»Den vom König unterzeichneten Verhaftbefehl.«
»Sehr richtig, Maître. Der König. Vom König müssen wir ausgehen.«
Der junge Advokat faßte sich ans Kinn und runzelte die Stirn.
»Nicht eben günstig. Als Anhaltspunkt einer Fährte kann man kaum höher greifen.«
»Ich habe die Absicht, Mademoiselle de Montpen-sier aufzusuchen, die Base des Königs«, sagte Angélique. »Vielleicht kann ich von ihr genauere Auskünfte bekommen, besonders wenn es sich um eine Hofkabale handelt, wie ich vermute. Und über sie kann ich möglicherweise bis zu Seiner Majestät vordringen.«
»Mademoiselle de Montpensier, pah!« machte der andere mit verächtlicher Miene. »Diese lange Hopfenstange ist eine ungeschickte Person, die alles verdirbt. Vergeßt nicht, Madame, daß sie eine Anhängerin der Fronde war und auf die Truppen ihres königlichen Vetters schießen ließ. Aus diesem Grunde wird sie bei Hofe immer verdächtig bleiben. Im übrigen ist der König neidisch auf ihren ungeheuren Reichtum. Sie wird bald einsehen, daß es nicht in ihrem Interesse liegt, sich den Anschein zu geben, einen in Ungnade gefallenen Edelmann zu stützen.«
»Ich glaube und ich habe es auch immer sagen hören, daß die Grande Mademoiselle ein gutes Herz hat.«
»Gebe der Himmel, daß sie es Euch beweist, Madame. Als Pariser Kind setze ich kein allzu festes Vertrauen in die Herzen der Großen, die das Volk mit den Früchten ihrer Zwistigkeiten nähren. Aber unternehmt ruhig diesen Schritt, Madame, wenn Ihr ihn für nützlich haltet. Ich empfehle Euch jedoch, Euch Mademoiselle wie auch allen anderen hohen Persönlichkeiten gegenüber eines sachlichen Tons zu befleißigen, ohne auf die Ungerechtigkeit Nachdruck zu legen, die Euch zugefügt worden ist.«
»Habe ich es nötig, mir von einem kleinen Advokaten mit durchgetretenen Schuhen sagen zu lassen, wie man mit den Leuten vom Hof redet?« sagte sich Angélique ärgerlich.
Trotzdem zog sie ihre Geldbörse hervor und entnahm ihr einige Silberstücke.
»Hier ist ein Vorschuß auf die Unkosten, die Euch durch Eure Nachforschungen entstehen könnten.«
»Ich danke Euch, Madame«, erwiderte der Advokat und steckte die Geldstücke, nachdem er einen Blick auf sie geworfen hatte, befriedigt in einen Lederbeutel, den er an seinem Gürtel trug und der sehr flach wirkte.
Darauf verbeugte er sich sehr höflich und ging hinaus.
Sofort sprang eine große Dogge mit weißem, braungesprenkeltem Fell auf, die geduldig an der Hausecke gewartet hatte, und heftete sich an die Fersen des Advokaten. Dieser, die Hände in den Taschen, entfernte sich lustig pfeifend.
»Dieser Mann flößt mir wenig Vertrauen ein«, sagte Angélique zu ihrem Schwager. »Ich halte ihn für einen Schwätzer und zugleich für einen unfähigen Großtuer.«
»Er ist ein überaus tüchtiger Bursche«, versicherte der Staatsanwalt, »aber er ist arm ... wie viele seinesgleichen. Es gibt in Paris unzählige Advokaten ohne Mandanten. Dieser da muß seine Praxis von seinem Vater geerbt haben, denn er hätte sie nicht kaufen können. Aber ich habe ihn Euch empfohlen, weil ich einerseits seine Intelligenz schätze und weil er andererseits nicht viel von Euch verlangen wird. Mit der kleinen Summe, die Ihr ihm gegeben habt, wird er Wunder ausrichten.«
»Die Geldfrage darf keine Rolle spielen. Wenn es nötig ist, werden die berühmtesten Advokaten meinem Manne Beistand leisten.«
Maître Fallot warf einen zugleich hochmütigen und listigen Blick auf Angélique.
»Habt Ihr ein unerschöpfliches Vermögen zu Eurer Verfügung?«
»Hier nicht, aber ich werde den Marquis d’Andijos nach Toulouse schicken. Er wird unseren Bankier aufsuchen und ihn beauftragen, falls ich sofort flüssiges Geld brauche, ein paar Ländereien zu verkaufen.«
»Fürchtet Ihr nicht, Euer toulousanischer Besitz könne beschlagnahmt und versiegelt sein wie Euer Palais in Paris?«
Angélique starrte ihn entsetzt an; daran hatte sie noch nicht gedacht.
»Das ist unmöglich«, stammelte sie. »Weshalb sollte man das getan haben? Warum sollte man uns so hartnäckig verfolgen? Wir haben niemandem ein Unrecht zugefügt.«
Der Staatsanwalt machte eine salbungsvolle Gebärde.
