Sie habe es ja immer gesagt. Eine Herumtreiberin, das sei Angélique schon seit ihrer frühen Kindheit gewesen. Eine Intrigantin. Eine ehrgeizige Person, die nur auf das Vermögen ihres Mannes aus gewesen sei und obendrein noch vorgebe, ihn zu lieben, während sie sich nicht entblöde, sich mit Wüstlingen in den verrufensten Gegenden von Paris herumzutreiben.
Angélique hatte kein Ohr für sie. Sie horchte angespannt auf die Straße hinaus und vernahm ganz deutlich Waffengeklirr, dann einen dumpfen Schrei und eilig sich entfernende Schritte.
»Hör doch«, murmelte sie und packte Hortense ängstlich beim Arm.
»Was denn?«
»Dieser Schrei! Sicher ist jemand verwundet worden.«
»Na und? Die Nacht gehört den Räubern und Raufbolden. Keine anständige Frau würde auf den Gedanken kommen, sich nach Sonnenuntergang in Paris herumzutreiben. Außer meiner leiblichen Schwester!«
Sie hob die Kerze hoch, um Angéliques Gesicht zu beleuchten.
»Du solltest dich nur im Spiegel betrachten. Puh! Du siehst aus wie eine Dirne, die eine geschäftige Nacht hinter sich hat.«
Angélique riß ihr den Leuchter aus den Händen.
»Und du siehst wie eine alte Jungfer aus, deren Nächte zu ruhig sind. Leg dich doch wieder zu deinem eheherrlichen Staatsanwalt, der nichts Besseres zu tun weiß als zu schnarchen.«
Sie blieb lange am Fenster sitzen und konnte sich nicht entschließen, sich hinzulegen und zu schlafen. Sie weinte nicht. Sie erlebte ein zweites Mal die verschiedenen Etappen dieses furchtbaren Tages. Es kam ihr vor, als sei ein Jahrhundert seit jenem Augenblick vergangen, da Barbe mit den Worten ins Zimmer getreten war: »Hier ist gute Milch für den Kleinen.« Inzwischen war Margot ums Leben gekommen, und sie selbst hatte Joffrey betrogen.
»Wenn es mir nur nicht solches Vergnügen gemacht hätte!« sagte sie sich immer wieder; und aufs neue überkam sie ein Schauer der Wollust und des Grausens.
Die Begierde ihres Körpers entsetzte sie. Solange sie an Joffreys Seite gewesen war, hatte sie nicht gewußt, in welchem Maße sein häufig wiederholter Ausspruch zutraf: »Ihr seid für die Liebe geschaffen.«
Zuweilen hatte sich Joffrey über ihre von ihm selbst geweckte Sinnlichkeit ein wenig beunruhigt gezeigt. Sie erinnerte sich eines Sommernachmittags, als sie, seinen Liebkosungen wollüstig hingegeben, auf dem Bett gelegen hatte. Plötzlich hatte er innegehalten und unvermittelt zu ihr gesagt: »Wirst du mich betrügen?«
»Nein, niemals. Ich liebe nur dich.«
»Wenn du mich betrügst, werde ich dich töten!«
»Nun, so soll er mich töten!« dachte Angélique, sich jäh aufrichtend. »Es wird schön sein, von seiner Hand zu sterben. Ihn ganz allein liebe ich.«
In der Stille des Raums waren die regelmäßigen Atemzüge des Kindes vernehmbar. Schließlich gelang es Angélique, eine Stunde zu schlafen, aber schon im Morgengrauen war sie wieder auf den Beinen. Nachdem sie ein Tuch um ihr Haar geschlungen hatte, schlich sie auf Zehenspitzen hinunter und verließ das Haus.
Sie mischte sich unter die Mägde, unter die Handwerker- und Kaufmannsfrauen und machte sich auf den Weg nach Notre-Dame, um die Frühmesse zu hören.
In den Gassen, über denen die Nebel der Seine im Licht der ersten Sonnenstrahlen wie Zauberschleier golden erglänzten, atmete man noch die muffige Nachtluft ein. Vagabunden und Langfinger suchten ihre Schlupfwinkel auf, während Bettler, Stelzfüße, Musikanten sich an den Straßenecken zu ihrem Broterwerb niederließen. Scheele Blicke verfolgten die sittsamen Frauen, die zu ihrem Herrn beten gingen, bevor sie ihr Tagewerk begannen. Die Handwerker schlossen ihre Ladengitter auf. Die Lehrlinge der Perückenmacher liefen, Pudersäckchen und Kamm in der Hand, zu ihrer Kundschaft, um die Perücke des Herrn Rats oder des Herrn Staatsanwalts in Ordnung zu bringen.
Angélique schritt durch das düstere Hauptschiff der Kathedrale, in der die farbigen Fenster aufzuglühen begannen. In ihren Filzpantoffeln schlurfend, richteten die Küster die Monstranzen und Meßkännchen auf den Altären, füllten die Weihwasserkessel auf und reinigten die Leuchter.
