Angélique blieb stehen und schaute umher. Das Lachen klang fort, stieg bis zu den spitzesten Tönen hinauf, fiel zu einer Art Schluchzer hinab, um abermals aufzusteigen. Es war eine Frau, die lachte. Angélique sah sie nicht. Dieser Flügel des Palastes, den sie zu mittäglich warmer Stunde aufsuchte, war sehr still. Die erste Hitze des April lag lähmend über dem Haus. Die Pagen schliefen auf den Treppen. Angélique, die keine Mittagsruhe zu halten pflegte, hatte sich vorgenommen, einen Rundgang durch ihr Heim zu machen, dessen Winkel sie noch nicht alle kannte. Der Treppen, Säle, von Loggien unterbrochenen Gänge waren unzählige. Durch die Fenster und Luken erblickte man die Stadt, ihre hohen Kirchtürme mit den von Himmelsblau erfüllten Öffnungen, die breiten, roten Dämme am Ufer der Garonne.
Alles schlief. Angéliques langer Rock verursachte ein Geräusch auf den Fliesen, das wie Blätterrauschen klang.
Mit einem Male war dieses durchdringende Lachen aufgeklungen. Die junge Frau entdeckte am Ende der Galerie eine halbgeöffnete Tür. Es gab ein Geräusch wie von verschüttetem Wasser, und das Lachen brach jäh ab. Eine Männerstimme sagte:
»Jetzt, da Ihr Euch beruhigt habt, werde ich Euch anhören.«
Es war die Stimme Joffrey de Peyracs.
Angélique näherte sich leise der Tür und spähte durch den Spalt. Ihr Gatte saß auf einem Sessel. Sie sah nur die Rückenlehne und eine seiner Hände, die auf der Armstütze ruhte und eins jener Tabakstäbchen hielt, die er Zigarre nannte.
Vor ihm kniete in einer Wasserlache eine sehr schöne Frau, die Angélique nicht kannte. Sie trug ein prächtiges schwarzes Kleid, war aber offensichtlich bis auf die Haut durchnäßt. Neben ihr ließ ein leerer bronzener Kübel eindeutig erkennen, was mit seinem Inhalt geschehen war, der für gewöhnlich zum Kühlen der Weinflaschen diente.
Die Frau, der die langen schwarzen Haare an den Schläfen klebten, schaute verstört auf die aufgeweichten Spitzen an ihren Handgelenken.
»Mich«, rief sie mit erstickter Stimme aus, »mich wagt Ihr so zu behandeln?«
»Es mußte sein, meine Schöne«, erwiderte Joffrey in sanft vorwurfsvollem Ton. »Ich konnte es nicht zulassen, daß Ihr noch länger Eure Würde vor mir verliert. Ihr hättet es mir nie verziehen. Kommt, steht auf, Carmencita. Bei dieser fürchterlichen Hitze werden Eure Kleider rasch trocknen. Setzt Euch in diesen Sessel hier.«
Sie erhob sich widerwillig. Es war eine hochgewachsene Frau von der fülligen Schönheit jenes Typs, den die Maler Rembrandt und Rubens verherrlichten.
Sie ließ sich auf dem ihr angewiesenen Sessel nieder. Ihre großen dunklen Augen starrten mit einem verstörten Ausdruck vor sich hin.