»Ach, Madame! Gar viele Leute, die in diese Kanzlei kommen, äußern die gleichen Worte. Wenn man ihnen so zuhört, könnte man glauben, niemand füge je einem andern ein Unrecht zu. Und dennoch gibt es immer wieder Prozesse .«
»Und Arbeit für die Staatsanwälte«, dachte Angélique.
Mit dieser neuerlichen Unruhe im Herzen hatte sie wenig Sinn für den Spaziergang, der sie durch die Rue de la Colombe, die Rue des Marmousets und die Rue de la Lanterne vor den Justizpalast führte. Sie folgten dem Quai de l’Horloge und erreichten den Pont-Neuf am äußersten Ende der Insel. Seine Belebtheit begeisterte die Dienstboten. Kleine fliegende Kramläden drängten sich um die Bronzestatue des guten Königs Heinrich IV., und tausend Rufe priesen eine Unmenge der verschiedenartigsten Waren an. Hier war es ein wunderwirkendes Pflaster, dort zog man schmerzlos Zähne, dort wurden Bücher verkauft, dort Spielzeug, dort Halsketten aus Schildkrot gegen Leibschmerzen. Man hörte Trompeten blöken und Spieldosen schnarren. Eine abgezehrte, in ein vertragenes Kostüm gekleidete Gestalt schob Angélique ein Stück Papier in die Hand und verlangte zehn Sols dafür. Sie gab sie ihr mechanisch und steckte das Blatt in die Tasche. Dann forderte sie ihre Trabanten auf, sich etwas mehr zu beeilen.
Sie war nicht in der Stimmung, dieses lärmende Treiben zu genießen. Überdies wurde sie bei jedem Schritt von Bettlern aufgehalten, die plötzlich vor ihr auftauchten und auf eine eitrige Wunde deuteten, oder von zerlumpten Weibern, die Kinder auf dem Arm trugen, deren schorfige Gesichter von Fliegen bedeckt waren. Sie traten aus dem Schatten der Toreinfahrt, aus dem Winkel eines Kaufladens, tauchten über den Uferböschungen auf und stießen jammernde Rufe aus, die alsbald einen drohenden Ton annahmen.
Schließlich fühlte sich Angélique angeekelt, und da sie auch keine Münzen mehr hatte, wies sie Kouassi-Ba an, das Bettelvolk zu verjagen. Sofort fletschte der Schwarze seine Kannibalenzähne und drohte einem an Krücken humpelnden Manne, der eben auf sie zukam, worauf dieser sich mit erstaunlicher Behendigkeit aus dem Staube machte.
»Das hat man davon, wenn man wie ein armer Schlucker zu Fuß geht«, bemerkte die große Margot in beleidigtem Ton.
Der kleine Trupp durchschritt die endlose Galerie des Louvre, die das Königsschloß mit der Tuilerien-Residenz verbindet.
Eben erst vollendet und aus scharfkantigen Steinen von zartem Grau gefügt, das mit dem Pariser Himmel übereinstimmt, entfaltete die große, an der Wasserseite gelegene Galerie ihre abwechselnd dreieckigen und runden Giebel, ihre regelmäßige, schlichte, nur von griechischen Pilastern mit Akanthusblättern belebte Fassade.
Angélique, die für so strenge Reize nicht recht empfänglich war, fand vor allem, daß dieses lange Gemäuer kein Ende nahm. Es kam ihr düster vor. Es hieß, die lange Galerie sei von Karl IX. erbaut worden, dem verbrecherischen König, der darauf bedacht gewesen war, im Falle eines Aufruhrs aus Paris fliehen zu können, ohne seinen Palast verlassen zu müssen. Tatsächlich konnte er über die große Galerie vom Louvre in den Stall der Tuilerien gelangen, sich dort aufs Pferd schwingen und durch die Pforte Saint-Honoré sofort das freie Feld erreichen.
Angélique stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, als sie endlich den Tour du Bois erblickte, den zerfallenden und von Efeu bedeckten Überrest der Stadtmauer des alten Paris. Kurz danach tauchte der Pavillon de Flore auf, der die Galerie abschloß und sie in rechtem Winkel mit dem Tuilerien-Schloß verband.
Die Luft wurde kühler. Ein leichter Wind erhob sich von der Seine und verwehte die übelriechenden Ausdünstungen der Stadt.
Endlich betrat man die Tuilerien, den mit tausend Ornamenten verzierten, mit einer mächtigen Kuppel und kleinen Hauben versehenen Palast, eine Sommerresidenz von weiblicher Grazie, denn sie war für eine Frau erbaut worden, für Katharina von Mediä, die prunkliebende Italienerin.
Hier hieß man sie warten. Die Grande Mademoiselle war zum Luxembourg gefahren, um ihren Einzug vorzubereiten, denn Monsieur, der Bruder des Königs, war entschlossen, sie aus den Tuilerien zu vertreiben, in denen sie doch schon seit Jahren wohnte. Er hatte sich mit seinem gesamten Gefolge in einem Flügel des Palastes niedergelassen. Mademoiselle hatte ihn freimütig einen infamen Intriganten genannt, worauf es zu einem großen Gezeter gekommen war. Schließlich gab Mademoiselle wie immer nach. Sie war eben wirklich zu gutmütig.
