Angélique, die zwischen dem Erzbischof und dem roten Manne saß und nicht fähig war, etwas zu sich zu nehmen, sah eine Unmenge von Gerichten vorüberziehen. Erstarrt in Beklemmung und Groll, fühlte sie sich von all dem Lärm und Überfluß erschöpft. Ihr angeborener Stolz verbot ihr, es zu zeigen, und sie lächelte und fand für jeden ein liebenswürdiges Wort. Nur war sie unfähig, sich dem Grafen Peyrac zuzuwenden, und obwohl sie sich ihres bizarren Verhaltens bewußt war, konzentrierte sie ihre Aufmerksamkeit auf ihren andern Nachbarn, den Erzbischof. Dieser war ein sehr schöner Mann in der Blüte der Vierzigerjahre. Er besaß viel Salbung, weltliche Grazie und sehr kalte blaue Augen. Als einziger der Versammelten schien er an der allgemeinen Munterkeit nicht teilzunehmen.

»Welche Verschwendung! Welche Verschwendung!« seufzte er, indem er um sich blickte. »Wenn ich an all die Armen denke, die sich täglich am Tor des erzbischöflichen Palastes drängen, an die Kranken ohne Pflege, an die Kinder in den Ketzerdörfern, die man mangels Geld nicht ihrem Unglauben entreißen kann, dann zieht sich mir das Herz zusammen. Seid Ihr den frommen Werken zugetan, meine Tochter?«

»Ich komme eben erst aus dem Kloster, Eminenz. Aber ich wäre glücklich, wenn ich mich unter Eurer Leitung meiner Parochie widmen dürfte.«

Er senkte seinen klaren Blick auf sie und verzog sein Gesicht zu einem winzigen Lächeln.

»Ich danke Euch für Eure Fügsamkeit, meine Tochter. Aber ich weiß, wie sehr das Leben einer jungen Hausherrin von Neuartigem erfüllt ist, das ihre ganze Aufmerksamkeit beansprucht. Ich werde Euch ihm daher nicht entziehen, solange Ihr nicht den Wunsch danach äußert. Liegt nicht die größte Leistung einer Frau in dem Einfluß, den sie auf den Geist ihres Gatten nehmen soll? Eine liebende, geschickte Frau vermag heutigentags alles über ihren Gatten.«

Er neigte sich ihr zu, und die Edelsteine seines Bischofskreuzes leuchteten auf.

»Eine Frau vermag alles«, wiederholte er, »aber unter uns gesagt, Madame, Ihr habt Euch einen recht merkwürdigen Gatten erwählt .«

»Ich habe erwählt«, dachte Angélique ironisch. »Hat mein Vater ein einziges Mal diesen gräßlichen Hampelmann gesehen? Ich bezweifle es. Vater hat mich auf richtig geliebt. Um nichts in der Welt hätte er mein Unglück verursachen wollen. Aber seine Augen sahen mich reich; ich selbst sah mich geliebt. Schwester Sainte-Anne würde wieder einmal predigen, man dürfe nicht romantisch sein ... Ich werde die ganze Nacht tanzen, aber auf gar keinen Fall bleibe ich auch nur einen Augenblick mit ihm allein .«

Nervös warf sie einen Blick auf ihren Gatten. Jedesmal, wenn sie ihn anschaute, wurde ihr vor dem narbigen Gesicht, in dem zwei kohlschwarze Augäpfel glänzten, übel. Das linke Lid, das infolge der Narbe halbgeschlossen war, gab ihm einen ironischbösen Ausdruck.

In seinen Polstersessel zurückgelehnt, hatte der Graf Peyrac eben einen kleinen, braunen Stab zum Munde geführt. Ein Diener eilte herbei und hielt eine Zange mit einer glühenden Kohle an das Ende des Stäbchens.

»Ach, Graf, Ihr gebt ein beklagenswertes Beispiel!« rief der Erzbischof mit gerunzelter Stirn aus. »Ich finde, der Tabak ist die Nachspeise der Hölle. Daß man ihn in Pulverform zur Pflege der Hirnflüssigkeit und auf Rat der Ärzte gebraucht, kann ich bereits nur unwillig billigen, denn die Schnupfer scheinen mir daran ein ungesundes Vergnügen zu finden und berufen sich allzu häufig auf ihre Gesundheit, um bei jeder Gelegenheit Tabak zu reiben. Doch die Pfeifenraucher sind der Abschaum unserer Schenken, in denen sie beim Qualm dieser unseligen Pflanze stundenlang vor sich hin dösen. Bis heute habe ich noch nicht gewußt, daß auch ein Edelmann Tabak in dieser groben Form genießt.«

