»Ich glaube es dir gern«, sagte Monsieur Vincent, »aber es bedeutet noch mehr auf der Waage, mit der der Teufel und der Engel in der Vorhalle von Notre-Dame-la-Grande die Sünden wiegen.«

Sein Gesicht, das bis dahin einen heiteren Ausdruck bewahrt hatte, war hart geworden. Er streckte die Hand aus.

»Gib mir den Schlüssel, den man dir anvertraut hat.«

Und nachdem der Junge ihn übergeben hatte: »Du wirst beichten, nicht wahr? Ich erwarte dich morgen in dieser Kirche. Ich werde dir Absolution erteilen. Ich weiß nur zu gut, in welcher Umgebung du lebst, armer kleiner Page! Und du versuchst lieber, bei einem Mädchen deines Alters den Mann zu spielen, als reifen Damen zum Spielzeug zu dienen, die dich in ihre Alkoven zerren, um dich zu verführen ... Ja, ich sehe dich erröten. Du schämst dich deiner unsauberen Liebeleien vor diesem unberührten Mädchen.«

Der Jüngling senkte den Kopf, seine Überlegenheit war geschwunden. Endlich stammelte er:

»Monsieur Vincent de Paul, ich bitte Euch inständig, erzählt diese Geschichte nicht der Königin. Wenn sie mich zu meinem Vater zurückschickt, wird der nicht mehr wissen, wo er mich unterbringen soll. Ich muß sechs Schwestern versorgen und bin der dritt-jüngste der Familie. Ich habe diese außerordentliche Vergünstigung, in den Dienst des Königs zu treten, nur dank Monsieur de Lorraine erlangen können, der mich ... dem ich gefiel«, vollendete er verlegen. »Er hat den Posten für mich gekauft. Wenn ich davongejagt werde, wird er bestimmt verlangen, daß mein Vater ihm die Summe zurückbezahlt, und das ist unmöglich.«

Der alte Priester schaute ihn ernst an.

»Ich werde deinen Namen nicht nennen, aber es wird gut sein, wenn ich der Königin wieder einmal die Schändlichkeiten ins Bewußtsein rufe, von denen sie umgeben ist. Ach, diese Frau ist gottesfürchtig und gewissenhaft in ihren Andachtsübungen, aber was vermag sie gegen soviel Fäulnis! Man kann die Seelen nicht durch Dekrete verwandeln .«

Er stand auf, legte seine Arme um die Schultern der beiden und führte sie hinaus. Der Abend senkte sich über den Platz vor der Kirche, deren steinerne Blumen vom fahlen Winterlicht belebt wurden.

»Meine Lämmlein«, sagte Monsieur Vincent, »ihr Kinder des lieben Gottes, ihr habt versucht, die grüne Frucht der Liebe zu naschen. Deshalb sind eure Zähne stumpf und eure Herzen voller Traurigkeit. So laßt an der Sonne des Lebens reifen, was zu seiner Zeit sich entfalten wird. Man darf keine Irrwege gehen, wenn man die Liebe sucht, denn dann findet man sie womöglich nie. Welch grausame Strafe für die Ungeduld und die Schwäche, sein Leben lang dazu verdammt zu sein, nur in bittere und saftlose Früchte zu beißen! Ihr werdet jeder in seine Richtung zurückkehren. Du, Knabe, zu deinem Dienst, den du gewissenhaft verrichten sollst. Du, Mädchen, zu deinen Schwestern und deiner Arbeit. Und wenn der Tag anbricht, so vergeßt nicht, zu Gott zu beten, der unser aller Vater ist.« Er entließ sie. Sein Blick folgte ihren anmutigen Silhouetten, bis sie sich an der Ecke des Platzes trennten.

Angélique schaute starr vor sich hin, bis sie die Pforte des Klosters erreichte. Ein großer Friede erfüllte sie. Seltsam, sie hatte den Pagen vergessen und jenen enttäuschenden Vorgeschmack fleischlicher Lust. Doch ihre Schulter bewahrte die Erinnerung an eine alte, warme Hand.

»Monsieur Vincent«, dachte sie. »Ob das der große Monsieur Vincent ist? Der, den der Marquis du Plessis das Gewissen des Königreichs nennt? Der die Vornehmen zwingt, die Armen zu bedienen? Der täglich der Königin und dem König begegnet? Wie schlicht und milde er aussieht!«

Bevor sie den Türklopfer hob, warf sie noch einen Blick über die Stadt, die sich in Dunkel hüllte. »Monsieur Vincent, segnet mich!« flüsterte sie.

Ohne Überlegung noch Widerrede nahm Angélique die Strafe an, die ihr für diesen neuerlichen Ausbruch auferlegt wurde. Von jenem Tage an verwandelte sich ihr ungezügeltes Benehmen. Sie gab sich mit Eifer ihren Studien hin, zeigte sich ihren Kameradinnen gegenüber aufgeschlossen. Sie schien sich endlich dem strengen Geist des Klosters angepaßt zu haben.

