»Wie kommst du nur auf so unsinnige Gedanken! Die Diener, die auf einen üblen Streich aus waren, hätten jeden beliebigen Wagen angegriffen .«
»So! Wie kommt es dann, daß der, der auf Euch schoß, ausgerechnet Euer ehemaliger Haushofmeister Clément Tonnel war?«
Angélique sah sich in dem jetzt verlassenen Vorzimmer um, an dessen Wände die steilen Flammen der Wachskerzen regungslose Schatten warfen.
»Bist du dessen gewiß, was du da sagst?«
»Ich verbürge mich mit meinem Leben dafür. Ich habe ihn ganz deutlich erkannt, trotz des in die Stirn gezogenen Huts. Vermutlich hat man ihn ausgesucht, weil er Euch gut kennt und man die Gewißheit hatte, daß er sich nicht in der Person irren würde.« - »Wer ist das: >man<?« - »Wie soll ich das wissen?« fragte die Kammerfrau achselzuckend. »Aber ich habe noch eine weitere Vermutung: daß nämlich dieser Mann ein Spitzel war. Er hat mir nie Vertrauen eingeflößt. Erstens stammte er nicht aus unserer Gegend. Dann konnte er nicht lachen. Schließlich schien er immer auf irgend etwas zu lauern, und selbst bei der Arbeit schnüffelte er noch überall herum . Warum er Euch hat umbringen wollen, ist mir allerdings genau so unerklärlich wie die Tatsache, daß Euer Gatte sich im Gefängnis befindet, aber man müßte blind sein und taub und blöde obendrein, um nicht zu erkennen, daß Ihr Feinde habt, die Euren Untergang beschlossen haben.«
Angélique fröstelte und hüllte sich enger in ihren weiten Umhang aus brauner Seide.
»Ich weiß nicht, wer einen Grund dazu haben könnte. Und weshalb sollte man gerade mich umbringen wollen?«
Blitzartig erschien die Vision des Giftkästchens vor ihren Augen. In dieses Geheimnis hatte sie nur Joffrey eingeweiht. War es möglich, daß diese alte Geschichte immer noch spukte?
»Gehen wir, Madame«, wiederholte Margot in drängendem Ton.
In diesem Augenblick hallten Schritte in der Galerie. Angélique begann zu zittern. Jemand näherte sich. Sie erkannten den Chevalier de Lorraine, der einen Leuchter mit drei Kerzen trug. Die Flammen beleuchteten sein kantiges, ein wenig verfettetes Gesicht, dessen leutseliger Ausdruck kaum über die brutalen Züge hinwegtäuschte.
»Seine Königliche Hoheit bedauert unendlich«, sagte er mit einer Verbeugung. »Sie ist aufgehalten worden und kann zu der für heute abend mit Euch vereinbarten Verabredung nicht erscheinen. Seid Ihr mit einer Verschiebung auf morgen zur gleichen Stunde einverstanden?«
Angélique war grenzenlos enttäuscht. Gleichwohl stimmte sie der neuen Verabredung zu.
Der Chevalier de Lorraine sagte ihr, die Tore der Tuilerien seien geschlossen; er werde sie zum andern Ende der Großen Galerie geleiten. Wenn sie von dort aus einen kleinen Garten durchquerten, den sogenannten Garten der Infantin, würden sie mit wenigen Schritten den Pont-Neuf erreichen.
Der Chevalier schritt voraus und hielt seinen Leuchter in die Höhe. Seine hölzernen Absätze erzeugten auf den Fliesen des Flurs ein unheimlich hallendes Geräusch. Von Zeit zu Zeit begegnete man einer Wache, oder eine Tür öffnete sich, und ein la-chendes Paar erschien. An ihm vorbei konnte man einen Blick in einen festlich erleuchteten Salon werfen, in dem eine Gesellschaft beim Kartenspiel saß. Irgendwo hinter Wandteppichen spielten Violinen eine zierliche, sanfte Weise.
