Er erfaßte es. Mit einem erstickten Schluchzer richtete er sich auf und wich taumelnd ein paar Schritte zurück. Er ließ sie nicht aus den Augen.

Sie hatte sich nicht gerührt und lag halb auf dem Diwan ausgestreckt, ohne auch nur den Versuch zu machen, mit der zerrissenen Spitze ihres Morgenrocks die Brust zu bedecken oder das Hemd herunterzuziehen, das er ungestüm bis zu den schönen, perlmutterglänzenden Schenkeln hochgezogen hatte. Er konnte die Beine sehen, die genauso vollkommen waren, wie er sie sich vorgestellt hatte, lang, wohlgeformt, mit sehr kleinen Füßen, die sich vom Samt der Kissen wie köstliches Schnitzwerk aus rosigem Elfenbein abhoben. Audiger atmete tief.

»Gewiß werde ich es mein ganzes Leben lang bedauern«, sagte er mit erstickter Stimme, »aber ich werde mich wenigstens nicht verachten müssen. Adieu, Madame! Ich will kein Almosen von Euch.«

Und er ging hinaus.

Angélique blieb noch eine Weile liegen, tief in Nachdenken versunken. Dann richtete sie sich langsam auf und musterte ihre mitgenommene Kleidung. Ihr Spitzenkragen war verdorben.

»Der Teufel hole die Männer!« murmelte sie verärgert.

Sie erinnerte sich, wie sehr sie auf dem Ausflug nach der Javel-Mühle gewünscht hatte, Audiger möge ihr Liebhaber werden. Aber damals hatten die Dinge anders gelegen. Zu jener Zeit war Audiger reicher als sie gewesen, und der Kragen, den sie an jenem Tag trug, hatte sie nicht drei Livres gekostet .

Mit einem kleinen Seufzer setzte sie sich wieder vor ihren Frisiertisch.

»Ninonde Lenclos hat recht«, dachte sie bei sich. »Was in der Liebe die meisten Mißverständnisse verursacht, ist die Tatsache, daß die Uhren der Begierde nicht immer im gleichen Augenblick schlagen.«

Am nächsten Morgen überbrachte ihr eine Bedienerin der Schokoladenstube zur »Spanischen Zwergin« eine kurze Botschaft Audigers, der sie bat, abends in das Lokal zu kommen, um mit ihm die Bücher zu prüfen. Der Vorwand kam ihr recht fadenscheinig vor. Der arme Junge hatte offenbar nach einer schlaflosen Nacht seine Würde und Seelengröße zum Teufel gejagt und versuchte nun, doch noch in den Genuß des Almosens zu kommen, das sie ihm angeboten hatte. Angélique wich nicht aus. Entschlossen, ihm durch diese erste und letzte Willfährigkeit ihre Dankbarkeit zu bezeigen, begab sie sich zu der Verabredung.

Sie traf den Haushofmeister in dem kleinen, neben der Gaststube liegenden Büro an. Er war in Reithosen und Jagdstiefeln und wirkte sehr ruhig, ja geradezu munter. Er vermied jede Anspielung auf das Scharmützel vom Abend zuvor und begann völlig ungezwungen zu reden.

»Vergebt mir, Madame, daß ich Euch bemüht habe, aber es schien mir angebracht, vor meiner Abreise alle Fragen unserer Schokoladefabrikation durchzusprechen, wenn wir auch unserem Geschäftsführer Marchandeau volles Vertrauen schenken können.«

»Ihr wollt verreisen?«

»Ja. Ich habe soeben eine Verpflichtung für die Franche-Comté unterzeichnet, wo Seine Majestät in diesem Frühjahr, wie es heißt, irgendeine Stadt erobern will. Ich breche erst in acht Tagen auf, aber inzwischen soll ich mich um die Verproviantierung des Regiments von Monsieur du Bellay kümmern. So werde ich in dieser letzten Woche wohl keine Zeit für eine Zusammenkunft mit Euch finden, und deshalb wollte ich den letzten freien Abend dazu benützen, gemeinsam mit Euch festzustellen, wie unsere Geschäfte stehen.«

