Es war ein ziemlich hochgewachsener Mann von ungefähr fünfunddreißig Jahren. Er redete zuerst italienisch, ging dann zum Lateinischen über, das Angélique schlecht verstand, und drückte sich schließlich auf deutsch aus. In dieser Sprache, die Angélique vertraut war, stellte der Graf den Reisenden vor.
»Professor Bernalli aus Genf erweist mir die große Ehre hierherzukommen, um mit mir wissenschaftliche Probleme zu diskutieren, die seit vielen Jahren Gegenstand eines regen Briefwechsels zwischen uns sind.«
Der Fremde verbeugte sich mit typisch italienischer Galanterie und erging sich in Protesten. Er werde gewiß mit seinen abstrakten Reden und seinen Formeln einer bezaubernden Dame lästig fallen, deren Sorgen vermutlich von weniger gewichtiger Art seien.
Halb aus Trotz, halb aus wirklicher Neugier bat Angélique, ihrer Diskussion beiwohnen zu dürfen. Um sie indessen nicht zu stören, setzte sie sich in die Nische eines hohen, nach dem Hofe geöffneten Fensters.
Es war Winter, aber es herrschte eine trockene Kälte, und die Sonne strahlte noch immer. Aus den Höfen drang der Geruch der kupfernen Kohlenbecken herauf, an denen sich die Diener wärmten.
Angélique, eine Stickerei in der Hand, lauschte dem Gespräch der beiden Männer, die sich am Kamin, in dem ein spärliches Holzfeuer brannte, einander gegenübergesetzt hatten. Ihren Worten entnahm sie, daß der Ankömmling überzeugter Anhänger eines gewissen Descartes war, den ihr Gatte jedoch heftig bekämpfte.
In einer seiner bevorzugten Posen lässig im Polstersessel zurückgelehnt, wirkte Joffrey de Peyrac kaum ernsthafter, als wenn er sich mit den Damen über Reime eines Sonetts unterhielt. Seine ungezwungene Haltung stand im Kontrast zu der seines Gesprächspartners, der, leidenschaftlich erregt durch ihren Dialog, steif auf dem Rande seines Schemels saß.
»Euer Descartes ist zweifellos ein Genie«, sagte der Graf, »aber seine Theorien strotzen von in die Augen springenden Irrtümern. Nehmen wir, wenn Ihr wollt, das Prinzip der Gravitation, das heißt der gegenseitigen Anziehung der Körper, und im speziellen des Falls der Körper auf die Erde. Descartes behauptet, wenn ein Körper an einen andern stoße, setze er ihn nur dann in Bewegung, wenn seine Masse größer sei als die des andern. Eine Kugel aus Kork, die an eine Kugel aus Gußeisen stoße, könne diese also nicht verrücken.«
»Das ist doch vollkommen evident. Und erlaubt mir, die Formulierung von Descartes zu zitieren: >Die arithmetische Summe der in Bewegung befindlichen Quantitäten der verschiedenen Teile des Universums bleibt konstante«
»Nein«, rief Joffrey de Peyrac und stand so brüsk auf, daß Angélique zusammenfuhr. »Nein, das ist eine trügerische Evidenz, und Descartes hat es nicht experimentell bewiesen. Um seinen Irrtum zu gewahren, hätte er nur mit der Pistole eine Bleikugel vom Gewicht einer Unze auf eine mehr als zweipfündige Kugel aus zusammengeballtem Papier abzuschießen brauchen. Die Papierkugel wäre aus ihrer Lage gebracht worden.«
Bernalli schaute den Grafen verblüfft an.
»Ich gestehe, daß Ihr mich verwirrt. Aber ist Euer Beispiel gut gewählt? Vielleicht tritt bei diesem Experiment mit dem Pistolenschuß ein neues Moment hinzu? Wie soll ich es nennen: die Gewalt, die Kraft .«
»Es ist ganz einfach das Moment der Geschwindigkeit. Aber es ist für das Schießen nicht spezifisch. Jedesmal, wenn ein Körper von der Stelle gerückt wird, tritt dieses Moment in Wirksamkeit. Was Descartes die Quantität der Bewegung nennt, ist das Gesetz der Geschwindigkeit und nicht eine arithmetische Summierung der Dinge.«
Bernalli hielt die Faust an die Lippen und dachte nach.
»Ich habe mir das alles bereits überlegt und auch mit Descartes selbst darüber diskutiert, als ich ihn in Den Haag traf, bevor er nach Schweden aufbrach, wo er ja leider gestorben ist. Wißt Ihr, was er mir erwidert hat? Er hat mir erklärt, dieses Gesetz der Anziehung müsse abgelehnt werden, weil >etwas Okkultes< an ihm sei und es a priori ketzerisch und suspekt erscheine.«
Graf Peyrac brach in schallendes Gelächter aus.
