Nach Madelons Tod nahm Angéliques Eigensinn krasse Formen an, sie wurde geradezu undiszipliniert. Sie tat, was ihr eben einfiel, verschwand für viele Stunden in abgelegenen Schlupfwinkeln des ausgedehnten Gebäudes. Seit ihrer Eskapade hatte man ihr das Betreten des Gartens und des Gemüselandes untersagt, doch fand sie gleichwohl Mittel, sich dorthin zu schleichen. Man dachte daran, sie nach Hause zu schicken, aber Baron de Sancé bezahlte trotz der Schwierigkeiten, die der Bürgerkrieg ihm verursachte, regelmäßig das Pensionsgeld für seine beiden Töchter, was nicht auf alle Zöglinge zutraf. Überdies versprach Hortense, als eine der besten Schülerinnen in die nächste Klasse versetzt zu werden. Der Älteren zuliebe behielt man die Jüngere. Aber man gab es auf, sich um sie zu kümmern.
An einem Januartag des Jahres 1652 hockte Angélique, die eben fünfzehn geworden war, wieder einmal auf der Mauer des Gemüsegartens und vergnügte sich damit, das Kommen und Gehen auf der Straße zu beobachten und sich in der lauen Wintersonne zu wärmen.
Es ging in diesen ersten Tagen des Jahres hoch her zu Poitiers, denn die Königin, der König und ihre Anhänger hatten sich gerade in der Stadt niedergelassen. Arme Königin, armer junger König, von einer Revolte nach der andern geschüttelt! Eben begaben sie sich nach Guyenne, um gegen den Fürsten Condé zu kämpfen. Auf dem Rückweg halten sie sich im Poitou auf und versuchen, mit Turenne zu verhandeln, der diese Provinz von Fontenay-le-Comte bis zum Meer in der Hand hat. Châtellerault und Luçon, die alten protestantischen Festungen, haben sich dem hugenottischen General angeschlossen, doch Poitiers, das nicht vergißt, daß hundert Jahre zuvor die Ketzer seine Kirchen plünderten und seinen Bürgermeister hängten, hat dem Monarchen seine Tore geöffnet.
Heute sieht man neben dem königlichen Jüngling nur noch die schwarze Robe der spanischen Mutter. Das Volk, ganz Frankreich haben so oft geschrien: »Keinen Mazarin! Keinen Mazarin!«, daß der Mann in der roten Robe sich endlich gebeugt hat. Er hat die Königin verlassen, die er liebte, und ist nach Deutschland gegangen. Doch sein Verschwinden genügt noch nicht, um die Gemüter zu beruhigen .
Von der Mauer ihres Klosters lauschte Angélique dem Summen der in Bewegung geratenen Stadt, deren Erregung sich sogar diesem abgelegenen Viertel mitteilte.
Plötzlich kam am Fuß der Mauer, einem Vogelschwarm gleich, eine lustige Schar von Pagen in ihren rötlichgelben Gewändern aus Atlas und Seide vorbeigezogen. Einer von ihnen blieb stehen, um sein Schuhband festzuknüpfen. Als er sich wieder aufrichtete, hob er den Kopf und entdeckte Angélique, die ihn von der Mauer herab musterte.
Der Page schwenkte galant seinen Hut.
»Seid gegrüßt, Demoiselle! Ihr seht nicht aus, als ob Ihr Euch da droben amüsiertet!«
Er glich jenen Pagen, die sie auf Schloß Plessis gesehen hatte, da er wie sie die bauschige kleine Hose trug, die »Pluderhose«, Erbstück des 16. Jahrhunderts, in der seine Beine unendlich lang wirkten. Davon abgesehen war er sympathisch mit seinem sonnengebräunten, lachenden Gesicht und den schönen, braunen, gelockten Haaren.
