»Ich komme nicht wegen eines Prozesses«, sagte Angélique. »Ich möchte Madame Fallot besuchen.«

Enttäuscht deuteten sie auf eine Tür zur Linken, die zur Privatwohnung des Anwalts führte.

Angélique betätigte den Türklopfer. Ohne das Verschwinden ihres Gatten hätte sie Hortense gewiß nicht aufgesucht. Sie hatte zu dieser Schwester, deren Wesen von dem ihrigen so verschieden war, nie ein herzliches Verhältnis gehabt. Nun wurde sie sich bewußt, daß sie im Grunde eine gewisse Freude empfand, sie wiederzusehen. Die Erinnerung an die kleine Madelon wob ein unsichtbares Band zwischen ihnen. Sie gedachte der Nächte, in denen sie, alle drei in ihrem großen Bett eng aneinandergedrängt, die Ohren gespitzt hatten, um etwa die flüchtigen Schritte des Gespensts von Monteloup zu erlauschen, jener alten, weißen Dame, die mit tastender Hand von Raum zu Raum wanderte. Sie waren sogar fest überzeugt gewesen, in einer bestimmten Winternacht gesehen zu haben, wie sie durch ihr Schlafzimmer schritt ...

So wartete sie in einer gewissen Spannung, daß man ihr öffnen kam.

Eine säuberlich gekleidete, dicke Magd in weißem Häubchen führte sie ins Vestibül, und fast zu gleicher Zeit schon erschien Hortense auf der Höhe der Treppe. Sie hatte die Kutsche vom Fenster aus gesehen.

Angélique hatte den Eindruck, daß ihre Schwester im Begriff gewesen war, ihr um den Hals zu fallen; doch alsbald besann sie sich eines anderen und nahm ein zurückhaltendes Wesen an. Im übrigen war es im Vorraum so dunkel, daß man einander kaum sehen konnte. Sie umarmten sich kühl.

Hortense wirkte noch dürrer und größer als früher.

»Meine arme Schwester!« sagte sie.

»Warum nennst du mich >meine arme Schwester<?« fragte Angélique.

Madame Fallot machte eine auf die Magd bezügliche Geste und zog Angélique in ihr Schlafzimmer. Es war ein großer Raum, der zugleich als Salon diente, denn um das Bett mit seinen schönen Vorhängen und der gelben Damastdecke waren zahlreiche Sessel und Schemel sowie Stühle und Bänke gruppiert. Angélique fragte sich, ob ihre Schwester wohl die Angewohnheit hatte, ihre Freunde auf dem Bett liegend zu empfangen, wie es die Preziösen taten. Freilich hatte Hortense früher als geistreich gegolten und sich einer gewählten Sprache befleißigt.

Auch hier war es infolge der farbigen Fenster dunkel, aber bei der herrschenden Hitze war das nicht unangenehm. Die Fliesen wurden durch hier und dort ausgestreute grüne Grasbüschel kühl gehalten. Angélique sog ihren guten, ländlichen Geruch ein.

»Es ist gemütlich bei dir«, sagte sie zu Hortense.

Ihre Schwester verzog keine Miene.

»Versuche nicht, mich durch dein harmloses Gehabe hinters Licht zu führen. Ich weiß über alles Bescheid.«

»Dann hast du Glück, denn ich muß gestehen, daß ich selber nicht im geringsten weiß, was eigentlich vorgeht.«

»Welche Unvorsichtigkeit, dich hier mitten in Paris zu zeigen!« sagte Hortense, indem sie die Augen zum Himmel aufschlug.

»Hör mal, Hortense, fang nicht wieder an, deine Augen zu verdrehen. Ich weiß nicht, ob dein Mann wie ich ist, aber ich entsinne mich, daß ich diese Grimasse nie mit ansehen konnte, ohne dir eine Ohrfeige zu verabfolgen. Jetzt werde ich dir sagen, was ich weiß, und danach wirst du mir sagen, was du weißt.«

Sie erzählte ihr, wie Graf Peyrac plötzlich verschwunden war, während sie sich wegen der Hochzeit des Königs in Saint-Jean-de-Luz befanden. Da die Mutmaßungen gewisser Freunde sie zu der Ansicht gebracht hätten, er sei entführt und nach Paris gebrächt worden, sei sie ebenfalls in die Hauptstadt gereist. Hier habe sie ihr Palais versiegelt vorgefunden und erfahren, ihr Gatte sei höchstwahrscheinlich in der Bastille.

Hortense sagte streng: »Da konntest du ja wohl ermessen, wie kompromittierend dein Erscheinen am hellichten Tage für einen hohen Beamten des Königs sein mußte. Und dennoch bist du hierhergekommen!«

»Ja, das war freilich gewagt«, erwiderte Angélique, »aber mein erster Gedanke war, daß die Leute meiner Familie mir helfen könnten.«

»Das erstemal, daß du dich deiner Familie erinnerst, wie mir scheint. Ich bin sicher, du wärest niemals zu mir gekommen, wenn du in deinem schönen, neuen Haus in Saint-Paul wie ein Pfau hättest herumstolzieren können. Warum hast du nicht die prächtigen Freunde deines so reichen und schönen Herrn Gemahls um Gastfreundschaft gebeten, all jene Fürsten, Herzöge und Grafen, statt uns durch deine Gegenwart in Unannehmlichkeiten zu bringen?«

Angélique war nahe daran, aufzustehen und türknallend das Haus zu verlassen, aber sie glaubte, von der Straße her das Weinen Florimonds zu hören, und beherrschte sich.

