Aber Valentin war ein schwer zu durchschauender Bursche. Von kräftigroter Gesichtsfarbe und für seine zwölf Jahre von geradezu herkulischer Größe, stummer als ein Karpfen, hatte er einen unsteten Blick, und die Leute, die auf den Müller neidisch waren, nannten ihn einen Halbidioten.

Nicolas, der gesprächige, immer zum Lachen aufgelegte Hirte, ging mit Angélique Pilze, Brombeeren und Heidelbeeren sammeln. Er schnitzte ihr Flöten aus Nußbaumholz.

Die beiden Jungen beobachteten in tödlicher Eifersucht Angéliques Gunstbezeigungen. Sie war bereits so hübsch, daß die Bauern sie als die lebendige Verkörperung der Feen betrachteten, die den riesigen Dolmen auf dem Hexenfeld bewohnten.

Seit einer Weile horchte der alte Baron in die Richtung des Hofs, aus dem Rufe heraufdrangen, mit dem Gegacker verängstigter Hühner vermischtes Geschrei. Dann hörte man hastige Schritte und schließlich noch heftigere Rufe in Wilhelms Akzent. Es war ein strahlender Herbstnachmittag, und alle übrigen Bewohner des Hauses schienen draußen zu sein.

»Habt keine Angst, Kinder«, sagte der Großvater, »es ist irgendein Bettler, den man verjagt.«

Aber schon war Angélique auf die Freitreppe gerannt und rief: »Vater Wilhelm wird angegriffen, man will ihm etwas antun!«

Der Baron humpelte eilig hinaus, um einen Säbel zu holen, und Gontran erschien mit einer Hundepeitsche. Als sie am Portal anlangten, fanden sie den alten, mit seiner Hellebarde bewaffneten Diener vor und Angélique an seiner Seite. Der Gegner war nicht allzu weit entfernt. Er stand außer Reichweite auf der anderen Seite der Zugbrücke, fürs erste abgewehrt, aber noch nicht in die Flucht geschlagen. Er war ein großer, ausgehungert wirkender Bursche, der recht wütend zu sein schien. Doch zu gleicher Zeit bemühte er sich um eine gemessene und dienstliche Haltung.

Sofort ließ Gontran die Peitsche sinken, zog seinen Großvater zurück und flüsterte ihm zu: »Es ist der Steuereintreiber. Man hat ihn schon ein paarmal fortgejagt ...«

Der so übel empfangene Beamte setzte zwar seinen Rückzug langsam fort, faßte aber angesichts des Zögerns der neu aufgetauchten Verstärkung frischen Mut. In respektvoller Entfernung blieb er schließlich stehen, zog eine vom Handgemenge ziemlich mitgenommene Schriftrolle aus der Tasche und rollte sie seufzend und liebevoll auf. Worauf er ein Mahnschreiben vorzulesen begann, demzufolge der Baron de Sancé unverzüglich eine Summe von 875 Livres, 19 Sols und 11 Deniers zu entrichten habe, nämlich rückständige Steuern für die Pachtbauern, den Zehnten der Einkünfte des Grundherrn, Gebühren für das Beschälen der Stuten, die »Staubabgabe« für die Benutzung der königlichen Landstraßen durch Viehherden und Buße wegen verspäteter Zahlung.

Der alte Baron wurde rot vor Zorn. »Du bildest dir wohl ein, du Laffe, ein Edelmann habe diesem Nimmersatt von Fiskus etwas zu zahlen wie ein gewöhnlicher Bürgerlicher!« schrie er wütend.

»Ihr wißt sehr wohl, daß Euer Herr Sohn bisher die jährlichen Abgaben einigermaßen regelmäßig geleistet hat«, sagte der Mann, wobei er seine Reverenz machte. »Ich werde daher wiederkommen, wenn er zugegen ist. Doch ich warne Euch: Wenn er morgen zu gleicher Stunde zum viertenmal nicht da ist und nicht bezahlt, so pfände ich ihn, und man wird Euer Schloß und all Eure Möbel verkaufen.«

»Scher dich fort, du Lakai der Staatswucherer!«

»Herr Baron, ich mache Euch darauf aufmerksam,

daß ich ein vereidigter Diener des Gesetzes bin und auch zum Vollstreckungsbeamten bestimmt werden kann.«

»Zur Vollstreckung bedarf es eines Urteils!« donnerte der alte Junker.

»Euer Urteil werdet Ihr unfehlbar bekommen, glaubt es mir, falls Ihr nicht bezahlt .«

»Wie sollen wir denn zahlen, wenn wir nichts haben!« rief Gontran, da er merkte, daß der Greis ängstlich wurde. »Ihr seid ja Gerichtsvollzieher - kommt nur herein, dann werdet Ihr sehen, daß die Schnapp-hähne abermals einen Hengst, zwei Eselinnen und vier Kühe geraubt haben und daß der größte Teil der Summe, die Ihr für fällig erklärt, aus den Abgaben der Pächter meines Vaters besteht. Er war bisher bereit, für sie zu zahlen, weil diese armen Bauern es nicht konnten, aber er ist nicht dazu verpflichtet. Im übrigen haben unsere Bauern beim letzten Überfall im Verhältnis noch mehr gelitten als wir, und begreiflicherweise kann mein Vater nach dieser Plünderung Eure Forderung nicht begleichen .«

Der Beamte ließ sich durch vernünftige Worte eher besänftigen als durch die Beleidigungen des alten Edelmanns. Während er mißtrauische Blicke auf Wilhelm warf, näherte er sich ein wenig und erklärte in sanfterem und fast mitleidigem, aber bestimmtem Ton, er könne nur die von der Fiskal Verwaltung empfangenen Anweisungen übermitteln. Die einzige Möglichkeit, die Pfändung hinauszuzögern, sei nach seiner Ansicht, daß der Baron ein Gesuch an den Provinzialintendanten nach Poitiers richte.

»Unter uns«, fügte der Gerichtsbeamte hinzu - ein Ausdruck, der dem alten Baron eine Grimasse des Ekels entlockte -, »unter uns möchte ich Euch sagen, daß meine direkten Vorgesetzten nicht befugt sind, Euch Nachlaß oder Befreiung zu gewähren. Da Ihr aber dem Adelsstand angehört, werdet Ihr sicherlich sehr hochgestellte Persönlichkeiten kennen. Drum nehmt meinen freundschaftlichen Rat an und handelt entsprechend!«

»Es liegt mir nicht im Sinn, Euch als meinen Freund zu bezeichnen!« bemerkte Baron de Ridouët scharf.

»Ich habe das gesagt, damit Ihr es Euerm Herrn Sohn wiederholt. Alle Welt lebt ja im Elend! Glaubt Ihr, es macht mir Vergnügen, auf jedermann wie ein Schreckgespenst zu wirken und überall mehr Fußtritte einzuheimsen als ein räudiger Hund? Damit Gott befohlen und nichts für ungut!«

Er setzte seinen Hut wieder auf und ging humpelnd davon, wobei er bekümmert den beim Geraufe zerrissenen Ärmel seines Uniformrocks untersuchte.

In entgegengesetzter Richtung entfernte sich, ebenfalls humpelnd, der alte Baron. Ihm folgten wortlos Gontran und Angélique.

In den Salon zurückgekehrt, begann der Großvater auf und ab zu gehen, und die Kinder wagten lange nicht zu reden. Endlich erklang die Stimme des Mädchens im abendlichen Dämmerlicht.

»Sag, Großvater, wenn die Räuber uns unsern ehrlichen Namen gelassen haben, hat ihn jetzt eben dieser schwarze Kerl nicht mit sich fortgenommen?«