Sie legte ihr Gesicht in beide Hände, schloß die Augen und konzentrierte sich. Die Sache lag weit zurück. Sie hatte sich auf Schloß Plessis ereignet; das wußte sie noch genau, aber dann verwirrte sich alles.

Die Kaminflamme erhitzte ihre Stirn. Sie schob einen Schirm aus bemalter Seide schützend davor und bewegte automatisch ihren Fächer. Draußen in der Nacht tobte das Unwetter, ein Frühlings- und Gebirgsunwetter ohne Blitze, das aber ganze Wolken von Hagelkörnern prasselnd gegen die Scheiben jagte. Da sie nicht schlafen konnte, hatte sich Angélique vor den Kamin gesetzt. Ihr Rücken schmerzte sie ein wenig, und sie ärgerte sich, daß sie nicht rascher wieder zu Kräften kam. Die Hebamme erklärte ihr immer wieder, diese Schwäche sei die Folge ihres Eigensinns, selbst stillen zu wollen, aber Angélique stellte sich taub; jedesmal, wenn sie ihr Kindchen aufnahm und ihm beim Trinken zuschaute, wuchs ihre Freude. Sie blühte auf. Das Bild des Kindes an ihrer Brust rührte sie tief. Sie sah sich schon als würdige, nachgiebige, von einer quengelnden Enkelschar umgebene Matrone. Warum mußte sie so oft an ihre Kindheit denken, da doch in ihrem Innern die kleine Angélique langsam dahinschwand? Es war keine dumpfe, unerklärliche Beklemmung mehr. Ganz allmählich nahm die Frage eine klare Form an: Da war etwas, auf das sie sich unbedingt besinnen mußte!

An diesem Abend erwartete sie die Rückkehr ihres Gatten. Er hatte einen Boten vorausgeschickt, ihn anzumelden, aber vermutlich war er durch das Unwetter aufgehalten worden und kam erst morgen.

Sie war darüber bis zu Tränen enttäuscht: so ungeduldig erwartete sie den Bericht über den Empfang des Königs. Es hieß, das Mahl und das Fest seien großartig gewesen. Welch ein Jammer, daß sie nicht hatte dabei sein können, sondern dasaß und sich den Kopf zermarterte, um einen Fetzen Erinnerung an die Oberfläche zu zerren, eine Einzelheit, die ganz gewiß keine Bedeutung hatte.

»Es war auf Schloß Plessis. Im Zimmer des Fürsten Condé . Während ich durch das Fenster schaute. Ich muß mir alles von jenem Augenblick an vergegenwärtigen, Punkt für Punkt .«

Eine Tür ging, und man hörte Stimmengewirr in der Halle des kleinen Schlosses. Angélique sprang auf und stürzte aus dem Zimmer. Sie erkannte Joffreys Stimme.

»O Liebling, endlich! Wie bin ich froh!«

Sie lief die Treppe hinunter, und er schloß sie in seine Arme.

»Ihr seid ja beflügelt wie eine Elfe, schöne Fee.«

»Ihr seid ganz durchnäßt. Ihr hättet im letzten Dorf Station machen sollen.«

»Ich hatte Euch meine Rückkehr für heute abend versprochen.«

»Und ich habe mich so nach Euch gesehnt.«

Sie führte ihn in das angenehm warme Zimmer, rief einen Diener, der ihm die nassen Stiefel ausziehen sollte, während Kouassi-Ba die Reisekiste heraufbrachte.

Der Graf wechselte rasch seine Kleidung, trank ein Glas roten Bordeaux, erklärte jedoch, er habe unterwegs gegessen, und man habe im übrigen seit acht Tagen dermaßen geschlemmt, daß er entschlossen sei, sich künftig nach gesunder béarnischer Sitte nur von Brotkanten und Knoblauchzehen zu nähren.