»Ich habe keine Pfeife, und ich schnupfe nicht. Ich rauche das gerollte Blatt, wie ich es gewisse Eingeborene in Amerika habe tun sehen. Niemand kann mir vorwerfen, ich sei gewöhnlich wie ein Musketier oder geziert wie ein Stutzer bei Hof .«

»Wenn man eine Sache auf zwei Arten machen kann, müßt Ihr immer noch eine dritte finden«, sagte der Erzbischof aufgeräumt. »So stelle ich im Augenblick bei Euch eine weitere besondere Gewohnheit fest. Ihr tut in Euer Glas weder Krötenstein noch ein Stück Horn vom Einhorn. Dabei weiß jeder, daß dies die beiden besten Mittel sind, um dem Gift zu entgehen, das eine übelgesinnte Hand jederzeit in Euren Wein gießen kann. Selbst Eure junge Frau hat diesem klugen Brauch gehuldigt. Der Krötenstein und das Horn des Einhorns verändern nämlich ihre Farbe, wenn sie in Berührung mit gefährlichen Getränken kommen. Nun, Ihr gebraucht sie nie. Glaubt Ihr, unverwundbar zu sein ... oder ohne Feinde?« fügte er mit einem Blick hinzu, dessen Funkeln Angélique beeindruckte.

»Nein, Eminenz«, erwiderte Graf Peyrac, »ich finde nur, man schützt sich am besten vor Gift, indem man nichts in sein Glas und alles in seinen Körper tut.«

»Was meint Ihr damit?«

»Dieses: Nehmt tagtäglich eine winzige Dosis irgendeines gefährlichen Giftes zu Euch.«

»Ihr tut das?« rief der Erzbischof entsetzt aus.

»Seit frühester Jugend, Eminenz. Ihr wißt wohl, daß mein Vater das Opfer eines gewissen florentinischen Tranks wurde, und gleichwohl war der Krötenstein, den er in sein Glas tat, so groß wie ein Taubenei. Meine Mutter, eine vorurteilsfreie Frau, suchte nach dem wirklichen verläßlichen Mittel, um mich zu schützen. Von einem nach Narbonne verschlagenen maurischen Sklaven lernte sie die Methode, wie man sich durch Gift vor dem Gift schützt.«

»Wozu sich einer Methode bedienen, für deren Wirksamkeit Ihr keine Gewähr habt, während die andern sich als brauchbar erwiesen haben? Natürlich muß man echten Krötenstein und echtes Horn vom Einhorn besitzen. Allzu viele Scharlatane handeln mit diesen Gegenständen und verkaufen ich weiß nicht was an ihrer Stelle.«

Graf Peyrac beugte sich ein wenig vor, um den Erzbischof anzusehen, und bei dieser Bewegung streiften seine üppigen schwarzen Locken Angéliques Hand, die zurückwich. In diesem Augenblick erkannte sie, daß ihr Gatte keine Perücke trug und daß dieses Haargebilde echt war.

»Ich möchte zu gern wissen«, sagte der Edelmann, »wie man sie sich selbst verschaffen kann. Als Kind habe ich unzählige Kröten getötet. Nie fand ich in ihrem Hirn den berühmten Schutzstein, den man Krötenstein nennt, und den man angeblich dort finden soll. Was das Horn des Einhorns betrifft, so will ich Euch verraten, daß ich die ganze Welt durchreist habe und dabei zu einem Schluß gekommen bin. Das Einhorn ist ein Fabeltier, ein Phantasiegebilde, kurz, ein Tier, das es nicht gibt.«

»Diese Dinge lassen sich nicht beweisen. Man soll die Rätsel auf sich beruhen lassen und nicht vorgeben, alles zu wissen.«

»Was mir ein Rätsel bedeutet«, sagte der Graf ruhig, »das ist, wie ein Mann von Eurer Intelligenz solchen Unsinn reden kann.«

»Mein Gott«, dachte Angélique, »ich habe noch nie erlebt, daß ein hoher Geistlicher so grob behandelt worden wäre!«

Sie starrte abwechselnd die beiden Männer an, deren Blicke einander herausfordernd begegneten.

Ihr Gatte schien ihre Erregung zu bemerken.