Monsieur de Préfontaines, ihr Kammerherr, der Angélique all dies anvertraute, schlug die Augen zum Himmel auf und bat die junge Frau, in einem kleinen Salon Platz zu nehmen, dessen Fenster nach den Tuileriengärten gingen; dann fuhr er mit seinen Klagen fort. Ach, das war ja noch nicht alles! Mademoiselle wünschte sich durch Augenschein von der Vermögenslage ihres verstorbenen Vaters zu überzeugen. Vor drei Tagen war man zurückgekehrt, und seitdem lief sie mit einem Schwarm von Advokaten und Aktuaren herum und vertiefte sich in alte Aktenstücke, als habe sie den Ehrgeiz, Kanzleiangestellte eines Anwalts zu werden.
Und auch damit noch nicht genug, Gott sei’s geklagt! Denn da wartete ein Abgesandter des Königs von Portugal, der den Auftrag hatte, über die Heirat seines Monarchen mit der reichen Erbin zu verhandeln.
»Aber das ist doch großartig«, sagte Angélique. »Mademoiselle ist bezaubernd, und ich bin überzeugt, daß sie schon viele schmeichelhafte Anträge europäischer Fürstlichkeiten bekommen hat.«
»O ja, das hat sie allerdings«, stimmte der gute Monsieur de Préfontaines zu, »bis zu einem Prinzen in der Wiege, der ihr erst vor sechs Monaten angetragen wurde. Aber Mademoiselle ist schwierig. Ich weiß tatsächlich nicht, ob sie sich überhaupt einmal entscheiden wird. Sie fühlt sich in Paris so wohl, daß sie nie den Mut aufbringen wird, an einem langweiligen kleinen Hof in Deutschland oder Italien zu leben. Was Seine Majestät Alphons IV. von Portugal betrifft, so hat sie mich gebeten, den Jesuiten, den er mit der Überbringung seiner Botschaft beauftragt hat, noch hinsichtlich einiger Einzelheiten auszuhorchen. Ja, nun muß ich mich zurückziehen, Madame. Vergebt mir.«
Allein geblieben, setzte sich Angélique ans Fenster und betrachtete den wunderbaren Garten. Jenseits der mosaikartigen Blumenbeete sah man die weißen Flocken einer großen Mandelbaum-Anpflanzung schimmern und etwas weiter entfernt die grüne Masse des Parks.
Angélique genoß die ländliche Luft und schaute den sich drehenden kleinen Windmühlen auf den fernen Anhöhen von Chaillot, Passy und Roule zu. Gegen Mittag entstand endlich Bewegung im Schloß, und Mademoiselle de Montpensier erschien, schwitzend und sich fächelnd.
»Meine kleine Freundin«, sagte sie zu Angélique, »Ihr kommt immer im richtigen Augenblick. Wenn ich von lauter albernen Ohrfeigengesichtern umgeben bin, hat Euer reizendes Gesichtchen mit den klugen und klaren Augen etwas ... ja etwas geradezu Erfrischendes für mich. Wird man uns nun endlich Limonade und Eis bringen oder nicht?«
Sie ließ sich in einen Sessel sinken und kam allmählich zu Atem.
»Daß Ihr’s nur wißt: Ich hätte heute morgen den kleinen Monsieur am liebsten erdrosselt, und das wäre mir nicht schwergefallen. Er verjagt mich aus diesem Palast, in dem ich seit meiner Kindheit gelebt, ja, ich möchte sogar sagen: geherrscht habe. Von hier aus habe ich meine Diener und meine Wachen auf die Leute Mazarins gehetzt. Der Kardinal wollte sich dem Volkszorn durch die Flucht entziehen, aber unversehens konnte er nicht mehr aus Paris heraus. Um ein Haar hätte man ihn ermordet und seine Leiche in den Fluß geworfen.«
»Seine Eminenz scheint es Euch nicht nachzutragen.«
»Oh, er ist äußerst liebenswürdig. Was wollt Ihr? Die Fronde ist vorbei. Aber es war höchste Zeit. Wenn ich durch Paris galoppierte, jubelte mir das Volk zu und ließ die Ketten fallen, mit denen es die Straßen verbarrikadiert hatte. Jetzt langweile ich mich. Ich müsse heiraten, sagt man. Was haltet Ihr von diesem Alphonso von Portugal?
»Ich gestehe Eurer Hoheit, daß ich noch nie etwas von ihm gehört habe.«
»Préfontaines hat mir da gerade einiges mitgeteilt, was mich kaum ermuntert. Er scheint ein kleiner Dickwanst mit unangenehmem Körpergeruch zu sein, der dauernd Geschwüre zwischen seinen Speckfalten hat .«
»Ich verstehe, daß Eure Hoheit sich nicht für ihn begeistern kann .«
Angélique fragte sich, ob sie angesichts dieses Wortschwalls das Thema würde anschlagen können, das ihr am Herzen lag. Sie mußte an die Skepsis des jungen Advokaten hinsichtlich der Hochherzigkeit der Großen denken. Schließlich nahm sie all ihren Mut zusammen und sagte:
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