Über eine Stunde lang gingen sie zusammen mit Marchandeau die Kontobücher durch, worauf sie sich in den Fabrikationsraum begaben, um die Maschinen zu prüfen, und in die Vorratskammern, um die Reserven an Kakao, Zucker und Gewürzen zu kontrollieren. In einem passenden Augenblick stand Audiger auf und ging hinaus, als müsse er einen andern Faszikel mit Rechnungen holen. Doch wenige Augenblicke darauf hörte Angélique den Trab eines sich entfernenden Pferdes, und sie begriff, daß Audiger aufgebrochen war und daß sie ihn nie wiedersehen würde.

Sie schrieb einen Brief an ihren Lieferanten in La Rochelle zu Ende, löschte und versiegelte ihn und nahm sodann ihre Maske und ihren Mantel. Für einen Augenblick lauschte sie dem Lärm, der aus der überfüllten Gaststube kam, denn ein Platzregen hatte kurz zuvor die Gäste aus den Lauben unter Dach und Fach gescheucht. Der süßliche Duft der Schokolade, vermischt mit dem gerösteter Mandeln, drang bis in dieses Büro, in dem Angélique, zwei Jahre lang in schwarzem Kleid, weißem Kragen und weißen Ärmelaufschlägen, eine Gänsefeder in der Hand, über endlosen Rechnungen gesessen hatte.

Wie üblich trat sie schließlich an die zum Saal führende Tür und beobachtete »ihre« Gäste durch den Schlitz der Portiere. In nächster Nähe bemerkte sie einen Mann, der allein vor einer dampfenden Tasse saß und melancholisch Pistazien zerkrümelte. Er kam ihr bekannt vor, und nachdem sie ihn ein Weilchen beobachtet hatte, stieg in ihr der Verdacht auf, daß diese recht vornehm gekleidete Person der Polizist Desgray sein müsse, der sich auf geschickte Weise unkenntlich gemacht habe. Sie verspürte eine kindliche Freude. Zwischen dem eisigen Groll ihres zukünftigen Gatten, den Vorwürfen Audigers, der Neugier ihrer Freunde war Desgray der einzige Mensch, mit dem sie im Augenblick würde reden können, ohne Komödie spielen zu müssen.

Sie trat aus ihrem Versteck hervor und näherte sich ihm.

»Mir scheint, man hat Euch versetzt, Meister Desgray«, sprach sie ihn mit gedämpfter Stimme an. »Darf ich mit meinen bescheidenen Mitteln versuchen, die Grausame zu ersetzen, die Euch im Stich gelassen hat?«

Er blickte auf und erkannte sie.

»Nichts kann ehrenvoller für mich sein, als die Herrin dieser bezaubernden Stätte an meiner Seite zu haben.«

Sie setzte sich lachend neben ihn und bedeutete einem der beturbanten kleinen Negerlein, ihr eine Tasse Schokolade und Gebäck zu bringen.

»Auf wen macht Ihr in meinem Gehege Jagd, Desgray? Auf einen giftigen Pamphletisten?«

»Nein. Nur auf seine weibliche Entsprechung, nämlich auf eine Giftmischerin.«

»Puh, das ist aber recht banal! Ich kenne welche«, sagte Angélique, die an Madame de Brinvilliers dachte.

»Wenn ich Eurer Auskünfte bedarf, werde ich mich an Euch wenden«, bemerkte Desgray mit einer ironischen Grimasse. »Ich weiß, daß Ihr sie mir bereitwillig anvertraut.«

Angélique erinnerte sich nicht gern der Folter, der sie der Polizist seinerzeit ausgesetzt hatte. Sie erwiderte daher nichts und gab sich ganz dem Genuß des heißen Getränks hin, das der Negerknabe Tom ihr eben eingeschenkt hatte.

