Die Stimme kam von einer Laube her, die sich am Ufer des Flusses erhob und eine Statue der Göttin Pomona barg. Als die junge Frau sich näherte, verstummte der Sänger, doch er fuhr fort, gedämpft die Saiten seiner Gitarre zu zupfen.
Der Mond war an diesem Abend noch nicht voll. Er hatte die Form einer Mandel. Sein Licht genügte indessen, den Garten zu erhellen, und Angélique glaubte im Innern der Laube eine auf dem Sockel der Statue sitzende Gestalt zu erkennen.
Bei ihrem Erscheinen rührte sich der Unbekannte nicht.
»Es ist ein Neger«, dachte Angélique enttäuscht.
Doch sie erkannte bald ihren Irrtum. Der Mann trug eine samtene Maske, aber die sehr weißen, auf seinem Instrument ruhenden Hände erlaubten keinen Zweifel über seine Rassenzugehörigkeit. Ein schwarzseidenes, auf italienische Art im Nacken zusammengeknüpftes Kopftuch verbarg sein Haar. Soweit sich im Dunkel der Laube erkennen ließ, war sein ein wenig abgetragenes Gewand ein seltsames Mittelding zwischen dem eines Dieners und dem eines Komödianten. Er hatte dicke Kastorschuhe, wie Leute sie tragen, die viel zu Fuß gehen, doch hingen Spitzenbesätze von den Ärmeln seiner Jacke herab.
»Ihr singt wundervoll«, sagte Angélique, da sie sah, daß er keine Bewegung machte, »aber ich wüßte gern den Namen dessen, der Euch geschickt hat.«
»Niemand hat mich geschickt, Madame. Ich bin hierhergekommen, weil ich wußte, daß dieses Lusthaus eine der schönsten Frauen von Toulouse beherbergt.«
Der Mann sprach mit einer tiefen und sehr leisen Stimme, als fürchte er, gehört zu werden.
»Ich kam heute abend in Toulouse an und begab mich in das Palais des Grafen Peyrac, wo ich eine lustige und zahlreiche Gesellschaft versammelt fand, um meine Lieder zum besten zu geben. Doch als ich hörte, daß Ihr nicht anwesend wäret, ging ich wieder fort, um Euch zu treffen, denn der Ruhm Eurer Schönheit ist so groß in unsrer Provinz, daß es mich schon lange verlangt, Euch zu begegnen.«
»Auch Euer Ruhm ist groß. Seid Ihr es nicht, den man die Goldene Stimme des Königreichs nennt?«
»Ich bin es, Madame. Und bin Euer ergebener Diener.«
Angélique setzte sich auf die Marmorbank, die innen an der Wand der Laube entlanglief.
Der Duft des rankenden Geißblatts war berauschend.
»Singt weiter«, sagte sie.
Die warme Stimme erklang von neuem, doch weicher und wie gedämpft. Es war kein Anruf mehr, sondern ein Lied der Zärtlichkeit, eine heimliche Mitteilung, ein Geständnis.
»Madame«, unterbrach sich der Musikant, »vergebt mir meine Kühnheit. Ich möchte Euch ein paar Verse in die französische Sprache übersetzen, zu denen mich der Reiz Eurer Augen inspiriert.«
Angélique neigte den Kopf. Sie wußte nicht mehr, wie lange sie schon hier war. Nichts hatte mehr Bedeutung. Die Nacht gehörte ihnen.
Er präludierte lange, als suche er den Faden seiner Melodie, dann stieß er einen langen Seufzer aus und begann:
»Die grünen Augen sind von der Farbe des Meers. Die Wogen haben sich über mir geschlossen.
Ein Schiffbrüchiger der Liebe, so irre ich durch den tiefen Ozean ihres Herzens.«
Angélique hatte die Augen geschlossen. Mehr noch als die glühenden Worte erfüllte sie die Stimme mit einer Wonne, die sie nie zuvor empfunden hatte.
»Wenn sie ihre grünen Augen aufschlägt,
spiegeln sich in ihnen die Sterne
wie auf dem Grund eines Frühlingsgewässers.«
»Jetzt, in diesem Augenblick, muß er kommen«, sagte Angélique zu sich, »denn dieser Augenblick kehrt nicht wieder. Dies kann man nicht zweimal erleben. Dies, das endlich so ganz all den Liebesgeschichten gleicht, die wir damals im Kloster einander erzählten.«
Die Stimme war verstummt. Der Unbekannte glitt auf die Bank. An dem festen Arm, der sie ergriff, an der Hand, die ihr Kinn mit gebieterischer Sanftheit nach oben bog, erkannte Angéliques Instinkt einen Meister, der mehr als nur einen zärtlichen Sieg errungen haben mußte. Sie empfand ein klein wenig Reue, doch als die Lippen des Sängers die ihren berührten, erfaßte sie ein Schwindel. Sie hatte nicht gewußt, daß Männerlippen diese Blütenfrische, diese schmelzende Weichheit haben konnten. Ein muskulöser Arm preßte sie, doch der Mund bebte noch von den betörenden Worten, und diese Betörung und diese Kraft rissen Angélique in einen Strudel, in dem sie vergeblich einen Gedanken zu fassen versuchte.