»Und Florimond? Weiß er die Knoblauchzehen und den Wein von Jurançon gleich dem guten König Heinrich IV. zu schätzen?«

»Ich habe versucht, ihm die Lippen einzureihen, wie es der Großvater König Heinrichs bei dessen Geburt getan hat, aber das behagte ihm nicht.«

»Ist er immer noch so schön, unser Florimond?«

»Er wird von Tag zu Tag schöner!«

Sie saß auf einem Kissen zu seinen Füßen und schmiegte sich lachend an ihn. Als die Dienstboten hinausgegangen waren, bat sie ungeduldig: »Erzählt.«

»Nun, es ging sehr gut«, sagte Joffrey und naschte ein paar Weinbeeren. »Die Stadt hat sich tüchtig angestrengt, aber ohne mich zu brüsten, kann ich sagen, daß der Empfang in unserm Palais alles andere übertroffen hat. Ich konnte rechtzeitig einen Mechaniker aus Lyon kommen lassen, der uns etwas sehr Hübsches für die Festtafel konstruierte: ein Schiff aus Zuckerwerk und Konfekt und einen Felsen von der gleichen Masse, aus dem Wein und Riechwasser hervorsprudelten. Dann barsten Schiff und Felsen, und ein riesiger Blumenkorb kam zum Vorschein, aus dem lebendige Vögel von allen Farben flatterten. Die Leute wußten sich vor Bewunderung nicht zu fassen.«

»Und der König? Der König?«

»Nun ja, der König ist ein hübscher junger Mann, der die Ehren zu genießen scheint, die man ihm erweist. Er hat volle Wangen, zärtliche braune Augen und sehr viel Würde. Ich glaube ihm sein wehes Herz. Die kleine Mancini hat ihm eine Liebeswunde beigebracht, die sich nicht so bald schließen wird, aber da er eine hohe Auffassung von seiner Königspflicht besitzt, beugt er sich vor der Staatsräson. Ich habe die Königin-Mutter gesehen, schön, traurig und ein bißchen wichtigtuerisch. Ich habe die Grande Mademoiselle und den kleinen Monsieur über Fragen der Etikette disputieren hören. Was soll ich Euch noch sagen? Ich habe zu viele schöne Namen und häßliche Gesichter gesehen .! Eigentlich kam nichts dem Vergnügen gleich, dem kleinen Péguillin wiederzubegegnen, Ihr wißt doch, dem Chevalier de Lauzun, Neffen des Herzogs von Gramont, des Statthalters von Béarn? Ich habe ihn als kleinen Pagen in Toulouse gehabt, bevor er nach Paris ging. Ich sehe ihn noch mit seinem Katzengesicht, damals, als ich Madame de Vérant beauftragte, ihn aufzuklären.«

»Joffrey!«

»Aber er hat gehalten, was er versprach, und die Lehren unserer Kollegs über die Liebe in die Praxis umgesetzt. Denn ich konnte feststellen, daß er der Liebling aller Damen war. Und sein Witz bringt ihm die Freundschaft des Königs ein, der seine Scherze nicht missen mag.«

»Und der König? Erzählt mir vom König! Hat er Euch seine Befriedigung über den Empfang ausgedrückt, den Ihr ihm bereitet habt?«

»Auf überaus huldvolle Weise. Und zu wiederholten Malen hat er Eure Abwesenheit bedauert. Ja, der König war befriedigt ... allzu befriedigt.«

»Wieso allzu befriedigt? Weshalb sagt Ihr das mit Eurem bissigen, kleinen Lächeln?«

»Weil man mir die folgende Betrachtung hinterbrachte: Während der König wieder in die Karosse gestiegen sei, habe ein Höfling ihm gegenüber die Bemerkung fallenlassen, unser Fest könne es mit dem Glanz derjenigen Fouquets aufnehmen. Worauf Seine Majestät geantwortet habe: Jawohl, tatsächlich, und ich frage mich, ob es nicht allmählich an der Zeit ist, diese Leute hier zum Ausspucken ihrer Reichtümer zu bringen!< Darauf sei die arme Königin recht empört gewesen: >Was für ein Gedanke, mein Sohn, inmitten einer Euch zu Gefallen veranstalteten Lustbarkeit!< - >Ich bin es satt<, habe ihr der König erwidert, >daß meine eigenen Untertanen mich mit ihrem Prunk erdrücken.<«

