»Ich weiß nicht, Herr Herzog. Es waren bestimmt keine Wegelagerer. Sie waren gut angezogen und wohl rasiert. Ich kann nur sagen, daß sie wie Hausbediente wirkten.«

»Zwei hinausgeworfene Diener, die einen üblen Streich ausgeheckt haben«, vermutete de Guiche.

Eine schwere Kutsche fuhr langsam an der Kolonne vorbei und hielt dann an.

Mademoiselle de Montpensier streckte den Kopf aus dem Fenster.

»Sind das schon wieder die Gaskogner, die einen solchen Spektakel machen? Wollt Ihr die Vögel der Ile-de-France mit Euren Trompetenstimmen erschrecken?«

Lauzun näherte sich ihr grüßend. Er schilderte den Unfall, den Madame de Peyrac erlitten hatte, und erklärte, es werde noch ein Weilchen dauern, bis man ihre Kutsche aufgerichtet und wieder in Ordnung gebracht habe.

»Aber so soll sie doch bei uns einsteigen!« rief die Grande Mademoiselle. »Mein kleiner Péguillin, holt sie schleunigst. Kommt, meine Liebe, wir haben noch eine ganze Bank frei. Da werdet Ihr es mit Eurem Kindchen sehr bequem haben. Das arme Engelchen! Das arme Schätzchen!«

Sie war selbst Angélique beim Einsteigen und Platznehmen behilflich.

»Ihr seid verletzt, meine arme Freundin. Sobald wir wieder haltmachen, werde ich Euch meinen Arzt schicken.«

Mit Entsetzen stellte die junge Frau fest, daß die Person, die im Fond neben Mademoiselle saß, niemand anders als die Königin-Mutter war.

»Eure Majestät mögen mir verzeihen«, murmelte sie.

»Ihr braucht nicht um Verzeihung zu bitten, Madame«, erwiderte Anna von Österreich huldvoll. »Mademoiselle hatte hundertmal recht, Euch aufzufordern, unsern Wagen zu teilen. Die Bank ist bequem, und Ihr werdet Euch hier rascher von Eurer Aufregung erholen. Was mich verdrießt, ist die Sache mit den bewaffneten Männern, die Euch überfallen haben.«

»Mein Gott! Womöglich hatten es die Männer auf die Person des Königs oder der Königin abgesehen«, rief Mademoiselle mit gerungenen Händen. »Ihre Wagen werden von Wachen beschützt, und ich glaube, wir brauchen uns um sie nicht zu sorgen. Gleichwohl werde ich mit dem Polizeileutnant reden.«

Angélique spürte jetzt die Wirkung des erlittenen Schocks. Sie merkte, daß sie sehr blaß wurde, schloß die Augen und stützte den Kopf auf die gutgepolsterte Lehne der Bank. Der Mann hatte aus nächster Nähe auf die Fensterscheibe gezielt. Wie durch ein Wunder war keiner der Insassen verletzt worden. Sie drückte Florimond an sich. Durch die dünnen Kleider des Kindes spürte sie, daß es abgemagert war, und sie machte sich Vorwürfe. Es war erschöpft vom dauernden Reisen. Seitdem man es von seiner Amme und dem kleinen Negerknaben getrennt hatte, jammerte es und verweigerte die Milch, die Margot sich in den Dörfern verschaffte. Es wimmerte im Schlaf, und Tränen hingen in den langen, schwarzen Wimpern, die seine blaßgewordenen Wangen beschatteten. Es hatte einen winzigen Mund, rund und rot wie eine Kirsche.

Sanft betupfte Angélique mit ihrem Taschentuch die weiße, gewölbte Stirn, auf der der Schweiß perlte. Und plötzlich mußte sie zwischen den beiden versöhnten Gegnerinnen von einst an die Briefe denken, die der kleine, vergessene Kasten im Türmchen des Schlosses Plessis barg. Würde deren Wiederauftauchen nicht genügen, um von neuem die große Feuersbrunst ausbrechen zu lassen, deren Flammen nur darauf warteten, emporlodern zu können .?