Endlich schien der Weg ein Ende zu nehmen. Der Chevalier de Lorraine blieb stehen.
»Hier ist die Treppe, über die Ihr zu den Gärten gelangt. Ihr werdet alsbald zu Eurer Rechten eine kleine Pforte finden, die ins Freie führt.«
Angélique wagte nicht zu sagen, daß sie keinen Wagen hatte, und er erkundigte sich auch nicht danach. Er verbeugte sich mit der Korrektheit eines Mannes, der seinen Auftrag ausgeführt hat, und entfernte sich.
Abermals nahm Angélique die Kammerfrau beim Arm.
»Beeilen wir uns, Margot, Liebe. Ich bin nicht ängstlich, aber dieser nächtliche Spaziergang ist mir ganz und gar nicht sympathisch.«
Rasch stiegen sie die steinernen Stufen hinunter.
Ihr kleiner Schuh war es, der Angélique rettete. Sie war den ganzen Tag über so viel gegangen, daß das brüchig gewordene Leder band plötzlich riß. Während Margot erkundend zum Fuß der Treppe vorausging, beugte sie sich nieder, um zu versuchen, den Schaden notdürftig zu beheben.
Mit einem Male erklang ein markerschütternder Schrei in der Finsternis, der Schrei einer in Todesnotbefindlichen Frau.
»Zu Hilfe, Madame, man ermordet mich ...! Flieht! Flieht!«
Dann verstummte die Stimme.
Ein grausiges Stöhnen ließ sich vernehmen, das allmählich schwächer wurde.
Starr vor Entsetzen tastete Angélique vergeblich in dem finsteren Treppenschacht umher, dessen Stufen sich nicht erkennen ließen. Sie rief:
»Margot! Margot!«
Ihre Stimme verhallte in tiefer Stille. Die kühle, vom Duft der Orangenbäume im Garten erfüllte Nachtluft drang bis zu ihr, aber kein Laut war mehr zu hören. - Von Panik erfaßt, lief Angélique wieder die Treppe hinauf und gelangte in die erleuchtete Große Galerie. Ein Offizier kam ihr entgegen. Sie stürzte auf ihn zu.
»Monsieur! Monsieur! Zu Hilfe! Man hat meine Dienerin ermordet.«
Um einiges zu spät erkannte sie den Marquis de Vardes, aber in ihrem Entsetzen schien er ihr von der Vorsehung gesandt.
»Nanu, da haben wir ja die Frau in Gold!« sagte er in seinem spöttischen Ton. »Die Frau mit den flinken Fingern!«
»Monsieur, Eure Scherze sind übel angebracht. Ich wiederhole: Man hat meine Dienerin ermordet.«
»Na und? Soll ich vielleicht darüber weinen?«
Angélique rang die Hände.
»Aber es muß doch etwas geschehen. Man muß die Räuber verjagen, die sich unter jener Treppe verbergen. Margot ist vielleicht nur verletzt?«
Er lächelte immer noch, während er sie betrachtete.
»Immerhin kommt Ihr mir weniger arrogant vor als bei unserer ersten Begegnung. Und die Erregung steht Euch nicht schlecht zu Gesicht.«
Sie war nahe daran, ihn zu ohrfeigen. Aber sie hörte, wie er den Degen zog, während er gelassen sagte:
»Wir wollen mal nachsehen.«
Bemüht, nicht zu zittern, folgte sie ihm und stieg an seiner Seite die ersten Stufen hinab.
Der Marquis beugte sich über das Geländer.