»Das ist ja unerhört! So ein neidischer Bursche!« rief Angélique empört aus. »Ich kann es gar nicht glauben. Seid Ihr ganz sicher, daß solche Worte gefallen sind?«

»Mein getreuer Alphonso, der den Wagenschlag öffnete, hat sie mir hinterbracht.«

»Der König kann nicht von sich aus solche erbärmlichen Gefühle hegen. Gewiß sind es seine Höflinge, die ihn gegen uns aufgestachelt haben. Seid Ihr ganz sicher, daß Ihr Euch ihnen gegenüber nicht allzu herausfordernd verhalten habt?«

»Ich war zuckersüß, das versichere ich Euch, mißtrauische Gemahlin! Ich habe sie mit größtmöglicher Zuvorkommenheit behandelt, einer Zuvorkommenheit, die so weit ging, daß ich ins Zimmer eines jeden der Edelleute, die im Schloß logierten, eine Börse mit Goldstücken legte. Und ich schwöre Euch, keiner der Herren hat sie mitzunehmen vergessen.«

»Ihr schmeichelt ihnen, aber Ihr verachtet sie, und sie spüren es«, sagte Angélique und schüttelte nachdenklich den Kopf.

Sie erhob sich, setzte sich auf die Knie ihres Gatten und lehnte sich an ihn. Draußen tobte noch immer das Unwetter.

»Jedesmal, wenn der Name dieses Fouquet fällt, erschaure ich«, murmelte Angélique. »Ich sehe das Giftkästchen wieder vor mir, das ich so lange vergessen hatte und das nun zu einem wahren Alpdruck wird.«

»Ihr seid gar sehr empfindlich, Liebste! Werde ich in Zukunft eine Gattin haben, die bei jedem Windhauch zittert?«

»Ich muß mich auf etwas besinnen«, seufzte die junge Frau, schloß die Augen und rieb ihre Wange an den warmen, duftenden Haaren ihres Mannes, deren feuchtes Gelock sich kräuselte.

»Wenn Ihr mir doch helfen könntet, mich zu erinnern ... Aber das ist unmöglich. Ich glaube, wenn ich mich entsinnen könnte, wüßte ich, woher die Gefahr kommt.«

»Es gibt keine Gefahr, meine Schöne. Die Geburt Florimonds hat Euch ein wenig aus dem Gleichgewicht gebracht.«

»Ich sehe das Zimmer ...«, fuhr Angélique mit geschlossenen Augen fort. »Der Fürst Condé ist aus dem Bett gesprungen, weil jemand an die Tür geklopft hatte ... Aber ich hatte das Klopfen nicht gehört. Der Fürst hüllte sich in seinen Schlaf rock und rief: >Ich bin in Gesellschaft der Herzogin von Beaufort ...!< Doch im Hintergrund des Raums öffnete der Diener die Tür und ließ den Mönch mit der Kapuze herein . Dieser Mönch hieß Exili .«

Sie hielt inne und schaute plötzlich so starr vor sich hin, daß der Graf erschrak.

»Angélique!« rief er aus.

»Jetzt erinnere ich mich«, sagte sie dumpf. »Joffrey, ich erinnere mich ... Der Diener des Fürsten Condé war ... Clément Tonnel.«

»Ihr seid nicht bei Sinnen, Liebste«, sagte er lachend. »Jahrelang ist dieser Mann in unserm Dienst gewesen, und Ihr solltet jetzt erst diese Ähnlichkeit feststellen?«