»Was ist denn?« ließ sich der Graf wieder vernehmen - und Angélique erbebte, denn diese von dem unsichtbaren Sprecher losgelöste Stimme hatte einen Reiz, der ihr noch nie bewußt geworden war. »Seht, Carmencita, nun ist über ein Jahr vergangen, seit Ihr Toulouse verlassen habt. Ihr gingt nach Paris mit Eurem Gatten, dessen hohe Stellung Euch ein glänzendes Leben gewährleistete. Ihr habt die Undankbarkeit gegenüber unserer armen, kleinen provinziellen Gesellschaft so weit getrieben, daß Ihr nie ein Lebenszeichen gabt. Und nun werft Ihr Euch mit einem Male hier in diesem Palais vor mir nieder und schreit, fordert ... was denn eigentlich?«
»Liebe!« erwiderte sie mit heiserer und atemloser Stimme. »Ich kann nicht mehr ohne dich leben. Ach, unterbrich mich nicht. Du ahnst nicht, wie ich in diesem langen Jahr gelitten habe. Ja, ich glaubte, Paris werde meinen Durst nach Genuß und Lustbarkeiten stillen. Aber inmitten der schönsten Hoffeste überkam mich der Überdruß. Ich mußte an Toulouse denken, an dieses rosafarbene Palais. Ich ertappte mich dabei, wie ich mit leuchtenden Augen von ihm schwärmte, und die Leute machten sich über mich lustig. Ich habe Liebhaber gehabt. Ihre Plumpheit stieß mich ab. Und da begriff ich: Du warst es, der mir fehlte. Nachts lag ich mit offenen Augen da, und ich sah dich. Ich sah diese deine Augen, die so brannten, daß ich fast verging; deine weißen, wissenden Hände .«
»Meinen graziösen Gang«, warf er mit einem kleinen Lächeln ein. Er stand auf und trat zu ihr, wobei er sein Hinken übertrieb.
Sie starrte ihn tragisch an.
»Versuch nicht, dich mir verächtlich zu machen. Dein Lahmen, deine Narben - zählt das in den Augen der Frauen, die du geliebt hast, verglichen mit dem Geschenk, das du ihnen machst?«
Sie streckte die Hände nach ihm aus.
»Du, du schenkst ihnen die Wollust«, flüsterte sie. »Bevor ich dich kannte, war ich kalt. Du hast ein Feuer in mir entzündet, das mich verzehrt.«
Angéliques Herz klopfte zum Zerspringen. Sie fürchtete - sie wußte selbst nicht was, vielleicht daß die Hand ihres Gatten sich auf die schöne, golden schimmernde, schamlos dargebotene Schulter legen würde.
Doch der Graf lehnte sich an einen Tisch und rauchte seelenruhig. Er zeigte sich im Profil, und die Versehrte Seite seines Gesichts war unsichtbar. Plötzlich war es ein anderer Mann, den sie da entdeckte, dessen Züge unter der Fülle des dichten Haars rein wie eine Medaille wirkten.
»Erinnere dich der Leitsätze der höfischen Liebe, die dieses Haus dich gelehrt hat«, sagte er, während er lässig eine blaue Rauchwolke ausstieß. »Kehre nach Paris zurück, Carmencita. Das ist die Zuflucht der Leute deiner Art.«
»Wenn du mich fortjagst, werde ich mich ins Kloster zurückziehen. Mein Mann will mich ohnehin dort einschließen.«
»Vortrefflicher Gedanke, meine Liebe. Ich habe mir sagen lassen, daß in Paris derzeitig unzählige fromme Zufluchtsstätten gegründet werden. Eben erst ist das wunderschöne Kloster Val-de-Grâce vollendet worden, das die Königin Anna von Österreich für die Benediktinerinnen gestiftet hat. Auch das Haus der Heimsuchung Maria in Chaillot ist sehr gefragt.«
Carmencitas Augen flammten auf.
»Das ist also alles, was du zu sagen weißt? Ich bin bereit, mich unter einem Schleier zu begraben, und du bedauerst mich nicht einmal?«
»Wenn in dieser ganzen Angelegenheit jemand zu bedauern ist, kann es nur der Fürst Mérecourt, Euer Gatte, sein, der die Torheit besaß, Euch im Gepäckwagen seiner Botschaft aus Madrid mitzunehmen. Gib endlich den Versuch auf, mich mit deiner vulkanischen Existenz zu verquicken, Carmencita.«
»Ist es jene Frau, deine Frau, deretwegen du so mit mir sprichst? Ich glaubte, du habest sie geheiratet, um deine Habgier zu befriedigen. Eine Grundstück sangelegenheit, sagtest du mir. Hast du sie denn zur Geliebten erwählt? ... Oh, ich zweifle nicht, daß sie unter deinen Händen eine bemerkenswerte Schülerin wird. Wie konntest du dich hinreißen lassen, ein Mädchen aus dem Norden zu lieben?«
»Sie stammt nicht aus dem Norden, sondern aus dem Poitou. Ich kenne das Poitou, ich bin dort gereist; es ist ein liebliches Land, das früher zu Aquitanien gehörte. Die langue d’oc erkennt man noch im Dialekt der Bauern, und Angélique hat die gleiche Hautfarbe wie die Mädchen hierzulande.