Es schien Angélique, als habe sie das Kästchen in ihrem eigenen Innern aufbewahrt und als laste es jetzt wie Blei auf ihrem Leben. Sie ließ ihre Augen geschlossen. Sie fürchtete, man könne seltsame Bilder in ihnen vorbeiziehen sehen: den Fürsten Condé, der sich über das Giftfläschchen beugte oder den Brief las, den er eben unterschrieben hatte: »An Monsieur Fouquet . Ich verpflichte mich, einzig ihm ergeben zu sein, nur ihm zu dienen .«

Angélique fühlte sich einsam. Sie konnte sich niemandem anvertrauen. Die angenehmen Hofbekanntschaften erwiesen sich nun als wertlos. Jeder gierte nach Protektion, nach Vorteilen und würde sich beim geringsten Anzeichen von Ungnade von ihr abwenden. Bernard d’Andijos war ergeben, aber oberflächlich! Kaum vor den Toren von Paris angekommen, würde man ihn nicht mehr zu sehen bekommen, denn er würde am Arm seiner Mätresse, Mademoiselle de Mortemart, zu den Hofbällen gehen und in Gesellschaft von Gaskognern sich nächtelang in den Schenken und Spielhäusern herumtreiben.

Im Grunde war es gleichgültig. Es kam vor allem darauf an, Paris zu erreichen. Dort würde man wieder Boden unter die Füße bekommen. Angélique würde das schöne Palais beziehen, das Graf Peyrac im Stadtteil Saint-Paul besaß. Dann würde sie Nachforschungen anstellen und die nötigen Schritte tun, um herauszubekommen, was aus ihrem Gatten geworden war.

»Wir werden vor Mittag in Paris sein«, informierte sie Andijos, als sie am nächsten Morgen mit Florimond wieder in ihrer Kutsche Platz nahm, deren durch den Unfall hervorgerufene Schäden inzwischen behoben worden waren. Der Gedanke, daß Paris bald erreicht sein würde, versetzte sie in angeregte Stimmung. Der Morgen war so klar, ein richtiger frischer und würziger Ile-de-France-Morgen. Schon herrschte reges Leben auf den Straßen und ließ die Nähe der großen Stadt ahnen. Die Schlösser und Lusthäuser, beschützt von Gittertoren am Ende kurzer Alleen, wurden zahlreicher. Gemüse- und Obstgärten drängten sich um Gebäude, um einen Bauernhof oder ein kleines Wohnhaus - die letzteren wurden zunehmend häufiger und schlossen sich zu Weilern, zu Dörfern zusammen, die bald ohne Unterbrechung einander folgten.

Angélique glaubte sich bereits in Paris, als man noch die Vororte durchquerte. Und als sie endlich die Porte Saint-Honoré hinter sich gelassen hatte, war sie enttäuscht über die engen und schmutzigen Straßen. Die Rufe der Händler und vor allem der Kutscher, der Lakaien, die den Equipagen und Sänftenträgern vorauszogen, hoben sich vom dumpfen Grollen des allgemeinen Lärms ab, das ihr wie das erste Donnerrollen eines noch fernen Gewitters vorkam. Die Luft war glühend und mit Gestank erfüllt.

Angéliques Kutsche, von Bernard d’Andijos zu Pferde eskortiert und dem Gepäckwagen mit den Lakaien gefolgt, brauchte über eine Stunde bis Saint-Paul. Schließlich bog man in die Rue de la Tournelle ein.

Die Müßiggänger gafften die vorbeifahrende Equipage an und spähten nach dem Wappen, das auf den Wagenschlag gemalt war. Einige wichen wie von Entsetzen gepackt zurück. Kinder rannten davon, liefen schreiend in die Kaufläden, kamen wieder heraus und deuteten aufWagen und Reiter.

