Nicolas folgte ihr auf seinem Maultier. Sie achtete nicht mehr auf den jungen Knecht. Sie bemühte sich indessen, nicht nach dem Grunde der Beklemmung zu forschen, die sie noch immer empfand. Ihr Entschluß war gefaßt. Was auch kommen mochte, sie würde nicht mehr umkehren. Da war es am vernünftigsten, vorwärts zu schauen und unbarmherzig alles von sich zu weisen, was sie bei der Durchführung jenes so raffiniert aufgestellten Programms wankelmütig machen könnte.

Plötzlich rief eine Männerstimme: »Mademoiselle Angélique!«

Mechanisch zog sie die Zügel an, und das Pferd, das seit ein paar Minuten langsam dahinschritt, blieb stehen. Als sie sich umwandte, sah sie, daß Nicolas abgestiegen war und ihr ein Zeichen gab, zu ihm zu kommen.

»Was gibt es?« fragte sie.

Geheimnistuerisch flüsterte er:

»Steigt ab, ich möchte Euch etwas zeigen.«

Sie gehorchte, und nachdem der Knecht die Zügel der beiden Tiere um den Stamm einer jungen Birke geschlungen hatte, trat er unter das Laubdach eines kleinen Gehölzes. Sie folgte ihm. Ein Buchfink sang unbekümmert im dichten Gebüsch.

Mit gesenkter Stirn schritt Nicolas dahin, während er aufmerksam umherschaute. Dann kniete er nieder, und als er sich wieder erhob, reichte er Angélique in den geöffneten Händen rote, duftende Früchte.

»Die ersten Erdbeeren«, murmelte er, und der Spott seines Lächelns entzündete eine Flamme in seinen dunkelbraunen Augen.

»O Nicolas, das ist nicht recht«, protestierte Angélique.

Aber in plötzlicher Rührung füllten sich ihre Augen mit Tränen, denn in dieser Geste lag der ganze Zauber ihrer Kindheit beschlossen, die er ihr zurückgab, der Zauber von Monteloup, die Streifzüge durch die Wälder, die Kühle der Wassergräben, zu denen Valentin sie mitnahm, die Bäche, in denen man Krebse fing, Monteloup, das keiner Stätte auf Erden glich, weil sich in ihm das süßduftende Mysterium des Moors mit dem herben der Wälder vereinigte .

»Du bist töricht«, sagte sie mit weicher Stimme. »Das solltest du nicht, Nicolas .«

Aber schon pickte sie auf altgewohnte Art die zarten und köstlichen Früchte aus seinen Händen. Er stand wie in alten Zeiten ganz dicht neben ihr, aber jetzt überragte sie der früher so hagere und behende Junge mit dem Eichhörnchengesicht um Haupteslänge, und sie spürte den bäuerlichen Geruch dieser sonnengebräunten und schwarzbehaarten Männerbrust, der aus seinem offenen Hemd drang. Sie sah diese kräftige Brust in langsamen Zügen atmen, und das verwirrte sie in solchem Maße, daß sie nicht mehr den Kopf zu heben wagte, denn sie war des kühnen und heißen Blicks allzu sicher, dem sie dann begegnen würde.

Sie kostete weiter die Erdbeeren, indem sie sich ganz dem Genuß hingab, und sie bedeuteten ihr unendlich viel.

»Das letztemal Monteloup«, sagte sie sich. »Das letztemal, daß ich es schmecke. Was es an Schönem für mich gegeben hat, liegt in diesen Händen beschlossen, in den braunen Händen von Nicolas.«

Als sie die letzte Frucht verzehrt hatte, schloß sie die Augen und lehnte ihren Kopf gegen den Stamm einer Eiche.

»Hör zu, Nicolas .«

»Ich höre dir zu«, erwiderte er.