»Was haltet Ihr von dieser Schokolade, Monsieur Desgray?«

»Eine wahre Strafe! Aber schließlich weiß man ja, daß man ein paar kleine Prüfungen solcher Art bestehen muß, wenn man einen Fall verfolgt. Ich muß jedoch zugeben, daß ich im Laufe meiner Karriere sehr häufig unerfreulichere Lokalitäten als diesen Schokoladeausschank habe betreten müssen. Er ist gar nicht so übel .«

Die junge Frau war überzeugt, daß Desgray über ihr Heiratsprojekt Bescheid wußte, aber da er nichts sagte, war es ihr peinlich, das Thema anzuschneiden. Doch der Zufall kam ihr zu Hilfe, indem er Philippe selbst inmitten einer munteren Gesellschaft von Edelleuten und Damen hereinführte. Angélique, die maskiert war und in einem entlegenen Winkel saß, brauchte nicht zu befürchten, von ihm erkannt zu werden.

Sie sagte, indem sie Desgray auf ihn aufmerksam machte:

»Seht Ihr jenen Edelmann im himmelblauen Seidengewand? Nun, ich werde ihn heiraten.«

Desgray tat überrascht. »Was? Aber ist das denn nicht der kleine Vetter, der an einem gewissen Abend in der Schenke zur >Roten Maske< mit Euch spielte?«

»Doch«, bestätigte Angélique mit einer herausfordernden Kopfbewegung. »Nun, was meint Ihr?«

»Wozu? Zu der Heirat oder zu dem kleinen Vetter?«

»Zu beiden.«

»Das Heiraten ist eine delikate Angelegenheit, und ich überlasse es Eurem Beichtvater, Euch darüber aufzuklären, mein Kind«, sagte Desgray in weisem Ton. »Was den kleinen Vetter betrifft, so stelle ich mit Bedauern fest, daß er absolut nicht Euer Typ ist.«

»Wieso? Er ist doch sehr schön?«

»Eben deshalb. Die Schönheit ist bestimmt das letzte, was Euch an den Männern zu reizen vermag. Was Ihr an ihnen liebt, sind nicht die Eigenschaften, die sie mit den Frauen gemein haben, sondern im Gegenteil diejenigen, die sie von ihnen trennen: ihre spezifische Intelligenz, ihre Lebenseinstellung, die nicht immer richtig sein mag, die Euch aber ungewöhnlich erscheint, und auch das Mysterium ihrer männlichen Funktionen. Jawohl, Madame, so seid Ihr. Ihr braucht mich hinter Eurer Maske gar nicht so schockiert anzuschauen. Ich möchte noch hinzusetzen: Je mehr sich ein Mann von der großen Herde löst, desto eher seid Ihr geneigt, ihn als Gebieter anzuerkennen. Deshalb habt Ihr eine Vorliebe für die Originale, die Parias, die Rebellen. Nun, der dort ist nicht dumm, aber er besitzt keinen Scharfsinn. Wenn er Euch liebt, lauft Ihr Gefahr, Euch fürchterlich zu langweilen.«

»Er liebt mich nicht.«

»Um so besser. Ihr könnt ja zu Eurer Unterhaltung immerhin versuchen, Liebe zu erwecken. Aber was die körperliche Liebe betrifft, möchte ich wetten, daß er noch weniger subtil ist als ein Bauer. Hat man mir doch berichtet, daß er in den Kreisen Monsieurs verkehrt! Er soll früher der Geliebte des Chevaliers de Lorraine und des Fürsten Ligne gewesen sein.«

»Ich mag es nicht, daß man so über Philippe redet«, sagte Angélique mißmutig. »Oh, Desgray, es ist mir peinlich, Euch diese Frage zu stellen. Aber können solche Gewohnheiten einen Mann nicht hindern . Kinder zu zeugen, beispielsweise?«

»Das kommt ganz darauf an, um was für eine Art Mann es sich handelt«, antwortete Desgray lachend. »So wie dieser Bursche mir gebaut scheint, hat er wohl alles, was man braucht, um eine Frau glücklich zu machen und ihr zu einem Stall voll Kinder zu verhelfen. Aber bei ihm ist es das Herz, das fehlt. Wenn er einmal tot ist, kann sein Herz gewiß nicht kälter sein als heute. Pah! Ich sehe, daß Ihr Schönheit kosten wollt. Nun denn, kostet sie, beißt herzhaft in sie hinein, und vor allem: bereut nichts. So, und nun werde ich Euch verlassen.« Er stand auf, um ihr die Hand zu küssen.