Sie fragte ihn nach seinem Alter, und er erwiderte, er sei sechzehn. »Aber beruhigt Euch, Demoiselle«, fügte er hinzu, »ich weiß den Damen den Hof zu machen.«
Er warf ihr schmeichelnde Blicke zu, und plötzlich streckte er ihr die Arme entgegen. »Kommt doch zu mir herunter!«
Eine wohlige Empfindung überkam sie. Es schien ihr, als öffne sich das graue, trübselige Gefängnis, in dem ihr Herz verkümmerte. Dieses hübsche, ihr zugewandte Lachen versprach - sie wußte nicht was an Süßem und Köstlichem, nach dem sie hungerte.
»Kommt«, flüsterte er. »Wenn Ihr wollt, führe ich Euch zum Palast der Herzöge von Aquitanien, wo der Hof abgestiegen ist, und zeige Euch den König.«
Sie zögerte nur einen Augenblick, dann raffte sie ihren schwarzwollenen Mantel mit der Kapuze zusammen.
»Gebt acht, ich springe!« rief sie.
Er fing sie fast in seinen Armen auf. Sie mußte lachen. Lebhaft faßte er sie um die Taille und zog sie mit sich fort.
»Was werden die Nonnen Eures Klosters sagen?«
»Sie sind an meine Streiche gewöhnt.«
»Und wie kommt Ihr wieder heim?«
»Ich werde an der Pforte läuten und um ein Almosen bitten.«
Er lachte hell auf.
Diese Eskapade erinnerte Angélique an jene andere, so schmerzliche, aber sie bemühte sich, den Gedanken zu verjagen, und berauschte sich an dem bunten Treiben, das sie plötzlich umgab. Zwischen den vornehmen Herren und Damen, über deren schöne Kleidung die Provinzbewohner sich verwunderten, strichen Händler umher. Bei einem von ihnen kaufte der Page zwei Stäbchen, auf denen Stücke von gebratenen Fröschen aufgereiht waren. Da er immer nur in Paris gelebt hatte, fand er dieses Gericht spaßig. Sie aßen mit großem Appetit. Der Page erzählte, er heiße Henri de Roguier und sei dem Gefolge des Königs zugeteilt. Dieser, ein lustiger Kamerad, verlasse gelegentlich die ernsten Herren seines Kronrats, um mit seinen Freunden zusammen ein bißchen auf der Gitarre zu klimpern. Die reizenden italienischen Püppchen, Nichten des Kardinals Mazarin, seien immer noch am Hofe, trotz des erzwungenen Abgangs ihres Onkels.
Immer weiterplaudernd, zog der Junge Angélique hinterlistig mit sich in weniger belebte Viertel. Sie merkte es, sagte jedoch nichts. Ihr plötzlich erwachter Körper wartete auf etwas, was die Hand des Pagen an ihrer Hüfte verhieß.
Er blieb stehen und drängte sie sanft in den Winkel einer Tür. Dann begann er, sie glühend zu küssen. Er sagte banale und amüsante Dinge.
»Du bist hübsch . Du hast Wangen wie Maßliebchen und grüne Augen wie die Frösche . die Frösche deiner Gegend . Bleib ruhig. Ich will deinen Schnürleib öffnen ... Wehr dich nicht. Ich weiß schon, was ich tue ... Oh! Ich habe noch nie so weiße und so süße Brüste gesehen ... Und fest wie Äpfel ... Du gefällst mir, mein Herzchen .«
Sie ließ ihn tasten, streicheln. Sie bog ein wenig den Kopf zurück, lehnte ihn an den bemoosten Stein, und ihre Augen fixierten mechanisch ein Stück blauen Himmels, durch das sich die Kante eines geschweiften Daches zog.
Nun schwieg der Page; sein Atem keuchte. Erregt schaute er sich mehrmals ärgerlich um. Die Straße war ziemlich still, aber es kamen immer wieder Leute vorüber. Sogar ein Schwarm Seminaristen erschien, die »Huh! Huh!« machten, als sie das junge Paar im Schatten der Mauer entdeckten.