Und sie spürte seinen heißen Atem, der nach Apfelmost roch, auf ihrer Wange. Er stand so nah, fast an sie gedrängt, daß er sie in seine massive Gegenwart einhüllte. Gleichwohl berührte er sie nicht, und plötzlich merkte sie, daß er die Hände hinter dem Rücken hielt, wie um der Versuchung aus dem Wege zu gehen, sie zu ergreifen, sie an sich zu pressen. Sie empfing den beängstigenden, jeden Lächelns baren und von einer Bitte verdüsterten Blick, die nur eine einzige Deutung zuließ. Nie hatte Angélique so die Begierde eines männlichen Wesens geweckt, nie hatte sie ein klareres Geständnis der Wünsche empfangen, die ihre Schönheit weckte. Die Liebelei des Pagen in Poitiers war nur ein Spiel gewesen, der Versuch eines jungen Raubtiers, das seine Krallen erproben will.

Dies hier war etwas anderes, es war machtvoll und hart, alt wie die Welt, wie die Erde, wie das Gewitter.

Das junge Mädchen in ihr erschauerte. Wäre sie erfahrener gewesen, so hätte sie einem solchen Ruf nicht widerstehen können. Ihre Beine zitterten, aber sie schrak zurück wie die Hündin vor dem Jäger. Das Ungekannte, das sie erwartete, und das verhaltene Ungestüm des Bauern flößten ihr Furcht ein. »Schau mich nicht so an, Nicolas«, sagte sie mit bemüht fester Stimme, »ich will dir sagen .«

»Ich weiß, was du mir sagen willst«, unterbrach er in dumpfem Ton. »Ich lese es von deinen Augen und von der Art ab, wie du den Kopf hochreißt. Du bist Baronesse Sancé, und ich bin ein Knecht ... Und nun sind die Zeiten vorüber, in denen wir einander ins Gesicht sahen. Mir geziemt es, den Kopf zu senken und >Sehr wohl, gnädiges Fräulein, jawohl, gnädiges Fräulein< zu sagen, während deine Augen über mich hinweggehen, ohne mich zu sehen . Nicht mehr als ein Stück Holz, weniger als ein Hund. So manche Marquise in ihrem Schloß läßt sich von ihrem Lakaien waschen, weil ja nichts dabei ist, wenn man sich vor einem Lakaien nackt zeigt ... Ein Lakai ist kein Mann, sondern ein Möbelstück, dessen man sich bedient. Ist das die Art, in der du mich jetzt behandeln wirst?«

»Schweig, Nicolas!«

»Jawohl, ich werde schweigen.«

Er atmete heftig, aber mit geschlossenem Mund wie ein krankes Tier.

»Ich will dir ein Letztes sagen, bevor ich schweige«, begann er von neuem, »nämlich, daß es nur dich in meinem Leben gab. Ich habe es erst begriffen, als du fortgingst, und ein paar Tage lang war ich wie irre. Es ist richtig, daß ich faul, daß ich ein Schürzenjäger bin und daß ich einen Widerwillen vor der Landarbeit und dem Vieh habe. Ich bin wie etwas, das nirgends daheim ist und ewig unschlüssig in der Welt herumirren wird. Mein einziges Daheim warst du. Als du zurückkamst, habe ich kaum erwarten können zu erfahren, ob du noch immer mir gehörst, ob ich dich verloren habe. Ja, ich bin dreist und hemmungslos, ja, wenn du nur willig gewesen wärst, hätte ich dich genommen, hier auf dem Moos, in diesem kleinen Gehölz, das uns gehört, auf dieser Erde von Monteloup, die uns gehört, uns beiden ganz allein wie einstmals«, schrie er.

Die verängstigten Vögel im Laubwerk waren verstummt.

»Du faselst, mein guter Nicolas«, sagte Angélique sanft.

»Keineswegs«, erwiderte der Mann, der unter seiner Sonnenbräune erblaßte.

Sie schüttelte ihr langes Haar, das sie noch offen trug, und eine Spur von Zorn stieg in ihr auf.

