgenrock empfangen.

Als er eintrat, wandte sie sich nicht um, sondern fuhr fort, mit einer riesigen, stäubenden Quaste ihren Hals zu pudern. In dem vor ihr stehenden ovalen Spiegel konnte sie beobachten, wie er sich, in einen schlichten, schwarzen Anzug gezwängt, näherte. Sein Gesicht zeigte den strengen Ausdruck, den sie so gut an ihm kannte, den gleichen, der früher stets dem Ausbruch jener »ehelichen Szenen« zwischen ihnen vorausgegangen war.

»Tretet näher, Audiger«, sagte sie herzlich, »und setzt Euch neben mich auf diesen Schemel. Wir haben uns lange nicht gesehen, aber unsere Geschäfte gehen dank dem tüchtigen Marchandeau so gut, daß es nicht nötig war.«

»Ich bedaure es immer, wenn sich längere Zeit keine Gelegenheit ergibt, Euch zu begegnen«, sagte der junge Mann mit verhaltener Stimme, »denn Ihr pflegt es auszunützen, um Dummheiten zu machen. Stimmt es, was man sich erzählt, daß Ihr Euch vom Marquis du Plessis-Bellière heiraten lassen wollt?«

»Es entspricht haargenau den Tatsachen, mein Freund«, erwiderte Angélique lässig, während sie mit einer kleinen, weichen Bürste den überschüssigen Puder von ihrem Hals entfernte. »Der Marquis ist ein Vetter von mir, und ich glaube, ich bin von jeher in ihn verliebt gewesen.«

»So ist es Euch also endlich gelungen, Eure ehrgeizigen Pläne zu verwirklichen! Ich habe schon lange erkannt, daß für Euch nichts zu hoch ist. Um jeden Preis wolltet Ihr dem Adel angehören ...«

»Ich gehöre ja dem Adel an, Audiger, und ich habe es immer getan, selbst als ich die Gäste Meister Bourgeauds bediente. Ihr, der Ihr immer über alle Klatschgeschichten informiert seid, habt gewiß in diesen letzten Tagen auch erfahren, daß ich in Wirklichkeit Angélique de Sancé de Monteloup heiße.«

Im Gesicht des Haushofmeisters zuckte es. Er war feuerrot geworden.

»Er sollte sich schröpfen lassen«, dachte Angélique.

»Ich habe es tatsächlich erfahren, und es hat mir Euer geringschätziges Verhalten verständlich gemacht. Deshalb also habt Ihr Euch geweigert, meine Frau zu werden? Ihr habt Euch meiner geschämt.«

Er löste seinen Kragen, der ihn in seinem Zorn zu ersticken drohte. Nachdem er tief Atem geschöpft hatte, fuhr er fort:

»Ich weiß nicht, aus welchen Gründen Ihr, die Ihr von so hoher Abkunft seid, einen so tiefen Fall getan habt, daß ich Euch als arme Magd kennenlernte, die sich sogar vor ihrer eigenen Familie versteckte. Aber ich kenne die Welt gut genug, um zu ahnen, daß Ihr das Opfer schmutziger und verbrecherischer Intrigen gewesen seid, wie sie in Adelskreisen gang und gäbe sind. Und nun wollt Ihr in diese Welt zurückkehren .? Nein, ich kann mich noch nicht damit abfinden. Deshalb spreche ich weiterhin in einem vertraulichen Ton mit Euch, der Euch vielleicht schon zuwider ist ... Nein, Ihr werdet nicht verschwinden, grausamer noch, als wenn Ihr gestorben wärt. Wie könnt Ihr, deren Scharfsinn und gesunden Menschenverstand ich bewundert habe, für die Schwächen dieser Welt, auf die Ihr Euch beruft, so blind sein? Die gesunde Atmosphäre, deren Ihr bedürft, um Euch zu entfalten, das brüderliche, herzliche Wohlwollen, dem Ihr bei uns begegnet seid - seht, ich stehe nicht an, mich mit einem Meister Bourgeaud auf die gleiche Stufe zu stellen -, wie könnt Ihr das so leichten Herzens von Euch weisen? Ihr werdet vereinsamen zwischen diesen Intriganten, deren Seichtheit und Gemeinheit Euren Wirklichkeitssinn, Eure Freimütigkeit verkümmern lassen werden, oder Ihr verkommt gleich ihnen .«

Angélique legte ihre silberne Bürste gelassen auf den Frisiertisch. Sie hatte Audigers Eheszenen satt. Wie lange würde sie sich wohl noch die Sermone des Haushofmeisters anhören müssen? Sie warf einen Blick auf dessen volles, glattes Gesicht mit den ehrlichen Augen, den schönen Lippen, und fand, es sei schade um einen Mann, der zugleich so sympathisch und so engherzig sei. Mit einem entschlossenen Seufzer stand sie auf.

»Mein lieber Freund .«

Er erfaßte die Bedeutung ihrer Geste und erhob sich gleichfalls.

»Die Frau Marquise bedeutet dem Haushofmeister, daß er verabschiedet ist .?«

Er wurde bleich. Sein Gesicht verhärtete sich, seine Stimme bebte.

»Illusionen!« sagte er grollend. »Ich habe mir immer nur Illusionen über Euch gemacht. Wie konnte ich nur daran denken ... Ihr, meine Frau! Armer Tor, der ich war! Es ist schon so ... Ihr paßt in Eure Welt. Eine Dirne, die sich herumzerren läßt.«

Mit zwei Schritten war er bei ihr, faßte sie um die Taille und stieß sie auf den Diwan. Keuchend, in rasendem Zorn, packte er mit der einen Hand ihre Handgelenke und preßte sie gegen die Brust der jungen Frau, während er mit der andern den Morgenrock, das feine Hemd aufriß, um sie zu entblößen.

Im ersten Augenblick hatte Angélique sich aufgebäumt, aber alsbald erstarrte sie und blieb regungslos liegen. Der Mann, der mit einem Kampf gerechnet hatte, wurde sich allmählich bewußt, wie sinnlos und lächerlich seine Heftigkeit war, und lockerte verstört die Umklammerung. Seine scheuen Augen suchten Angéliques Gesicht, das aber gleich dem einer Toten still und starr blieb.

»Warum wehrt Ihr Euch nicht?« stammelte er.

Sie starrte ihn aus ihren grünen Augen an. Nie war Audigers Gesicht dem ihren so nah gewesen. Ernst tauchte sie in diesen bronzefarbenen Blick, in dem nacheinander Verwegenheit, Verzweiflung, Leidenschaft aufglühten und erloschen.

»Ihr seid ein sehr nützlicher Gehilfe gewesen, Audiger«, murmelte sie, »das muß ich anerkennen. Wenn es das ist, was Ihr wollt, so nehmt mich. Ich werde mich nicht verweigern. Ihr wißt ja, ich zögere nie, wenn die Stunde gekommen ist, meine Schulden zu begleichen.«

Er betrachtete sie stumm. Nur langsam drang der Sinn ihrer Worte in sein Bewußtsein. Unter sich spürte er diesen geschmeidigen, festen Körper, dessen zugleich fremder und vertrauter Duft ihm die Besinnung raubte. Sie war vollkommen ruhig. Aber selbst diese Hingabe hatte etwas Kränkendes. Es war eine seelenlose Hülle, die sie ihm darbot.