Der Junge trat zurück und stampfte auf.
»Ach, das ist gräßlich! Die Häuser sind zum Bersten voll in dieser verdammten Provinzstadt. Sogar die großen Herren müssen ihre Mätressen in den Vorzimmern empfangen. Wo kann man da einigermaßen ungestört sein, möchte ich wissen?«
»Es ist doch ganz schön hier«, flüsterte sie.
Aber er war nicht zufrieden. Er warf einen Blick in die kleine Geldbörse, die er am Gürtel trug, und sein Gesicht hellte sich wieder auf.
»Komm! Ich hab’ einen Gedanken! Wir werden ein Kämmerchen nach unserem Geschmack finden.«
Er nahm sie bei der Hand und rannte mit ihr los. Sie eilten vergnügt die Straßen bis zum Platz von Notre-Dame-la-Grande hinunter. Obwohl sie nun schon über zwei Jahre in Poitiers war, kannte sie die Stadt noch nicht. Sie betrachtete staunend die Fassade der Kirche, die wie ein indisches Kästchen gearbeitet und von kleinen Glockentürmen in Tannenzapfenform flankiert war. Man hätte meinen können, der Stein selbst sei unter dem Zaubermeißel der Steinmetze aufgeblüht.
Der junge Henri hieß sie unter dem Portal auf ihn warten. Gleich darauf kam er höchst befriedigt zurück, einen Schlüssel in der Hand.
»Der Vikar hat mir die Kanzel für eine Weile vermietet.«
»Die Kanzel?« wiederholte Angélique verblüfft.
»Pah! Es ist nicht das erstemal, daß er armen Liebespaaren diesen Dienst erweist. Die Beichtstühle sind billiger, aber nicht so bequem.«
Er hatte sie wieder um die Hüfte gefaßt und stieg die Stufen zum Kirchenraum hinunter.
Angélique war tief beeindruckt vom Dämmerlicht und von der Kühle der Gewölbe. Die Kirchen des Poitou sind die dunkelsten von ganz Frankreich, festgefügte Gebäude, die auf mächtigen Pfeilern ruhen, und sie bergen in ihrer Dämmerung alte Fresken, deren lebhafte Farben ganz allmählich dem überraschten Auge erkennbar werden. Die beiden jungen Menschen schritten schweigend durch den Raum.
»Mich fröstelt«, murmelte Angélique und zog ihren Mantel enger zusammen.
»Komm, komm«, flüsterte er. »Ich werde dich wärmen.«
Aber die frohe Erregung des Mädchens legte sich. Diese Kirche, dieses tiefe, vom Flimmern der Kerzen durchleuchtete Dunkel und plötzlich auch dieser fremde Junge flößten ihr Angst ein.
Indessen öffnete der mit dem Ort vertraute Page die erste Tür der monumentalen Kanzel, stieg die Stufen empor und drang in die dem Priester vorbehaltene Rotunde ein. Ein wenig mechanisch folgte ihm Angélique. Sie wußte noch nicht recht, was sie eigentlich wollte. Brüsk umzukehren, kam ihr lächerlich vor. Und dann machte sie der Gedanke an die Hände des Jungen auf ihren Brüsten schlaff. Vielleicht brauchte man sich nur aufs neue seinen Liebkosungen zu überlassen, um wieder das Gefühl des Träumens, der wolkenlosen Bläue zu haben.
Er ließ sich auf dem mit einem Samtteppich belegten Boden nieder, zog sie ziemlich brutal zu sich herab und zwang sie, sich auszustrecken. Sie glaubte, er werde sie von neuem küssen, doch als er gewalttätig ihren Rock hochriß, setzte sie sich wieder auf und stieß ihn zurück. Sie kämpften eine Weile im weihrauchgeschwängerten Dämmerlicht.