Im September verließ ihre Schwester Hortense das Kloster. Eine entfernte Tante rief sie als Gesellschafterin zu sich nach Niort. In Wirklichkeit zielte besagte Dame, die von sehr niederem Adel war und einen reichen Beamten von dunkler Herkunft geheiratet hatte, darauf ab, ihren Sohn mit irgendeinem großen Namen zu verbinden und damit ihrem Wappenschild wieder etwas Glanz zu verleihen. Der Vater hatte gerade für den jungen Mann die Stelle eines Staatsanwalts in Paris gekauft, und dieser sollte sich nun zwischen den übrigen Adelsvertretern zeigen können. Für beide Teile war dies eine unverhoffte Gelegenheit. Die Hochzeit fand alsbald statt.

Zu gleicher Zeit kehrte der junge König Ludwig XIV. in seine Hauptstadt zurück.

Frankreich ging ausgeblutet aus einem Bürgerkrieg hervor, in dessen Verlauf sechs Armeen kreuz und quer über seinen Boden gezogen waren, einander suchend und nicht immer einander findend: Da hatte es die des Fürsten Condé gegeben, die des Königs, von Turenne geführt, der sich plötzlich entschlossen hatte, keinen Verrat zu begehen, die des Gaston d’Orléans, mit den Engländern verbündet und mit den französischen Fürsten überwerfen, die des Herzogs von Beaufort, die mit allen entzweit war, die die Spanier jedoch unterstützten, die des Herzogs von Lothringen, die auf eigene Rechnung operierte, und schließlich die Mazarins, der der Königin aus Deutschland hatte Verstärkung schicken wollen. Beinahe wäre Mademoiselle de Montpensier zum Armeegeneral ernannt worden - dank ihrem Entschluß, die Kanonen der Bastille auf die Truppen ihres eigenen Vetters, des Königs, feuern zu lassen. Eine Geste, die die Grande Mademoiselle teuer bezahlen mußte, denn sie wirkte auf gar viele fürstliche Bewerber um ihre Hand recht abschreckend.

»Mademoiselle hat soeben ihren Gatten >getötet<«, hatte in seinem weichen Abruzzendialekt der Kardinal Mazarin gemurmelt, als man ihm die Sache mitteilte.

Dieser letztere blieb der große Sieger in dieser schlimmen und grotesken Krise. Nach knapp einem Jahr sah man in den Gängen des Louvre wieder seine rote Robe, aber es gab keine »Mazarinaden« mehr. Alle Welt war am Ende der Kräfte.

Angélique wußte, daß das Dorf Monteloup fast völlig dem Erdboden gleichgemacht worden war. Es hatten sogar Offiziere im Schloß kampiert, aber eine Empfehlung des Fürsten Condé hatte sie veranlaßt, sich dem Baron und seiner Familie gegenüber höflich zu verhalten, und man behielt sie in nicht allzu schlechter Erinnerung. Hingegen war die Hälfte der Maultiere kurzerhand von den Truppen mitgenommen worden. Dennoch wurde das Pensionsgeld für Angélique weiterhin pünktlich übersandt, was bewies, daß der alte Molines sich zu helfen gewußt hatte, allen Ereignissen zum Trotz.

Angélique hatte eben ihr siebzehntes Lebensjahr erreicht, als sie den Tod ihrer Mutter erfuhr. Sie betete viel in der Kapelle, weinte jedoch nicht. Sie konnte es nicht fassen, daß sie jene schmale Gestalt im grauen Kleid mit dem schwarzen Kopftuch, über dem im Sommer ein altmodischer Strohhut saß, nie mehr sehen würde. Als Hüterin des Obst- und Gemüsegartens hatte Madame de Sancé vielleicht an ihre Birnbäume und Kohlköpfe mehr Sorge und Zärtlichkeit verschwendet als an ihre zahlreichen Kinder. Da sie es sich nicht wie die Damen des wohlhabenden Adels leisten konnte, in ihrem Park Labyrinthe und Wasserspiele zu schaffen, hatte sie ihren Ehrgeiz auf einem mehr bäuerlichen Gebiet befriedigt. Ihre Früchte und Gemüse waren die schönsten der Gegend, und dank ihrer war Angélique zusamt ihren Brüdern und Schwestern, statt mit Mehlbrei und Wildbret gestopft zu werden, nach einem reichhaltigen und abwechslungsreichen, Salate und Kompotte enthaltenden Speisezettel großgezogen worden, was allen eine frische Gesichtsfarbe und eine eiserne Gesundheit eingebracht hatte.

Das sind Segnungen, die man mit siebzehn Jahren kaum zu schätzen weiß. Madame de Sancé hatte eine sanfte Stimme gehabt, aber ihre Worte waren allzu spärlich gewesen. Sie hatte ihre Kinder durch unermüdliches Wirken am Leben erhalten, aber sie hatten sie wenig gesehen.