»Meine Giftmischerin ist nicht gekommen. Ich be-daure es lebhaft. Gleichwohl danke ich Euch für Eure angenehme Gesellschaft.«

Während er sich zwischen den Tischen entfernte, blieb Angélique wie erstarrt sitzen. Angst und Kummer schnürten ihr plötzlich die Kehle zu.

»Und nun werde ich Euch verlassen«, hatte Desgray gesagt. Mit einem Male begriff sie, daß sie in dem Milieu, in das sie zurückzukehren gedachte - am Hof, in Versailles, in Saint-Germain, im Louvre -, nie mehr dem Polizisten Desgray und seinem Hund Sorbonne begegnen würde. Sie würden verschwinden, wieder in jener Welt der Diener, der Kaufleute, des einfachen Volkes untertauchen, die um die Großen kreist und nicht von ihnen beachtet wird.

Auch Angélique stand auf und eilte zu der Tür, durch die er verschwunden war.

Sie entdeckte ihn auf dem Gartenweg und lief ihm nach.

»Desgray!«

Er blieb stehen und drehte sich um.

Angélique drängte ihn in das Halbdunkel einer Laube und schlang ihre Arme um seinen Hals.

»Umarmt mich, Desgray!«

Er zuckte zurück.

»Was habt Ihr? Wollt Ihr wieder einen Pamphletisten retten?«

»Nein . aber ich .«

Sie wußte nicht, wie sie ihm die panische Angst erklären sollte, die sie bei dem Gedanken erfaßt hatte, daß sie ihm nie wieder begegnen würde. Verwirrt und schmeichelnd rieb sie ihre Wange an Desgrays Schulter.

»Ihr begreift doch, ich werde heiraten. Danach wird es mir kaum mehr möglich sein, meinen Gatten zu betrügen.«

»Im Gegenteil, Liebste. Eine große Dame darf sich nicht dadurch lächerlich machen, daß sie ihren Gatten liebt und ihm treu ist. Aber ich verstehe Euch schon. Wenn Ihr die Marquise du Plessis-Bellière seid, wird es Euch nicht eben gut anstehen, unter Euren Liebhabern einen Polizisten namens Desgray zu haben!«

»Oh, warum sucht Ihr nach Gründen?« protestierte Angélique.

Sie hätte gern gelacht, aber es gelang ihr nicht, ihrer Bewegung Herr zu werden. Und ihre Augen füllten sich mit Tränen, als sie von neuem murmelte:

»Warum nach Gründen suchen? Wer vermag das Herz einer Frau und das Warum ihrer Leidenschaften zu ergründen?«

Er erkannte das Echo seiner eigenen rauhen, erschöpften Stimme von damals, als er im Gerichtssaal aufgestanden war, um den Grafen Peyrac zu verteidigen.

Stumm schloß er seine Arme um sie und drückte sie an sich.

»Ihr seid mein Freund, Desgray«, murmelte sie mit klagender Stimme. »Ich habe keinen besseren und werde nie einen besseren haben. Sagt mir, Ihr, der Ihr alles wißt, sagt mir, daß ich seiner nicht unwürdig geworden bin. Er war ein Mann, der sein Mißgeschick und die Armut in solchem Maße überwunden hatte, daß er die Geister der andern beherrschte, wie wenige Menschenwesen es vermögen ... Aber ich, was habe nicht auch ich alles überwunden? Ihr allein wißt, von wo ich zurückkehre, Desgray. Erinnert Euch und sagt mir: Bin ich jenes einzigartigen Willenphänomens unwürdig, das der Graf Peyrac war? Wird er nicht in der Kraft, die ich entwickelt habe, um seine Söhne dem Elend zu entreißen, die seine wiedererkennen, wenn er wiederkäme .?«