»Man sieht nichts, aber man riecht. Die Witterung des Gesindels trügt selten: Zwiebel, Tabak und dunkler Wein der Schenken. Es müssen vier oder fünf sein, die da drunten rumoren.« Er faßte sie am Handgelenk: »Horcht!«
Das Geräusch eines ins Wasser stürzendes Körpers zerriß die düstere Stille. »Aha. Sie haben die Leiche in die Seine geworfen.«
Er schaute sie mit halbgeschlossenen Augen an wie ein Reptil, das seine Beute belauert, und fuhr fort:
»Oh, der Ort ist geradezu klassisch! Da drunten ist eine kleine Pforte, die man häufig abzuschließen vergißt, zuweilen absichtlich. Es ist ein leichtes, dort ein paar gedungene Mörder zu postieren. Die Seine ist zwei Schritte entfernt. Die Sache ist rasch erledigt. Spitzt Euer Ohr ein wenig, Ihr werdet sie flüstern hören. Sie sind sich vermutlich klargeworden, daß sie nicht die Person erwischt haben, die man ihnen bezeichnet hatte. Ihr müßt ja beachtliche Feinde haben, meine Teuerste?«
Angélique biß die Zähne zusammen.
Mühsam brachte sie endlich heraus:
»Was werdet Ihr tun?«
»Im Augenblick nichts. Ich verspüre keine Lust, meinen Degen mit den rostigen Rapieren dieser Banditen zu kreuzen. Aber in einer Stunde werden die Schweizer die Wache in diesem Winkel übernehmen. Die Mörder werden sich aus dem Staube machen, um sich nicht ertappen zu lassen. Jedenfalls könnt Ihr dann unbesorgt vorbeigehen. Inzwischen ...«
Er hielt sie noch immer am Handgelenk fest und führte sie in die Galerie zurück. Sie folgte ihm willenlos und wie betäubt. Immer die gleiche Gedankenfolge ging ihr im Kopf herum:
»Margot ist tot . Man hat mich umbringen wollen ... Es ist das zweitemal ... Und ich weiß nichts, gar nichts . Margot ist tot .«
Vardes hatte sie in eine Art Nische geleitet, die offenbar als Vorraum für eine angrenzende Zimmerflucht diente. Geruhsam schob er seinen Degen in die Scheide, schnallte sein Wehrgehänge ab und legte es zusammen mit der Waffe auf die Konsole. Dann trat er auf Angélique zu.
Sie erfaßte plötzlich, was er wollte, und stieß ihn mit Abscheu zurück.
»Ich habe gerade erleben müssen, Monsieur, daß man ein Mädchen ermordete, dem ich zugetan war, und Ihr glaubt, ich würde mich bereit finden .?«
»Es ist mir völlig gleichgültig, ob Ihr Euch bereit findet oder nicht. Was die Frauen im Kopf haben, kümmert mich nicht. Ich interessiere mich für sie nur vom Gürtel an abwärts. Die Liebe ist eine Formalität. Wißt Ihr nicht, daß die schönen Damen auf diese Weise ihren Wegezoll auf den Gängen des Louvre entrichten? Also seid vernünftig.«
Im Dunkeln sah sie ihn nicht, aber sie erriet das süffisante und ein wenig brutale Lächeln auf seinem hübschen Gesicht. Ein matter Schimmer fiel von der Galerie her auf seine hellblonde Perücke.
»Ihr werdet mich nicht anrühren«, sagte sie keuchend, »sonst rufe ich.«
»Rufen würde nichts nützen. In diesen Winkel kommt selten jemand. Ihr würdet mit Euerm Geschrei höchstens die Herren mit den rostigen Rapieren anlocken. Macht keinen Skandal, meine Liebe. Ich will Euch haben, und ich werde Euch haben. Das ist längst beschlossene Sache, und das Schicksal ist mir zu Hilfe gekommen. Wollt Ihr lieber allein nach Hause gehen?«
»Ich werde mir schon Schutz suchen.«
»Wer soll Euch in diesem Palast beschützen, in dem sich alles gegen Euch verschworen zu haben scheint? Wer hat Euch zu jener berüchtigten Treppe geleitet?«
»Der Chevalier de Lorraine.«
»Sieh an! Da steckt also der kleine Monsieur dahinter. Nun, es wäre nicht das erstemal, daß er eine hin-derliche >Rivalin< aus dem Wege räumt. Ihr seht also, daß es in Eurem Interesse liegt, zu schweigen .«
Sie blieb stumm, und als er sich ihr von neuem näherte, rührte sie sich nicht mehr.