»Warum stellst du dich denn so an?« knurrte der Page endlich. »Was willst du?«
»Ich weiß nicht«, stammelte Angélique. »Ich hätte lieber ... Ich weiß nicht ... ein großes, weißes Bett mit Spitzen .«
»Bist du dumm! Auf dem harten Boden ist es doch am schönsten. Ich versichere dir, wir Pagen, die wir die Gelegenheiten ergreifen müssen, die sich uns gerade bieten, haben viel mehr Spaß an der Sache als so manche große Herren, die in ihren Federbetten versinken und viel Schweiß für das halbe Vergnügen lassen. Also sei kein Frosch«, drängte er, »ich hab’ keine Zeit, lange Faxen zu machen. Ich hab’ nur für eine halbe Stunde gemietet.«
Sie war nahe daran nachzugeben, dann lehnte sie sich innerlich auf und wehrte sich wieder. Ihr Kopf schlug an die Balustrade aus massivem Holz, und der Anprall rührte unter den Gewölben ein mächtiges Echo auf.
Sie hielten verblüfft und ein wenig ängstlich inne.
»Ich glaube, es kommt jemand«, flüsterte Angélique.
Der Junge gestand mit verdrossener Miene: »Ich hab’ vergessen, die Kanzeltür unten an der Treppe abzuschließen.«
Dann schwiegen sie und horchten auf die sich nähernden Schritte. Jemand stieg die Stufen zu ihrem Unterschlupf herauf, und der von einem schwarzen Käppchen bedeckte Kopf eines alten Priesters erschien über ihnen.
»Was tut ihr hier, meine Kinder?« fragte er.
Der schlagfertige Page hatte schon seine Geschichte bereit.
»Ich wollte meine Schwester sehen, die in Poitiers in einem Internat ist, aber ich wußte nicht, wo ich mich mit ihr treffen sollte. Unsere Eltern .«
»Sprich nicht so laut im Hause Gottes«, sagte der Priester. »Steht beide auf und folgt mir.«
Er führte sie in die Sakristei und setzte sich auf einen Schemel. Dann stützte er die Hände auf die Knie und schaute sie abwechselnd an. Das unter dem Priesterkäppchen hervorquellende weiße Haar umgab sein Gesicht, das trotz des Alters kräftige bäuerliche Farben bewahrte, wie mit einem Heiligenschein. Er hatte eine dicke Nase, kleine, lebhafte und klare Augen, einen kurzen, weißen Bart. Henri de Roguier schien mit einem Male verstört und schwieg in einer Verlegenheit, die nicht geheuchelt war.
»Ist er dein Liebhaber?« fragte der Priester plötzlich Angélique, indem er mit dem Kinn nach dem Jungen wies.
Das Mädchen errötete. »Nein! Ich . ich habe nicht gewollt.«
»Um so besser, meine Tochter. Hättest du, wenn du ein schönes Perlenhalsband besäßest, Spaß daran, es in einen Hof voller Dünger zu werfen, wo die Schweine es mit ihren rotzigen Rüsseln raffen würden? Nun? Antworte mir, Kleine! Würdest du das tun?«
»Nein, ich würde es nicht tun.«
»Du sollst die Perlen nicht vor die Säue werfen. Du sollst den Schatz deiner Jungfräulichkeit nicht vergeuden, der bis zur Heirat gehütet werden muß. Und du«, fuhr er sanft fort, indem er sich dem Jungen zuwandte, »wer hat dir den schändlichen Gedanken eingegeben, deine Freundin in eine Kirche zu führen, um sie zu entehren?«
»Wohin sollte ich sie führen?« begehrte der Junge verdrossen auf. »Ich schlafe auf dem blanken Boden im Vorzimmer des Königs. Da vermietet uns der Herr Vikar von Notre-Dame-la-Grande zuweilen die Kanzel für dreißig Livres und die Beichtstühle für zwanzig. Das bedeutet viel für meine Börse, glaubt mir, Monsieur Vincent.«
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