»Ich habe ihn damals nur einen Augenblick im Halbdunkel gesehen. Aber dieses pockennarbige Gesicht, diese verschlagene Art ... Doch, Joffrey, ich bin sicher, daß er es war. Jetzt kann ich mir auch erklären, warum er mir, während er in Toulouse bei uns war, immer Widerwillen einflößte. Erinnert Ihr Euch dessen, was Ihr eines Tages sagtet: >Der gefährlichste Spion ist der, den man nicht in Verdacht hat.< Und Ihr hattet schon gespürt, wie er ums Haus schlich. Der unbekannte Spion - er war es.«

»Für eine Frau, die sich für die Wissenschaften interessiert, seid Ihr recht romantisch.«

Er strich über ihre Stirn. »Habt Ihr nicht ein wenig Fieber?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Spottet nicht. Der Gedanke quält mich, daß dieser Mensch mir seit Jahren nachspürt. In wessen Auftrag handelt er? Des Fürsten Condé? Fouquets?«

»Ihr habt nie zu jemandem von dieser Sache gesprochen?«

»Zu Euch . einmal, und er hat uns gehört.«

»Das alles liegt so weit zurück. Beruhigt Euch, Liebste, ich meine, das sind abwegige Gedanken.«

Er redete ihr lange in diesem Tone zu, und allmählich löste sich ihre Spannung unter seinen Liebkosungen und zärtlichen Worten. Da die Tage ohne Zwischenfälle verrannen und ihre Kräfte zurückkehrten, schwanden ihre Besorgnisse. Sie lächelte zuweilen darüber.

Einige Monate danach, als sie eben Florimond entwöhnt hatte, sagte jedoch eines Morgens ihr Gatte beiläufig zu ihr:

»Ich möchte Euch nicht zwingen, aber es wäre mir lieb, zu wissen, daß Ihr jeden Morgen dies hier bei Euerm Frühstück einnehmt.«

Er öffnete die Hand, und sie sah darin eine kleine, weiße Pastille glänzen.

»Was ist denn das?«

»Gift ... In einer winzigen Dosis.«

Angélique sah ihn an.

»Was befürchtet Ihr, Joffrey?«

»Nichts. Aber es ist eine Gewohnheit, mit der ich immer gut gefahren bin. Der Körper gewöhnt sich allmählich an das Gift.«

»Ihr glaubt, jemand könne darauf ausgehen, mich zu vergiften?«

»Ich glaube gar nichts, meine Liebe ... Jedenfalls nicht an die Wirkung des Horns vom Einhorn.«

Im nächsten Mai wurden Graf Peyrac und seine Frau zur Königshochzeit geladen. Sie sollte in Saint-Jean-de-Luz am Ufer der Bidassoa stattfinden. König Philipp IV von Spanien führte seine Tochter, die Infantin Maria-Theresia, selbst dem jungen König Ludwig XIV zu. Der Friede war unterzeichnet ... oder doch beinahe. Der französische Adel machte sich auf den Weg nach der kleinen baskischen Stadt.

Zwei Kutschen und drei Fuhrwerke, dazu ein paar beladene Maultiere fand Angélique ein bißchen wenig für das riesige Reisegepäck. Joffrey hatte einen berühmten Kaufmann aus Lyon kommen lassen, der mit einer förmlichen kleinen Karawane erschienen war. Die schönsten Stoffe der Seidenstadt waren für die Toiletten der jungen Gräfin verarbeitet worden. Man mußte sich nicht nur auf die zahlreichen Hochzeitszeremonien einrichten, sondern auch auf den triumphalen Einzug des Herrscherpaars in Paris. Angélique und ihr Gatte wollten mit dem Hof bis nach Paris zurückreisen.

Man brach von Toulouse am frühen Morgen vor den heißen Stunden auf. Natürlich war Florimond mit von der Partie, samt seiner Amme, seiner Wiege und dem Negerknaben, der den Auftrag hatte, ihn zum Lachen zu bringen. Er war jetzt ein Knirps von blühender Gesundheit, freilich ein bißchen zu gut gepolstert, mit einem reizenden, spanischen Christusgesicht: schwarzen Augäpfeln und Locken.