»Vergebt uns, Madame, daß wir in Eurer Gegenwart auf solche Weise streiten. Seine Eminenz und ich sind intime Feinde!«

»Kein Mensch ist mein Feind!« rief der Erzbischof empört aus. »Wo bliebe sonst die christliche Nächstenliebe, die im Herzen eines Dieners Gottes leben soll? Wenn Ihr mich haßt, so hasse ich Euch jedenfalls nicht. Aber ich empfinde für Euch den Kummer des Hirten um das verirrte Schaf. Und wenn Ihr nicht auf meine Worte hört, so werde ich die Spreu vom Weizen zu scheiden wissen.«

»Aha!« rief der Graf mit einem beängstigenden Lachen. »Da spricht der Nachfahre jenes Bischofs Foulques de Neuilly, der rechten Hand des schrecklichen Simon de Montfort, der die Scheiterhaufen der Albigenser errichtete und die köstliche Kultur Aquitaniens in Asche verwandelte. Das Languedoc jammert heute noch, nach vier Jahrhunderten, um seine im Namen Christi zerstörten Herrlichkeiten und zittert beim Anhören der beschriebenen Greuel. Mich, der ich aus ältestem toulousanischem Geschlecht bin, der ich ligurisches und westgotisches Blut in meinen Adern habe, mich durchschauert es, wenn mein Blick Euren nordischen blauen Augen begegnet. Nachfahre des Foulques, Nachfahre der rauhen Barbaren, die uns das Sektierertum und die Intoleranz gebracht haben, das ist es, was ich in Euern Augen lese.«

»Meine Familie ist eine der ältesten des Languedoc«, dröhnte der Bischof, indem er sich halb erhob. Und in diesem Augenblick machte ihn sein südlicher Dialekt für Angéliques Ohren fast unverständlich. »Ihr wißt genau, Ihr schamloses Ungeheuer, daß die Hälfte von Toulouse mein Erbeigentum ist. Seit Jahrhunderten sind unsere Lehnsrechte toulousanisch.«

»Seit vier Jahrhunderten! Seit knapp vier Jahrhunderten!« berichtigte Joffrey de Peyrac, der ebenfalls aufgesprungen war. »Ihr seid in den Troßwagen des Simon de Montfort mit den vermaledeiten Kreuzfahrern gekommen. Ihr seid der Eindringling! Nordmann! Nordmann! Was tut Ihr an meinem Tisch?«

Die entsetzte Angélique begann schon zu fürchten, das Wortgefecht werde in einen allgemeinen Tumult ausarten, als die übrigen Gäste bei den letzten Worten des Grafen plötzlich in schallendes Gelächter ausbrachen. Das Lächeln des Bischofs war weniger ehrlich. Als sich jedoch der mächtige Körper Joffrey de Peyracs mit Vergebung heischender Geste schwerfällig vor dem Kirchenfürsten verneigte, bot dieser den Gästen huldvoll seinen Bischofsring zum Kusse dar.

Angélique war zu bestürzt, um in den lösenden Überschwang einstimmen zu können. Die Worte, die sich die beiden Männer gegenseitig an den Kopf geworfen hatten, waren keineswegs harmlos gewesen, aber tatsächlich ist für die Leute aus dem Süden das Lachen häufig der Auftakt zu den finstersten Tragödien. Mit einem Male fühlte sich Angélique in den Zustand leidenschaftlicher Gespanntheit zurückversetzt, in dem sie dank der Amme Fantine ihre Jugend verbracht hatte. So würde sie sich in dieser impulsiven Gesellschaft nicht fremd fühlen.

»Stört Euch der Tabakrauch, Madame?« fragte unvermittelt der Graf, indem er sich ihr zuwandte und ihrem Blick zu begegnen versuchte.

Sie schüttelte verneinend den Kopf. Der scharfe Geruch des Tabaks verstärkte ihre Melancholie und beschwor das Bild des alten Wilhelm im Herdwinkel und der großen Küche von Monteloup.

Auf den Rasenflächen begannen Violinen zu spielen. Obwohl sie sterbensmüde war, nahm Angélique bereitwillig die Aufforderung des Marquis d’Andijos an. Die Tänzer hatten sich auf einem großen, gepflasterten Hof versammelt, wo ein Springbrunnen Kühle verbreitete. Im Kloster hatte Angélique genügend modische Schritte erlernt, um zwischen den vornehmen Herren und Damen, von denen die meisten häufig zu längerem Aufenthalt nach Paris reisten, nicht in Verlegenheit zu geraten. Es war das erstemal, daß sie auf einem richtigen Fest tanzte, und sie begann eben Geschmack daran zu finden, als am Rande des Hofes eine Bewegung entstand. Die Paare mußten einer Menge Platz machen, die zur Stätte des Banketts drängte. Die Tänzer protestierten, doch jemand rief: »Er wird singen!« Andere wiederholten: »Die Goldene Stimme! Die Goldene Stimme des Königreichs ...!«

In diesem Augenblick legte sich leise eine Hand auf Angéliques Arm.