»Wie soll ich denn mit dir reden?« sagte sie. »Ob es mir paßt oder nicht, es steht mir nicht mehr an, den galanten Reden eines Hirten zuzuhören. Ich muß bald den Grafen Peyrac heiraten.«

»Den Grafen Peyrac!« wiederholte Nicolas verblüfft.

Er wich ein paar Schritte zurück und schaute sie schweigend an.

»Es ist also wahr, was man sich in der Gegend erzählt?« hauchte er. »Den Grafen Peyrac? Ihr! ... Ihr! Ihr werdet diesen Mann heiraten?«

»Ja.« Sie wollte keine Fragen stellen; sie hatte ja gesagt, das genügte. Sie würde bis zum Ende blind ja sagen.

Sie schlug den kleinen Pfad ein, der sie auf die Landstraße zurückbrachte, und ihre Reitpeitsche hieb ein wenig nervös die zarten Triebe am Wegrand ab. Das Pferd und das Maultier grasten einträchtig am Waldrand. Nicolas machte sie los. Mit gesenkten Augen half er Angélique in den Sattel. Plötzlich hielt sie die rauhe Hand des Knechtes fest.

»Nicolas ... sag mir, kennst du ihn?«

Er hob die Augen zu ihr auf, und sie sah eine böse Ironie in ihnen blitzen.

»Ja ... ich habe ihn gesehen ... Er ist oft in die Gegend gekommen. Er ist ein so häßlicher Mann, daß die Mädchen davonlaufen, wenn er auf seinem schwarzen Pferd vorbeireitet. Er hinkt wie der Leibhaftige und ist böse wie er . Man sagt, er ziehe die Frauen durch Liebestränke und seltsame Lieder in sein Schloß ... Diejenigen, die ihm folgen, sieht man nie wieder, oder sie werden verrückt ... Ha! Ha! Ha! Ein hübscher Gatte, Mademoiselle de Sancé!«

»Du sagst, er hinkt?« wiederholte Angélique, deren Hände erstarrten.

»Ja, er hinkt, er hinkt! Fragt, wen Ihr wollt, man wird Euch zur Antwort geben: das ist der Große Hinkefuß des Languedoc.«

Er lachte und ging zu seinem Maultier, wobei er das Hinken imitierte.

Angélique gab ihrem Pferd die Sporen und galoppierte davon. Zwischen den Weißdornhecken hindurch flüchtete sie vor der hohnlachenden Stimme, die immer wieder rief: »Er hinkt! Er hinkt!«

Sie erreichte den Schloßhof von Monteloup fast gleichzeitig mit einem Reiter, der hinter ihr über die alte Zugbrücke ritt. An seinem schweiß- und staubbedeckten Gesicht und seinen lederverstärkten Kniehosen erkannte man sofort, daß er ein Bote war.

Zuerst begriff niemand, was er wollte, denn sein Akzent war so ungewöhnlich, daß es einer gewissen Zeit bedurfte, bis man merkte, daß er Französisch sprach. Dem herbeieilenden Baron de Sancé übergab er ein Schreiben, das er einem kleinen eisernen Behälter entnommen hatte.

»Mein Gott, morgen kommt Monsieur d’Andijos«, rief der Baron höchst aufgeregt aus.

»Wer ist denn dieser Herr?« fragte Angélique.

»Ein Freund des Grafen. Monsieur d’Andijos soll dich ehelichen .«

»Was, der auch?«

». in Stellvertretung, Angélique. Laß mich meine Sätze vollenden, Kind. Potz Sakerment, wie dein Großvater zu sagen pflegte, ich möchte wissen, was die Nonnen dich gelehrt haben, wenn sie dir nicht einmal den Respekt beibrachten, den du mir schuldest. Graf Peyrac schickt seinen besten Freund, um sich von ihm bei der ersten Eheschließungszeremonie vertreten zu lassen, die hier in der Kapelle von Monteloup stattfinden wird. Die zweite Trauung wird in Toulouse erfolgen. Dieser wird deine Familie leider nicht beiwohnen können. Der Marquis de Valérac wird dir bis ins Languedoc das Geleit geben. Diese Leute aus dem Süden sind eilfertig. Ich wußte sie unterwegs, habe sie aber nicht so früh erwartet.«

»Ich sehe, es war höchste Zeit, daß ich ja gesagt habe«, murmelte Angélique bitter.