»Ich merke wohl, daß du mich nicht mehr liebst«, rief unvermittelt die Frau aus. »Oh, ich durchschaue dich mehr, als du ahnst.«
Sie sank in die Knie und klammerte sich an Joffreys Wams.
»Noch ist es Zeit. Liebe mich! Nimm mich! Nimm mich!«
Angélique konnte es nicht mehr mitanhören. Sie lief durch die Galerie, stieg die Wendeltreppe des Turms hinauf, erreichte ihr Zimmer und warf sich auf das Bett.
»Das ist zuviel«, sagte sie immer wieder zu sich. Aber nach und nach mußte sie sich eingestehen, daß sie nicht wußte, weshalb sie so außer Fassung war. Jedenfalls war es unerträglich. So konnte es nicht weitergehen.
Angélique biß zornig in ihr Spitzentaschentuch und schaute verdüsterten Sinnes um sich. Zuviel Liebe, das war es, was sie zur Verzweiflung brachte. Alle Welt sprach von Liebe, diskutierte über die Liebe in diesem Palais.
Sie zog heftig an der Glocke aus vergoldetem Silber, und als Marguerite erschien, befahl sie ihr, eine Sänfte kommen zu lassen, denn sie wolle sich unverzüglich nach dem Lusthaus an der Garonne begeben.
Nachdem es dunkel geworden war, blieb Angélique lange auf der Terrasse ihres Zimmers.
Allmählich übte die Stille der Landschaft eine beruhigende Wirkung auf ihre Nerven aus.
An diesem Abend wäre sie nicht fähig gewesen, in Toulouse zu bleiben, im Wagen über die Féria spazierenzufahren, um den Sängern zu lauschen, und danach dem großen Diner zu präsidieren, das Graf Peyrac im Garten gab, im Scheine venezianischer Laternen. Sie hatte erwartet, ihr Gatte werde sie mit Gewalt zurückholen, um ihre Gäste zu empfangen, aber kein Bote war aus der Stadt gekommen, den Flüchtling heimzubringen. Damit hatte sie den Beweis, daß er sie nicht brauchte. Niemand brauchte sie hier. Sie war eine Fremde.
Da Marguerite sich enttäuscht gezeigt hatte, dem Fest nicht beiwohnen zu können, hatte sie sie nach Toulouse zurückgeschickt und nur ein junges Kammermädchen und ein paar Wächter zu ihrem Schutz bei sich behalten.
In ihrer Einsamkeit versuchte Angélique sich zu sammeln und in ihrem Innern klar zu sehen.
Ihr Vater hatte ihr oftmals angekündigt, eines Tages werde sie für ihren Mangel an Diskretion bestraft werden. Aber Angélique bereute nichts und empfand nicht einmal Skrupel über ihre Handlungsweise. War es ihre Schuld, wenn sie hinter so manche Dinge kam, die nicht für sie bestimmt waren? Wenn ihr Schritt so leise war, wenn sie jene Gabe besaß, sich unsichtbar zu machen, die einstens die Bauern von Monteloup ihr zugeschrieben hatten?
Jedenfalls war es ihr lieber, gewarnt zu sein.