»Hortense, ich mache mir keine Illusionen. Als liebevolle und ergebene Schwester setzt du mich vor die Tür. Aber ich habe ein vierzehn Monate altes Kind bei mir, das gebadet, genährt und frisch gekleidet werden muß. Es ist spät. Wenn ich mich jetzt noch auf die Suche nach einer Unterkunft mache, kann es mir passieren, daß ich an einer Straßenecke nächtigen muß. Nimm mich für diese eine Nacht auf.«

»Das ist für die Sicherheit meines Heims eine Nacht zuviel.«

»Man könnte meinen, ich stände im Ruf, ein lasterhaftes Leben zu führen!«

Madame Fallot kniff die Lippen zusammen, und ihre braunen, lebhaften, wenn auch ziemlich kleinen Augen funkelten.

»Dein Ruf ist nicht fleckenlos. Was den deines Gatten betrifft - der ist grauenvoll.«

Angélique konnte sich angesichts dieser pathetischen Redeweise eines Lächelns nicht erwehren.

»Ich versichere dir, daß mein Gatte der beste aller Männer ist. Du würdest es sofort merken, wenn du ihn kennenlerntest .«

»Gott behüte mich davor! Ich würde vor Angst sterben. Wenn es stimmt, was man mir gesagt hat, dann begreife ich nicht, wie du mehrere Jahre in seinem Hause leben konntest. Er muß dich behext haben.«

Nach kurzer Überlegung fügte sie hinzu:

»Freilich hast du schon als Kind eine ausgesprochene Vorliebe für alle möglichen Laster gehabt.«

»Du bist ja wirklich von seltener Liebenswürdigkeit, meine Teure! Freilich hattest du deinerseits schon als Kind eine ausgesprochene Vorliebe für Verleumdung und Boshaftigkeit.«

»Das wird ja immer schöner! Jetzt beschimpfst du mich auch noch unter meinem eigenen Dach.«

»Weshalb weigerst du dich, mir zu glauben? Ich sage dir, daß mein Mann nur infolge eines Mißverständnisses in der Bastille ist.«

»Wenn er in der Bastille ist, dann deshalb, weil es eine Gerechtigkeit gibt.«

»Wenn es eine Gerechtigkeit gibt, wird er alsbald freigelassen werden.«

»Verstattet mir, mich einzumischen, meine Damen, die Ihr so trefflich über die Gerechtigkeit zu reden wißt«, ließ sich hinter ihnen eine ernste Stimme vernehmen.

Ein Mann hatte den Raum betreten. Er mußte in den Dreißigern sein, wirkte jedoch schon sehr gesetzt. Unter der braunen Perücke trug sein volles, sorgfältig rasiertes Gesicht eine zugleich ernste und aufmerksame Miene zur Schau, die etwas Priesterliches hatte. Er hielt den Kopf leicht zur Seite geneigt wie jemand, der durch seinen Beruf daran gewöhnt ist, vertrauliche Mitteilungen zu empfangen.

An seinem vornehmen, aber nur durch eine schwarze Litze und Hornknöpfe belebten Gewand aus schwarzem Tuch und dem makellosen, jedoch schlichten Kragen erkannte Angélique, daß sie ihren Schwager, den Staatsanwalt, vor sich hatte. Um ihn durch Schmeichelei zu gewinnen, verneigte sie sich vor ihm, aber er trat auf sie zu und küßte sie feierlich auf die Wangen, wie es sich zwischen Familienmitgliedern geziemte.

»Gebraucht nicht die bedingte Form, Madame. Es gibt eine Gerechtigkeit. Und in ihrem Namen heiße ich Euch in meinem Hause willkommen.«

Hortense fuhr wie von der Tarantel gestochen hoch.

»Aber Gaston, Ihr seid wohl nicht bei Trost! Seit ich verheiratet bin, erklärt Ihr mir bis zum Überdruß, daß Eure Karriere vor allem andern den Vorrang hat und daß sie einzig vom König abhängt .«

»Und von der Gerechtigkeit, meine Liebe«, unterbrach ihr Gatte sanft.

»Was nicht hindert, daß Ihr seit einigen Tagen unaufhörlich die Befürchtung äußert, meine Schwester könne bei uns Zuflucht suchen. In Anbetracht dessen, was Ihr über die Verhaftung ihres Mannes wißt, würde eine solche Möglichkeit, wie Ihr sagtet, un-serm sicheren Ruin gleichkommen.«

»Schweigt, Madame, Ihr laßt mich bereuen, in gewissem Maße das Berufsgeheimnis verletzt zu haben, indem ich Euch mitteilte, was ich zufällig erfuhr.«

Angélique beschloß, all ihren Stolz preiszugeben.