»Descartes wollte die Pension nicht verlieren, die Mazarin ihm bewilligt hat. Er erinnerte sich vermutlich des armen Galilei, der unter den Foltern der Inquisition seine hetzerische Theorie von der Bewegung der Erde< widerrufen mußte und später mit dem Seufzer >Und sie bewegt sich doch!< starb. Descartes hat sich zwar in der reinen Mathematik als ein Genie erwiesen, aber auf dem Gebiet der Dynamik und der allgemeinen Physik hat er nichts Entsprechendes geleistet. Seine Experimente im Zusammenhang mit dem Fallgesetz der Körper, falls er überhaupt je ernsthaft welche angestellt hat, sind embryonal. Er hätte, um sie zu vervollständigen, eine erstaunliche, aber nach meinem Dafürhalten nachweisbare Tatsache berücksichtigen müssen: nämlich, daß die Luft nicht leer ist.«
»Was wollt Ihr damit sagen? Eure Paradoxa verblüffen mich!«
»Ich behaupte, daß die Luft, in der wir uns bewegen, in Wirklichkeit nur ein spezifisch schweres Element ist, etwa wie das Wasser, das die Fische einatmen: ein Element von einer gewissen Elastizität, einer gewissen Widerstandskraft, kurz, ein für unsere Augen unsichtbares, aber echtes Element.«
»Ihr erschreckt mich«, wiederholte der Italiener.
Er stand auf und tat einige erregte Schritte durch den Raum. Dann blieb er stehen, schnappte ein paarmal wie ein Fisch nach Luft, schüttelte den Kopf und setzte sich wieder an den Kamin.
»Ich bin versucht, Euch für einen Narren zu halten, und dennoch ist da etwas in mir, das Euch zustimmt. Eure Theorie könnte der Schlußstein meiner Forschungen auf dem Gebiet der in Bewegung befindlichen Flüssigkeiten sein. Ach, ich bedauere es nicht, diese gefährliche Reise unternommen zu haben, die mir das große Vergnügen verschafft, mich mit einem großen Gelehrten unseres Jahrhunderts unterhalten zu können. Aber seht Euch vor, mein Freund: Wenn man mich, dessen Worte nie die Kühnheit der Eurigen erreichten, als Ketzer bezeichnet und zwingt, in die Schweiz zu flüchten, was wird dann aus Euch werden?«
»Pah!« sagte der Graf. »Ich suche niemanden zu überzeugen, es sei denn, es handle sich um Geister, die mit der Wissenschaft vertraut sind und mich verstehen können. Ich habe nicht einmal den Ehrgeiz, das Ergebnis meiner Arbeiten niederzuschreiben und zu veröffentlichen. Ich gebe mich ihnen zum Vergnügen hin, so wie es mir Vergnügen macht, mit liebenswürdigen Damen ein paar Verse zu schmieden. Ich lebe friedlich in meinem toulousanischen Palais - wer sollte da mit mir Händel suchen?«
»Das Auge der Macht ist überall«, meinte Bernalli, indem er ernüchtert um sich blickte.
Im gleichen Augenblick nahm Angélique ganz in ihrer Nähe ein sehr schwaches Geräusch wahr, und es kam ihr vor, als habe sich ein Türvorhang bewegt. Eine leichte Beklemmung überkam sie. Von da an folgte sie nur noch zerstreut dem Gespräch der beiden Männer. Ihr Blick war unbewußt auf das Gesicht Joffrey de Peyracs gerichtet. Das Zwielicht der winterlich frühen Dämmerung milderte die verunstalteten Züge des Edelmannes, und nur die dunklen, leidenschaftlich glühenden Augen, die blitzenden Zähne beim Lächeln, mit dem er ungezwungen noch seine ernstesten Worte begleitete, drängten sich auf. Angéliques Herz wurde von Unruhe erfaßt.
Als Bernalli sich zurückgezogen hatte, um sich vor Tisch zurechtzumachen, schloß Angélique das Fenster. Diener stellten Leuchter auf die Tische, während eine Magd das Feuer schürte.
Joffrey de Peyrac stand auf und näherte sich der Fensternische, in der seine Frau sich aufhielt.
»Ihr seid recht schweigsam, Liebste. Freilich ist das Eure Art. Seid Ihr bei unserem Gerede eingeschlafen?«
»Nein, im Gegenteil, ich habe höchst interessiert gelauscht«, sagte Angélique ruhig - und zum erstenmal wich ihr Blick dem ihres Gatten nicht aus. »Ich behaupte nicht, alles verstanden zu haben, aber ich will Euch gestehen, daß mir diese Art von Diskussionen mehr behagt als die Verse jener Damen oder ihrer Pagen.«
Der Mann stellte einen Fuß auf die Stufe der Nische und beugte sich vor, um Angélique forschend anzublicken.