Gewarnt wovor? Sie mußte Joffrey zubilligen, daß er sie auf keine Weise betrogen hatte. Weshalb war sie dann bis zu Tränen gedemütigt? Ihre Naivität ging nicht so weit, daß sie sich einbildete, der Graf Peyrac habe in mehr als einjähriger Ehezeit nicht an-derswärts ein Glück gesucht, das sie ihm verweigerte. Im übrigen gehörten in Toulouse die hintergangenen Ehemänner und die betrogenen Ehefrauen zur herrschenden Sitte, mit dem einzigen Unterschied, daß man über die hintergangenen Ehemänner lachte und die betrogenen Ehefrauen bedauerte. Aber wie in Paris und am Hof des Königs galt es nicht als schicklich, sich mit ehelicher Treue zu brüsten. Das schmeckte allzu sehr nach Kleinbürgerlichkeit.
Angélique ließ ihre Stirn auf die Balustrade sinken. »Ich für mein Teil werde nie die Liebe kennenlernen«, sagte sie sich melancholisch.
Als sie sich endlich müde in ihr Zimmer zurückziehen wollte, präludierte eine Gitarre unter ihren Fenstern. Angélique beugte sich hinaus, konnte aber zwischen den dunklen Schatten der Gebüsche niemand erkennen.
»Sollte Henrico zu mir herausgekommen sein? Das ist nett von dem Kleinen. Er will mich zerstreuen .«
Doch der unsichtbare Musikant begann zu singen. Seine dunkle, männliche Stimme war nicht die des Pagen.
Schon die ersten Töne griffen der jungen Frau ans Herz. Dieser bald samtene, bald sonore Stimmklang war von einer Vollkommenheit, wie sie die galanten Spielleute, von denen es am Abend in Toulouse wimmelte, nicht oft aufzuweisen hatten. In Languedoc sind die schönen Stimmen nicht selten. Die Melodie springt spontan über die an Lachen und Rezitieren gewöhnten Lippen. Aber dieser Künstler fiel aus dem üblichen Rahmen. Sein Atem war von ungewöhnlicher Kraft. Es schien, als würde der Garten von ihm überflutet, als erbebe der Mond von ihm. Er sang ein altes Klagelied in jener untergegangenen Sprache, deren Feinheit Graf Peyrac so gerne rühmte. Angélique verstand nicht alle Worte, doch eines kehrte immer wieder: Amore! Amore!
Liebe!
Immer mehr wurde es ihr zur Gewißheit: »Er ist es, der letzte der Troubadours, es ist die Goldene Stimme des Königreichs!«
Nie hatte sie so singen hören. Man sagte ihr zuweilen: »Ach, wenn Ihr die Goldene Stimme des Königreichs hören würdet! Er singt nicht mehr. Wann wird er von neuem singen?« Und dabei warf man ihr einen maliziös-mitleidigen Blick zu, weil sie diese Berühmtheit der Provinz noch nicht kannte.
»Er ist es! Er ist es!« sagte sich Angélique immer wieder. »Wie kommt er nur hierher? Um meinetwillen?«
Sie sah ihr Spiegelbild im großen Spiegel ihres Zimmers. Die eine Hand lag auf ihrer Brust, und ihre Augen waren weit aufgerissen. Sie machte sich über sich selbst lustig: »Wie albern ich bin! Vielleicht ist es nur Andijos oder irgendein anderer Verehrer, der mir einen bezahlten Musiker schickt, um mir ein Ständchen zu bringen .!«
Dennoch öffnete sie die Tür. Mit über dem Mieder gekreuzten Händen, wie um ihr pochendes Herz im Zaum zu halten, schlich sie sich durch die Vorzimmer, stieg die weiße Marmortreppe hinunter und betrat den Garten. Sollte nun das Leben für Angélique de Sancé de Monteloup, Gräfin Peyrac, beginnen: Denn die Liebe war das Leben!
"Angélique" отзывы
Отзывы читателей о книге "Angélique". Читайте комментарии и мнения людей о произведении.
Понравилась книга? Поделитесь впечатлениями - оставьте Ваш отзыв и расскажите о книге "Angélique" друзьям в соцсетях.