»Ihr habt etwas erfahren? O Monsieur, um Gottes willen, laßt es mich wissen! Ich befinde mich seit einigen Tagen in völliger Ungewißheit.«

»Ach, Madame, ich will mich nicht hinter einer falschen Diskretion verschanzen, noch mich in tröstlichen Worten ergeben. Ich gestehe es Euch gleich, ich weiß sehr wenig. Ich habe nur dank einer vertraulichen Mitteilung - mit Entsetzen, wie ich zugeben muß - von der Verhaftung des Grafen Peyrac gehört. Und ich bitte Euch in Eurem wie auch im Interesse Eures Gatten, vorläufig keinen Gebrauch von dem zu machen, was ich Euch anvertrauen werde. Es ist im übrigen, ich wiederhole es, eine recht magere Auskunft. Nämlich: Euer Gatte ist auf Grund eines geheimen Verhaftbefehls dritter Ordnung festgenommen worden, das heißt >im Namen des Königs<. Der betreffende Offizier oder Edelmann wird darin vom König aufgefordert, sich insgeheim, jedoch frei, wenn auch in Begleitung eines königlichen Kommissars, an einen Ort zu begeben, den man ihm bezeichnet. Und was Euren Gatten betrifft, so hat man ihn zuerst nach Fort-Lévêque gebracht und von dort gemäß einer mit

Séguier gezeichneten Anweisung in die Bastille.«

»Ich danke Euch, Maître, für Eure im Grunde beruhigenden Nachrichten. Viele Leute sind in der Bastille gewesen und rehabilitiert wieder herausgekommen, nachdem die Verleumdungen für nichtig erklärt worden waren, die sie dorthin gebracht hatten.«

»Ich sehe, daß Ihr kaltes Blut bewahrt«, sagte Maître Fallot, indem er beifällig nickte, »aber ich möchte Euch nicht die Illusion vermitteln, daß sich die Dinge auf einfache Weise erledigen werden, denn ich habe außerdem erfahren, daß der vom König unterzeichnete Verhaftbefehl die Anweisung enthielt, in die Gefangenenliste weder den Namen noch das Vergehen des Beschuldigten einzutragen.«

»Sicher wünscht der König nicht, einem seiner treuen Untertanen einen Schimpf zuzufügen, bevor er selbst die Dinge untersucht hat, die man ihm vorwirft. Er möchte ihn für unschuldig erklären können, ohne viel Aufhebens zu machen.«

»Oder ihn vergessen.«

»Wieso das, ihn vergessen?« wiederholte Angélique, während sie ein jäher Schauer überkam.

»Es gibt viele Menschen, die man in den Gefängnissen vergißt«, sagte Maître Fallot, indem er die Augen halb schloß und in die Ferne blickte, »so sicher wie im Grunde eines Grabes. Gewiß ist es an sich nicht entehrend, in der Bastille eingesperrt zu sein, denn sie ist das Gefängnis für hervorragende Persönlichkeiten, in das viele Fürsten von Geblüt gelangt sind, ohne daß es ihrer Würde Abbruch getan hätte. Dennoch muß ich nachdrücklich betonen, daß der Umstand, ein anonymer Gefangener zu sein, ein Anzeichen für den außerordentlichen Ernst der Angelegenheit ist.«

Angélique blieb eine Weile stumm. Mit einem Male wurde sie sich ihrer Erschöpfung bewußt, und der Hunger plagte ihren Magen. Oder war es die Angst ...? Sie blickte zu dem Manne auf, den sie als Bundesgenossen zu gewinnen hoffte.

»Da Ihr so gütig seid, mich aufzuklären, Monsieur, sagt mir, was soll ich tun?«

»Noch einmal, Madame, es geht hier nicht um Güte, sondern um Gerechtigkeit. Es ist das Gerechtigkeitsgefühl, das mich dazu treibt, Euch unter meinem Dach aufzunehmen, und da Ihr mich um Rat fragt, werde ich Euch einen andern Anwalt zuweisen. Denn ich fürchte, man wird mich in dieser Angelegenheit als parteiisch und befangen bezeichnen, wenn auch unsere familiären Beziehungen bisher nicht eben eng waren.«

Hortense, die ihren Zorn verbissen hatte, rief mit der scharfen Stimme ihrer frühen Jugend aus:

»Das kann man allerdings sagen. Solange sie ihre Schlösser und das Geld ihres Hinkefußes hatte, hat sie sich nicht um uns gekümmert. Findet Ihr nicht, Graf Peyrac, der dem Parlament von Toulouse angehörte, hätte Euch gewisse Vorteile verschaffen können, indem er Euch hohen Pariser Beamten empfahl?«

»Joffrey hatte kaum Beziehungen zu den Leuten der Hauptstadt.«

»Natürlich! Natürlich!« erklärte die Schwester, indem sie sie nachäffte. »Nur ein paar ganz kleine Beziehungen zum Statthalter des Languedoc und des Béarn, zum Kardinal Mazarin, zur Königin-Mutter und zum König.«