Der kleine Martin reichte ein mit aromatischem Wasser gefülltes Becken und ein Handtuch. Jeder wusch sich die Finger. Der Junge tat seinen Dienst mit ernster Miene. Er hatte ein mageres Gesicht und sah Hortense sehr ähnlich. Es waren noch ein etwa sechsjähriges Bübchen, ein wenig untersetzt wie sein Vater, und ein kleines Mädchen von vier Jahren da, von dem man nur das über den braunen Locken sitzende runde Häubchen sah, weil es hartnäckig den Kopf senkte.

Hortense bemerkte, sie habe noch zwei weitere Kinder gehabt, die früh gestorben seien. Die Kleine käme gerade von der Amme zurück, zu der sie sie gleich nach ihrer Geburt gegeben habe, in ein Holzhauerdorf namens Chaillot in der Nähe von Paris. Deshalb zeige sie sich so scheu und verlange dauernd nach der Bäuerin, die sie aufgezogen habe, sowie nach ihrem Milchbruder.

In diesem Moment hob das Mädelchen ein wenig den Kopf, und Angélique sah seinen klaren Blick.

»Oh, sie hat grüne Augen!« rief sie aus.

»Ja, leider’«, seufzte Hortense gereizt.

»Fürchtest du, daß neben dir eine zweite Angélique aufwachsen könnte?«

»Ich weiß nicht. Es ist eine Farbe, die mir kein Vertrauen einflößt.«

Am anderen Ende des Tisches saß weise und stumm ein Greis, der Onkel Maître Fallots, ein ehemaliger Beamter.

Zu Beginn der Mahlzeit ließen er und sein Neffe mit der gleichen heimlichen Geste ein Stückchen Horn vom Einhorn in ihre Gläser gleiten. Das erinnerte Angélique daran, daß sie am Morgen unterlassen hatte, die Giftpastille einzunehmen, an die sie sich nach Joffreys Wunsch gewöhnen sollte.

Die Bedienerin reichte die Suppe. Das gestärkte weiße Tischtuch zeigte noch die Falten vom Plätten in regelmäßiger Viereckform.

Das Silber war recht schön, aber die Familie Fallot benützte keine Gabeln, deren Gebrauch noch nicht allgemein verbreitet war. Joffrey war es gewesen, der Angélique gelehrt hatte, sich ihrer zu bedienen, und sie erinnerte sich, daß sie sich am Tage ihrer Hochzeit in Toulouse mit diesem Instrument in der Hand reichlich ungeschickt vorgekommen war. Es gab mehrere aus Fisch, Eiern und Milchspeise bestehende Gänge. Angélique vermutete, daß ihre Schwester zwei oder drei Gerichte aus einer benachbarten Bratküche hatte kommen lassen, um das Menü zu vervollständigen.

»Du darfst meinetwegen aber keine Umstände machen, Hortense.«

»Bildest du dir ein, die Familie eines Staatsanwalts ißt nur Haferbrei und Kohlsuppe?« erwiderte die Schwester scharf.

Am Abend konnte Angélique trotz ihrer Müdigkeit lange nicht einschlafen. Sie lauschte den Rufen, die aus den stickigen Gassen der unbekannten Stadt heraufdrangen.

Das Glöckchen eines Totenausrufers erklang.

»Betet zu Gott, ihr Schläfer allzumal, daß er die Toten aufnehm’ in seinen Himmelssaal.«

Angélique erschauerte und barg ihr Gesicht im Kopfkissen. Sie tastete nach dem langen, warmen Körper Joffreys. Wie sehr sehnte sie sich nach seiner Heiterkeit, seiner Lebhaftigkeit, seiner wunderbaren, stets gütigen Stimme, seinen liebkosenden Händen!

Wann würden sie einander wiederfinden? Wie glücklich würden sie dann sein! Sie würde sich in seine Arme schmiegen und ihn bitten, sie an sich zu drücken, sie ganz fest an sich zu pressen .!

Sie schlief ein, das Kopfkissen aus grobem, nach Lavendel duftendem Leinen im Arm.

Angélique schob den hölzernen Ladenflügel zurück, dann rüttelte sie an dem bunten Butzenscheibenfenster. Schließlich gelang es ihr, es zu öffnen. Man mußte Pariser sein, um bei solcher Hitze bei geschlossenem Fenster schlafen zu können. Sie atmete die frische Morgenluft ein, dann hielt sie verblüfft und staunend inne.