Doch als Angélique am Abend ausgestreckt in ihrem schmalen Bett lag, kam es ihr plötzlich zum Bewußtsein, daß es eben diese schweigsame und immer heimlich seufzende Frau gewesen war, die sie unterm Herzen getragen hatte. Sie fühlte sich bewegt, und sie strich mit der Hand ganz sacht über ihren jungen Leib, der fest und fleischig war. War es denn möglich, daß man ein richtiges, lebendiges Kind in einem so engen, so wohlverschlossenen Raum tragen konnte, zehnmal hintereinander und noch mehr? Und die Kinder entschwanden, zuerst in die Arme der Ammen, dann in die Welt hinaus, nach Amerika oder in die Arme des Gatten oder auch, um zu sterben. Sie mußte plötzlich an das seltsame blasse Wesen denken, das ihre kleine Schwester Madelon gewesen war. Vom Mutterleib gelöst, hatte sie nur Entsetzen und Bangigkeit gekannt. Die Geschichten der Amme machten sie schaudern. Sie hatte in einer imaginären Welt gelebt, die grausiger gewesen war als die wirkliche, und niemand hatte ihr beigestanden.

»Wenn ich einmal Kinder habe«, sagte sich Angélique, »dann werde ich sie nicht fern von mir sterben lassen. Ich werde sie liebhaben, ach, wie werde ich sie liebhaben und den ganzen Tag in meinen Armen halten!«

Es geschah gelegentlich des Todes ihrer Mutter, daß Angélique ihre beiden Brüder Raymond und Denis wiedersah, denn sie kamen, um sie von ihm in Kenntnis zu setzen. Das Mädchen empfing sie im Sprechzimmer, hinter dem kalten Gitter, wie die Klosterregel der Ursulinerinnen es verlangte.

Denis war jetzt auf dem Gymnasium. Mit den Jahren kam er immer mehr aufJosselin heraus, so daß sie im ersten Augenblick glaubte, ihren ältesten Bruder vor sich zu haben, wie sie ihn in der Erinnerung trug: in seiner schwarzen Schülertracht und mit dem Tintenbehälter aus Horn an seinem Gürtel. Sie war dermaßen betroffen über diese Ähnlichkeit, daß sie den Geistlichen, der ihren Bruder begleitete, nach flüchtiger Begrüßung nicht weiter beachtete, so daß er seinen Namen nennen mußte.

»Ich bin Raymond, Angélique, erkennst du mich nicht mehr?«

Sie war geradezu verschüchtert. In ihrem im Vergleich zu so vielen anderen ungemein strengen Kloster kamen die Nonnen den Priestern mit einer frömmlerischen Unterwürfigkeit entgegen, die von der weiblichen Ergebenheit gegenüber dem männlichen Wesen nicht frei war. Von einem von ihnen geduzt zu werden, verwirrte sie. Und nun war sie es, die den Blick senkte, während Raymond sie anlächelte. Mit viel Zartgefühl setzte er sie von dem Unglück in Kenntnis, das die Familie betroffen hatte, und sprach in schlichten Worten von der Ergebung, die man Gott schulde. Es lag etwas Neues, ihr Unbekanntes in seinem länglichen Gesicht mit dem matten Teint und den klaren, feurigen Augen.

Er berichtete außerdem, ihr Vater sei sehr enttäuscht gewesen, daß seine, Raymonds, religiösen Neigungen während dieser letzten Jahre, die er bei den Jesuiten verbracht hatte, nicht geschwunden waren. Da Josselin fortgegangen war, hoffte man natürlich, Raymond werde die Rolle des Stammhalters übernehmen. Doch der junge Mann hatte zugunsten seiner anderen Brüder auf das Erbe verzichtet und das Ordensgelübde abgelegt. Auch Gontran enttäuschte den armen Baron Armand. Weit davon entfernt, zur Armee zu gehen, war er nach Paris gereist, um dort, man wußte nicht recht was, zu studieren. So blieb nur der jetzt dreizehnjährige Denis, um die militärische Tradition der Familie fortzusetzen.

Während des Gesprächs betrachtete der Jesuitenpater seine Schwester, dieses junge Mädchen, das, um ihn zu verstehen, sein Gesicht mit dem rosigen Teint an die Gitterstangen lehnte und dessen merkwürdige Augen im Dämmerlicht des Sprechraums klar wie das Seewasser wirkten. Es lag etwas wie Mitleid in seiner Stimme, als er fragte:

»Und du, Angélique, was wirst du tun?«

Sie schüttelte ihr schweres, goldglänzendes Haar und antwortete gleichgültig, sie wisse es nicht.

Ein Jahr darauf wurde Angélique wiederum ins Sprechzimmer gerufen. Es war der kaum weißer gewordene alte Wilhelm, den sie dort vorfand. Seine unvermeidliche Lanze hatte er behutsam an die Wand der Zelle gelehnt.

Er sagte ihr, er sei gekommen, um sie abzuholen und nach Monteloup zurückzubringen. Sie hatte ihre Ausbildung abgeschlossen. Sie war ein fertiges junges Mädchen, und man hatte einen Mann für sie gefunden.

Baron de Sancé betrachtete seine Tochter Angélique mit unverhohlenem Wohlgefallen.