Ohne jede Hast, in schamloser Gelassenheit, hob er ihre langen Taftröcke, und sie spürte, wie seine warmen Hände genießerisch über ihre Hüften und Schenkel strichen.
»Bezaubernd«, sagte er mit gedämpfter Stimme. »Ein Genuß ohnegleichen.«
Angélique war außer sich vor Scham und Angst. In ihrem verwirrten Geist jagten sich die absurdesten Bilder: der Chevalier de Lorraine mit seinem Leuchter, die finstere Bastille, Margots Schrei, das Giftkästchen. Dann erlosch alles, und sie wurde von der Angst überwältigt, von der physischen Panik der Frau, die nur einen einzigen Mann gehabt hat. Diese neue Berührung beunruhigte sie und stieß sie ab. Sie wand sich und versuchte, sich der Umschlingung zu entziehen. Sie wollte schreien, aber kein Laut kam aus ihrer Kehle. Gelähmt, zitternd ließ sie sich nehmen und erfaßte kaum, was mit ihr geschah .
Ein Lichtschein fiel plötzlich ins Innere des Raums. Dann zog ein vorbeikommender Edelmann rasch einen Leuchter zurück und entfernte sich lachend, indem er rief: »Ich habe nichts gesehen.« Die Bewohner des Louvre schienen an solche Szenen gewöhnt zu sein.
Der Marquis de Vardes hatte sich durch diesen kleinen Zwischenfall nicht stören lassen. Erschöpft und halb ohnmächtig überließ sich Angélique den männlichen Armen, die sie umklammerten. Doch ganz allmählich versetzte sie die Neuartigkeit dieses Liebesspiels in eine Erregung, die sie nicht zu bekämpfen versuchte. Als sie sich dessen bewußt wurde, war es zu spät. Der Funke der Wollust entzündete ein vertrautes Verlangen in ihr, das sich bald zu einem verzehrenden Feuer steigerte.
Der junge Mann durchschaute sie. Er lachte spöttisch und bot all seine Liebeskünste auf.
Noch einmal lehnte sie sich innerlich auf, wandte den Kopf ab und seufzte ganz leise: »Nein, nein!« Aber der Widerstand beschleunigte nur ihre Niederlage. Bald gab sie ihre Passivität auf und drängte sich hemmungslos an ihn, überwältigt vom Strom der Lust. Im Gefühl seines Triumphs erließ er ihr nichts, und sie gab sich ihm hin, willenlos, mit halbgeöffneten Lippen und jenen röchelnden Lauten in der Kehle, die den Groll und die Dankbarkeit des besiegten Weibes ausdrücken.
Kaum hatten sie sich gelöst, als sich Angélique auch schon von einem furchtbaren Schamgefühl überwältigt fühlte. Sie barg das Gesicht in den Händen. Am liebsten wäre sie im Erdboden versunken, um nie wieder das Licht sehen zu müssen.
Wortlos schnallte der Offizier seinen Degen um.
»Die Wachen müssen jetzt da sein«, sagte er. »Komm.«
Da sie sich nicht rührte, nahm er sie beim Arm und zog sie aus der Nische. Sie machte sich los, folgte ihm jedoch stumm. Das Schamgefühl brannte noch immer wie glühendes Eisen. Nie mehr würde sie Joffrey ins Gesicht sehen, nie mehr Florimond in die Arme nehmen können. Vardes hatte alles zerstört, alles geschändet. Sie hatte das einzige verloren, was ihr blieb: das Wissen um ihre Liebe.
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