»Ich darf das nicht tun ... Es ist unrecht! Wenn Joffrey uns überrascht .!«
Dann stürzte alles ein. Die Lippen des Mannes schlossen die ihren auf. Sein heißer Atem erfüllte ihren Mund, teilte ihren Adern ein köstliches Lustgefühl mit. Mit geschlossenen Augen überließ sie sich dem endlosen Kuß, wollustzeugender Eroberung, die schon nach Neuem rief. Die Wogen der Lust durchliefen sie, einer ihrem jungfräulichen Körper so fremden Lust, daß sie plötzlich etwas wie Widerwillen und Schmerz empfand und in heftigem Erschauern zurückwich.
Es war ihr, als müsse sie ohnmächtig werden oder in Tränen ausbrechen. Sie sah, daß die Finger des Mannes ihre nackte Brust streichelten, die er während der Umarmung heimlich entblößt hatte.
Sie löste sich von ihm und brachte ihr Kleid wieder in Ordnung.
»Verzeiht mir«, stammelte sie. »Ihr müßt mich recht töricht finden, aber ich wußte nicht ... ich wußte nicht .«
»Was wußtet Ihr nicht, mein Herz?«
Da sie schwieg, flüsterte er:
»Daß ein Kuß so süß sein kann?«
Angélique erhob sich und lehnte sich an den Eingang der Laube. Draußen verfärbte sich der Mond golden, während er über dem Fluß unterging. Angélique kam es vor, als sei sie schon viele Stunden lang in diesem Garten. Sie war glücklich, unsagbar glücklich.
»Ihr seid für die Liebe geschaffen«, murmelte der Troubadour, »das spürt man, wenn man nur Eure Haut berührt. Wer Euren bezaubernden Körper zu erwecken versteht, wird Euch zum Gipfel der Wollust führen.«
»Schweigt! Ihr dürft nicht so reden. Ich bin verheiratet, das wißt Ihr, und der Ehebruch ist eine Sünde.«
»Daß eine so schöne Dame sich einen solchen hinkenden Edelmann zum Gatten erwählt, ist eine noch größere Sünde.«
»Ich habe ihn nicht erwählt. Er hat mich gekauft.«
Sie bereute sofort diese Worte, die die frohe Stunde trübten.
»Singt weiter«, bat sie. »Einmal noch, und dann werden wir uns trennen.«
Er stand auf, um seine Gitarre in die Hand zu nehmen, aber in seiner Bewegung lag etwas Unheimliches, das Angélique beunruhigte. Sie schaute ihn forschend an. Sie wußte nicht weshalb, aber plötzlich hatte sie Angst.
Während er ganz leise ein Lied sang, starrte sie ihn an. Vorhin, während des Kusses, hatte sie einen kurzen Augenblick das Gefühl einer vertrauten Gegenwart verspürt, und jetzt erinnerte sie sich: im Atem des Sängers vermischte sich der Duft des Veilchens mit dem typischen Aroma des Tabaks ... Der Graf Peyrac kaute zuweilen auch Veilchenpastillen . Ein furchtbarer Verdacht stieg in Angélique auf. Eben, als er aufgestanden war, um die Gitarre zu ergreifen, hatte sich der Sänger merkwürdig unsicher bewegt ...
Angélique stieß einen Schrei des Entsetzens aus, dem ein Schrei des Zorns folgte. »Oh, das geht zu weit«, rief sie, »das geht zu weit! Das ist ungeheuerlich ... Nehmt Eure Maske ab, Joffrey de Peyrac! Laßt diese Maskerade, oder ich kratze Euch die Augen aus, ich erdroßle Euch, ich .«
Das Lied brach ab. Die Gitarre gab ein grelles Crescendo von sich. Unter der Samtmaske erglänzten die weißen Zähne des Grafen Peyrac in einem schallenden Gelächter.
Er näherte sich ihr mit seinen ungleichmäßigen Schritten. Angélique war erschrocken, aber mehr noch empört.
»Ich kratze Euch die Augen aus«, wiederholte sie mit zusammengebissenen Zähnen.
Immer noch lachend, griff er nach ihren Handgelenken.