Am Tage darauf, kurz vor Mittag, füllte sich der Hof mit dem Lärm knarrender Kutschenräder, Pferdege-wieher, durchdringenden Rufen und lebhaftem Stimmengewirr.

Der Süden landete in Monteloup. Der Marquis d’Andijos, sehr braun, mit »Dolchspitzen«-Schnurr-bart und feurigen Augen, trug eine weite Kniehose aus gelber und orangefarbener Seide, die mit Grazie sein Lebemanns-Embonpoint verbarg.

Er stellte seine Gefährten vor, die Trauzeugen sein würden: den Grafen Carbon-Dorgerac und den kleinen Baron Cerbaland.

Man führte sie in den Speisesaal, wo die Familie de Sancé auf Bocktischen ihre besten Schätze ausgebreitet hatte: Wabenhonig, Obst, gestockte Milch, gebratene Gänse, Weine von Chaillé.

Die Ankömmlinge kamen vor Durst um. Doch nach dem ersten Schluck wandte sich der Marquis d’Andijos um und spuckte wohlgezielt auf die Fliesen.

»Beim heiligen Pankratius, Baron, Eure PoitouWeine ziehen mir den Mund zusammen. Was Ihr mir da eingeschenkt habt, ist ja ein teuflischer Krätzer. Heda, Gaskogner, bringt die Fäßchen!«

Seine ungeschminkte Art, sein singender Akzent, sein Knoblauchatem belustigten Baron de Sancé aufs höchste. All das weckte die Erinnerung an eine Zeit, in der selbst bei Hofe unter Edelleuten derbe Umgangsformen üblich gewesen waren. So hatte er in Poitiers mit eigenen Augen gesehen, wie der über das unschickliche Dekolleté einer jungen Dame schok-kierte König Ludwig XIII. ein ganzes Glas Rotwein über den Tisch hinweg in das »Weihwassergefäß des Teufels« spie. Während das arme überschwemmte Mädchen sich erhob, um in einem anstoßenden Raum in Ohnmacht zu sinken, hatte der Pater Vassaut, dieser verdammte Hofjesuit, mit ernster Miene erklärt, seiner Ansicht nach sei »dieser Busen diesen Schluck wert«[1]!

»Diese Geschichte kennen wir auswendig«, flüsterte die kleine Marie-Agnès, wobei sie Angélique mit dem Ellbogen anstieß. Aber das Mädchen hatte nicht die Kraft zu lächeln. Seit dem vorhergehenden Abend hatte sie sich mit Tante Pulchérie und der Amme dermaßen abgemüht, das alte Schloß in einen präsentablen Zustand zu versetzen, daß sie sich lahm und wie zerbrochen fühlte. So war es am besten: keine Kraft mehr zum Denken zu haben. Sie hatte ihr elegantestes, in Poitiers verfertigtes Kleid angetan, das wiederum grau, aber immerhin mit einigen kleinen blauen Schleifen auf dem Mieder versehen war: das graue Entchen unter den von bunten Bändern schillernden Edelleuten. Sie wußte nicht, daß ihr warmes Gesicht, fest und zart wie eine eben reif gewordene Frucht, das aus einem großen, steifen Spitzenkragen hervorblühte, allein schon ein blendender Schmuck war. Die Blicke der drei vornehmen Herren kehrten immer wieder zu ihr zurück - in einer Bewunderung, die ihr Temperament ihnen kaum zu verbergen gestattete. Sie begannen ihr zahlreiche Komplimente zu machen, die sie infolge ihrer raschen Sprechweise und wegen jenes unwahrscheinlichen Akzents, der auch das plumpste Wort adelte, nur zur Hälfte verstand.