Angélique, aufs höchste gespannt, bemühte sich, zwischen den neuen Häusern das ihrige zu entdek-ken, und achtete nicht auf das, was da vorging. Doch als die Kutsche durch einen Heuwagen aufgehalten wurde und vor dem Laden eines Kurzwarenkrämers stehenblieb, hörte sie den Mann von der Schwelle aus rufen: »Der Teufel hat es mit diesem Wappen!«

Dann verschwand er hastig in seinem Laden und verschloß geräuschvoll die Tür.

»Die Leute dieser Straße scheinen uns für Zigeuner zu halten«, bemerkte die Zofe Margot mit zusammengekniffenen Lippen. »Ich bedaure, daß der Herr Graf sein Palais nicht im neuen Stadtteil Luxembourg hat errichten lassen, wo ich früher bei einer inzwischen verstorbenen Tante des Grafen in Stellung war.«

»Hält sich Kouassi-Ba noch unter seiner Plane versteckt? Vielleicht ist es sein Barbarenkopf, der die Leute erschreckt?«

»Das beweist, daß sie selber Barbaren sind, wenn sie noch nie einen Mohren gesehen haben.«

Die Equipage hatte vor einem großen Tor aus hellem Holz mit Türklopfer und Schlössern aus Schmiedeeisen gehalten. Hinter der weißen Steinmauer des Vorhofs erhob sich das Palais, das in modernem Stil aus großen, behauenen Quadern errichtet war, mit hohen, blinkenden Fenstern und einem Dach aus neuen, in der Sonne matt schimmernden Schieferplatten. Ein Lakai öffnete den Wagenschlag.

»Hier ist es, Madame«, sagte der Marquis d’Andijos. Er blieb zu Pferde und starrte wie versteinert auf das Tor.

Angélique stieg aus und lief auf das Häuschen zu, das vermutlich dem Pförtner als Wohnung diente. Zornig zog sie an der Glocke. Es war unerhört, daß noch niemand es für nötig befunden hatte, das Haupttor zu öffnen. Die Glocke schien in der Öde zu verhallen. Die Fenster der Pförtnerwohnung waren schmutzig. Alles wirkte wie ausgestorben.

Nun erst fiel Angélique das merkwürdige Aussehen des Portals auf, das Andijos noch immer wie vom Blitz getroffen anstarrte.

Sie trat näher. Ein Geflecht roter Schnüre hing querüber an dicken Siegeln aus verschiedenfarbigem Wachs. Ein gleichfalls an Siegeln befestigtes Blatt Papier bildete einen weißen Fleck.

Sie las:


Königliches Kammergericht

Paris 1. Juli 1660


Mit offenem Mund starrte sie auf die Schrift, ohne zu begreifen. In diesem Augenblick öffnete sich das Türchen des Pförtnerhauses um eine Spaltbreite, und das ängstliche Gesicht eines Dieners in abgenutzter Livree wurde sichtbar. Beim Anblick der Kutsche zog er sich hastig wieder zurück, dann öffnete er, sich eines Bessern besinnend, von neuem und kam zögernd heraus.

»Seid Ihr der Pförtner hier?« fragte die junge Frau.

»Ja ... ja, Madame, das bin ich. Baptiste ... und ich erkenne wohl die ... die Kutsche von ... von ... meinem ... meinem Herrn.«

»Hör auf zu stottern, Tölpel«, schrie sie und stampfte mit dem Fuße auf. »Und sag mir rasch, wo Monsieur de Peyrac ist?«

Der Bediente spähte ängstlich um sich. Da niemand von den Nachbarn sich zeigte, schien er sicherer zu werden. Er trat einen Schritt näher, hob die Augen zu Angélique auf und fiel plötzlich vor ihr in die Knie, nicht ohne sich auch noch weiterhin besorgt umzublicken.