»Was bleibt denn dann noch übrig von dem gräßlichen hinkenden Edelmann, wenn Ihr ihm auch noch die Augen auskratzt?«
»Ihr habt in unerhörter Schamlosigkeit gelogen. Ihr habt mich glauben lassen, Ihr wäret der . die Goldene Stimme des Königreichs.«
»Aber ich bin ja die Goldene Stimme des Königreichs!«
Und da sie ihn sprachlos anstarrte:
»Was ist daran Ungewöhnliches? Ich hatte eine gewisse Begabung. Ich habe mit den berühmtesten italienischen Maestri gearbeitet. Gesang ist eine Kunst für die Geselligkeit, die heute viel geübt wird. Ehrlich, Liebste, gefällt Euch meine Stimme nicht?«
Angélique wandte sich ab und trocknete die Zornestränen, die über ihr Gesicht liefen.
»Wie ist es möglich, daß ich bis heute nichts geahnt habe?«
»Ich hatte gebeten, Euch nichts zu sagen. Und vielleicht habt Ihr Euch auch nicht recht bemüht, meine Talente zu entdecken?«
»Oh, das ist zuviel!« wiederholte Angélique.
Aber nachdem die erste Wut verflogen war, ver-spürte sie plötzlich das Bedürfnis zu lachen. Da hatte er also den Zynismus so weit getrieben, daß er sie ermunterte, ihn zu betrügen! Er hatte wirklich den Teufel im Leib .! Er war der Teufel in Person!
»Diese üble Komödie werde ich Euch nie verzeihen«, sagte sie, indem sie die Lippen zusammenpreßte und ihre ganze Würde zusammennahm.
»Ich liebe das Komödienspielen. Seht, Liebste, das Leben ist nicht immer nachsichtig mit mir umgegangen, und man hat so oft über meinen Gang gewitzelt, daß es mir meinerseits unendliches Vergnügen bereitet, mich über die andern lustig zu machen.«
Gegen ihren Willen hob sie ihren ernsten Blick zu dem maskierten Gesicht.
»Habt Ihr Euch wirklich über mich lustig gemacht?«
»Nicht nur, und das wißt Ihr sehr wohl«, erwiderte er.
Ohne ein Abschiedswort wandte sich Angélique um und ging.
»Angélique! Angélique!«
Er rief ihr mit leiser Stimme nach. Wie ein italienischer Harlekin stand er an der Schwelle der Laube und legte den Finger auf die Lippen.
»Habt die Güte, Madame, und redet zu niemandem von dieser Geschichte, auch nicht zu Eurer Zofe. Wenn man erfährt, daß ich meine Gäste im Stich ließ, daß ich mich verkleidete und maskierte, nur um meiner eigenen Frau einen Kuß zu stehlen, wird man weidlich über mich spotten.«
»Ihr seid unerträglich!« rief sie, raffte ihre Röcke zusammen und lief durch die Allee zurück. Auf der Treppe entdeckte sie, daß sie lachte. Sie entkleidete sich, wobei sie in ihrer Nervosität die Agraffen abriß und sich an den Nadeln stach, wälzte sich zwischen den Laken fiebernd von einer Seite zur andern und konnte keinen Schlaf finden. Immer wieder tauchte das maskierte Gesicht, das verunstaltete Gesicht, das Profil mit den reinen Zügen vor ihr auf. Welches Rätsel verbarg sich hinter diesem trügerischen Manne? Dann wieder begehrte sie auf gegen den Zwang dieses Bildes, und schließlich übermannte sie die Erinnerung an die Lust, die sie in seinen Armen empfunden hatte.
»Ihr seid für die Liebe geschaffen, Madame .«
Sehr spät schlummerte sie ein. Im Schlaf erschienen ihr die Augen Joffrey de Peyracs, und sie sah Flammen in ihnen tanzen.
Angélique saß in der venezianischen Spiegelgalerie des Palastes. Sie war sich noch nicht klar darüber, welche Haltung sie einnehmen sollte. Seit ihrer Rückkehr vom Lusthaus an der Garonne heute morgen hatte sie Joffrey de Peyrac nicht mehr gesehen. Der Haushofmeister Clément hatte ihr berichtet, der Herr Graf habe sich mit Kouassi-Ba in den Gemächern des rechten Flügels eingeschlossen, dort, wo der Herr Graf sich seinen alchimistischen Studien zu widmen pflege. Angélique nagte zornig an ihren Lippen. Joffrey würde vermutlich viele Stunden ausbleiben. Übrigens hatte sie auch gar nichts dagegen. Sie war noch viel zu empört über die Täuschung, deren Opfer sie am vorhergehenden Abend geworden war.
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