»Ihr seid eine seltsame kleine Frau. Ich glaube, Ihr beginnt zahm zu werden, aber Ihr setzt mich noch immer in Erstaunen. Ich habe gar viele verschiedene Mittel der Verführung angewandt, um die Frau zu erobern, die ich begehrte, aber ich bin noch nie darauf gekommen, es mit der Mathematik zu versuchen.«
Angélique konnte sich eines Lächelns nicht erwehren, während ihr die Röte ins Gesicht stieg. Sie senkte leicht verschämt die Augen über ihre Handarbeit. Um das Thema zu wechseln, fragte sie:
»Es sind also physikalische Experimente, denen Ihr Euch in jenem mysteriösen Laboratorium widmet, das Kouassi-Ba so eifersüchtig bewacht?«
»Ja und nein. Ich habe wohl einige Meßgeräte, aber mein Laboratorium dient mir vor allem für chemische Untersuchungen von Metallen wie Gold und Silber.«
»Alchimie«, sagte Angélique bewegt, und das Schloß des Gilles de Retz tauchte vor ihren Augen auf. »Weshalb wollt Ihr noch mehr Gold und Silber?« fragte sie plötzlich in leidenschaftlichem Ton. »Man möchte meinen, Ihr sucht es überall, nicht nur in Euerm Laboratorium, sondern in Spanien, in England und selbst in jenem kleinen Bleibergwerk, das meine Familie in Poitou besaß ... Und Molines hat mir gesagt, Ihr hättet auch ein Goldbergwerk in den Pyrenäen. Wozu wollt Ihr soviel Gold?«
»Man braucht viel Gold und Silber, um unabhängig zu sein, Madame. >Wenn man sich der Liebe hingeben will, darf man keine materiellen Sorgen haben<,
sagt Meister André de Chapelain zu Beginn seiner Abhandlung über die Kunst des Liebens.«
»Glaubt nicht, daß Ihr mich mit Geschenken und Reichtümern gewinnen werdet«, sagte Angélique kühl.
»Ich glaube gar nichts, mein Herz. Ich warte auf Euch. Ich seufze. Jeder Liebhaber soll in Gegenwart seiner Geliebten erbleichen.< Ich erbleiche. Findet Ihr, daß ich nicht genügend erbleiche? Ich weiß sehr wohl, daß den Troubadours anempfohlen wird, vor ihrer Dame in die Knie zu sinken, aber das ist eine Bewegung, zu der mein Bein sich nicht entschließen kann. Ich bitte darob um Vergebung. Oh, seid versichert, daß ich wie Bernard de Ventadour, der göttliche Poet, sagen kann: >Die Liebesqualen, die mir diese Schöne verursacht, deren ergebener Sklave ich bin, werden meinen Tod herbeiführen!< Ich sterbe, Madame.«
Angélique schüttelte lachend den Kopf.
»Ich glaube Euch nicht. Ihr seht nicht so aus, als ob Ihr sterben würdet ... Ihr schließt Euch in Euer Laboratorium ein, oder Ihr sucht die Häuser gewisser toulousanischer Damen auf, um ihnen bei ihren poetischen Bemühungen beizustehen!«
»Vermißt Ihr mich etwa, Madame?«
Sie zögerte mit einem Lächeln auf den Lippen, da sie den spielerischen Ton wahren wollte.
»Zerstreut zu werden, das ist es, was ich vermisse, und Ihr seid die personifizierte Zerstreuung und Abwechslung.«
Und sie nahm ihre Arbeit wieder auf. Sie wußte nicht, ob sie den Ausdruck liebte oder haßte, mit dem Joffrey de Peyrac sie zuweilen bei ihren spaßhaften Streitgesprächen anschaute.
Plötzlich verloren seine Worte ihren ironischen Unterton, und in den Pausen des Schweigens hatte sie den Eindruck, unter einem seltsamen Zwang zu stehen, der sie einhüllte, verbrannte. Sie fühlte sich nackt, ihre kleinen Brüste strafften sich unter den Spitzen ihres Mieders. Sie hatte das Bedürfnis, die Augen zu schließen.
»Er nützt es aus, daß mein Mißtrauen eingeschläfert ist, um seine Zaubermittel an mir auszuprobieren«, sagte sie sich an diesem Abend mit einem kleinen Schauder der Bangigkeit und der Lust.
Joffrey de Peyrac zog die Frauen an. Sie konnte es nicht leugnen, und was in den ersten Tagen für sie Anlaß zur Verblüffung gewesen war, wurde ihr allmählich verständlich. Er brauchte nur zu erscheinen, und ein Fieberstrom durchlief die weibliche Versammlung. Er wußte, wie man mit Frauen sprach. Der beißende wie der sanfte Ton stand ihm zur Verfügung, er verstand sich auf die Worte, die in derjenigen, an die sie sich richteten, den Eindruck erwecken, vor allen andern ausgezeichnet zu werden. Angélique bäumte sich wie ein widerspenstiges Pferd unter der einschmeichelnden Stimme. Schwindel erfaßte sie, als ihr die Worte der Amme einfielen: »Er zieht die Frauen durch absonderliche Lieder an .«
Als Bernalli wieder eintrat, erhob sich Angélique, um ihm entgegenzugehen. Sie streifte den Grafen Peyrac und bedauerte plötzlich, daß dessen Hand sich nicht ausgestreckt hatte, um sie um die Hüfte zu fassen.
Ein hysterisches Lachen hallte durch die verlassene Galerie.
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