»O meine arme junge Herrin!« rief er aus. »Mein armer Herr ... o welch furchtbares Unglück!«

»Aber so sprich doch! Was ist denn?«

Sie schüttelte ihn in wilder Angst an der Schulter.

»Steh auf, Dummkopf! Ich verstehe nichts von all-dem, was du sagst. Wo ist mein Gatte? Ist er tot?«

Der Mann richtete sich mühsam auf und murmelte:

»Es heißt, er sei in der Bastille. Das Palais ist versiegelt. Ich hafte mit meinem Leben. Und Ihr, Madame, seht zu, daß Ihr so rasch wie möglich von hier wegkommt, solange es noch Zeit ist.«

Nach der furchtbaren Angst, die sie befallen hatte, wirkte das Wort Bastille fast beruhigend auf Angélique. Aus einem Gefängnis konnte man entlassen werden. Sie wußte, daß in Paris das gefürchtetste Gefängnis das des Erzbischöflichen Palastes war - es lag unter dem Niveau der Seine, und im Winter konnte man da leicht ertrinken - und daß in den beiden nächsten, im Châtelet und im Hôpital Général, nur Bürgerliche verwahrt wurden. Die Bastille war das Gefängnis für Aristokraten. Trotz gewisser finsterer Legenden, die über die Zellen ihrer sechs dicken Türme umliefen, war es allgemein bekannt, daß ein Aufenthalt zwischen ihren Mauern niemand entehrte.

Angélique stieß einen Seufzer aus und bemühte sich, der Situation ins Auge zu sehen.

»Ich glaube, es ist besser, ich bleibe nicht hier«, sagte sie zu Andijos.

»Ja, ja, Madame, geht so rasch wie möglich«, sagte der Diener beschwörend.

»Zuerst muß ich wissen, wohin. Aber ich habe ja eine Schwester hier in Paris. Ich kenne ihre Adresse nicht, ich weiß nur, daß ihr Gatte Staatsanwalt ist, ein gewisser Maître Fallot. Ich glaube sogar, daß er sich seit seiner Vermählung Fallot de Sancé nennt.«

»Wenn wir zum Justizpalast fahren, wird man uns sicher Auskunft geben können.«

Die Kutsche und ihr Gefolge bewegten sich wieder durch Paris. Angélique sah nicht aus dem Fenster. Diese Stadt, die sie so feindselig empfing, übte keinen Reiz mehr auf sie aus. Florimond weinte. Er zahnte, und vergeblich rieb ihm Margot die Kiefer mit einer Tinktur aus Honig und zerstoßenem Fenchel ein.

Schließlich bekam man die Adresse des Staatsanwalts, der wie viele Beamte nicht weit vom Justizpalast auf der Ile de la Cité wohnte. Die Straße hieß Rue de l’Enfer[4], was Angélique als ein düsteres Vorzeichen erschien. Die Häuser waren dort noch grau und mittelalterlich, mit spitzen Giebeln, spärlichen Fensteröffnungen, Skulpturen und Wasserspeiern.

Das, vor dem die Kutsche schließlich hielt, wirkte kaum minder düster als die anderen, obwohl es drei ziemlich hohe Fenster in jedem Stockwerk aufwies.

Im Erdgeschoß befand sich die Kanzlei, an deren Tür ein Schild befestigt war mit der Aufschrift:

»Maître Fallot de Sancé. Staatsanwalt.«

Zwei Gehilfen, die sich auf der Schwelle rekelten, stürzten auf Angélique zu, kaum daß sie den Fuß auf die Erde gesetzt hatte, und überschütteten sie mit einem Schwall von Worten in einem unverständlichen Kauderwelsch. Schließlich erfaßte sie, daß die Burschen ihr die Kanzlei Maître de Sancés als den einzigen Ort in Paris priesen, wo auf das Gewinnen ihres Prozesses erpichte Leute gut beraten würden.