Im ersten besten Beichtstuhl kniete sie nieder und bezichtigte sich mit pochenden Schläfen, Ehebruch begangen zu haben. Nachdem sie Absolution empfangen hatte, wohnte sie der Messe bei, dann bestellte sie drei Seelenämter für ihre Zofe Marguerite.
Als sie wieder auf dem Vorhof stand, fühlte sie sich erleichtert. Sie empfand keine Gewissensbisse mehr. Jetzt würde sie all ihren Mut darauf verwenden, zu kämpfen und Joffrey aus dem Gefängnis zu befreien.
Bei einem kleinen Händler kaufte sie noch ofenheiße Waffeln und schaute in die Runde. Es herrschte bereits reger Verkehr auf dem Platz vor der Kathedrale. Karossen brachten vornehme Damen zur Messe. Goldglänzend und mit Federbüschen geschmückt, bogen sie unter mächtigem Gelärm der Räder- und Scheibengeklirr zur Auffahrt ein, während junge Burschen, Bettler und Straßenverkäufer hastig zur Seite wichen.
Obwohl der Platz durch eine kleine Mauer abgeschlossen war, herrschte auf ihm noch immer das malerische Durcheinander, das ihn einstens zum beliebtesten Platz von Paris gemacht hatte. Noch immer kamen die Bäcker hierher, um ihr altbackenes Brot zu ermäßigtem Preis an die Armen zu verkaufen. Noch immer versammelten sich die Müßiggänger vor dem Großen Faster, jener riesigen, mit Blei überzogenen Gipsstatue, die seit Jahrhunderten hier stand.
Niemand wußte, wen dieses Denkmal darstellte: ein Mann, der in der einen Hand ein Buch, in der andern einen Stab hielt, um den sich Schlangen wanden.
Es war die berühmteste Figur von Paris. Man schrieb ihr die Fähigkeit zu, sich in Zeiten des Aufruhrs als Stimme des Volks vernehmen zu lassen.
Und unzählige Spottverse gingen damals um mit der Unterschrift: »Der Große Faster von Notre-Dame« ...
»Lauschet dem Mahner auf seinem Postament, den für gewöhnlich den Faster man nennt.
Weil, wie die Geschichte zu melden weiß, tausend Jahr’ er schon lebt ohne Trank und Speis’.«
Und auf eben diesen Platz waren im Lauf der Jahrhunderte alle Verbrecher im Hemd und mit der Fünfzehn-Livres-Kerze in der Hand gekommen, um Notre-Dame um Vergebung zu bitten, bevor sie verbrannt oder gehenkt wurden.
Angélique erschauerte bei dem Gedanken an den Zug der gespenstischen Gestalten. Diebe, Gotteslästerer, Geldfälscher, Juden, Ketzer, Mörder, Unschuldige und Schuldige - wie viele waren hier in die Knie gesunken, inmitten des wilden Geschreis der Menge, im blinden Angesicht der alten, steinernen Heiligen!
Sie schüttelte den Kopf, um diese düsteren Gedanken zu verjagen, und schickte sich eben an, zum Staatsanwalt zurückzukehren, als ein Geistlicher in städtischer Kleidung sie anredete.
»Madame de Peyrac, ich begrüße Euch. Ich wollte mich soeben zu Maître Fallot begeben, um mit Euch zu sprechen.«
»Ich stehe zu Eurer Verfügung, Herr Abbé, aber ich kann mich nicht an Euern Namen erinnern.«
»Wirklich nicht?«
Der Abbé lüftete seinen breitrandigen Hut und nahm mit der gleichen Bewegung eine kurze, graue Roßhaarperücke ab. Verblüfft erkannte Angélique den Advokaten Desgray.
»Ihr seid es! Aber weshalb diese Verkleidung?«
Der junge Mann hatte sich wieder bedeckt. Mit gedämpfter Stimme sagte er:
»Weil man gestern in der Bastille einen Anstaltsgeistlichen brauchte.«
Er zog aus den Schößen seines Ordenskleides eine kleine Tabaksdose aus Horn hervor, nahm eine Prise, nieste, schneuzte sich und fragte sodann Angélique:
»Was sagt Ihr dazu? Wirkt es nicht echt?«
»Gewiß. Ich habe mich selbst täuschen lassen. Aber ... sagt mir, Ihr habt Euch in die Bastille einschmuggeln können?«
»Pst! Gehn wir zum Herrn Staatsanwalt. Dort werden wir ungestört reden.«
Unterwegs beherrschte Angélique mühsam ihre Ungeduld. Ob der Advokat endlich etwas wußte? Ob er Joffrey gesehen hatte?
Er schritt höchst gemessen an ihrer Seite dahin, in der würdevollen und bescheidenen Haltung eines gottesfürchtigen Vikars.
»Veranlaßt Euch Euer Beruf häufig zu derartigen Verkleidungen?« fragte Angélique.
»Nein, mein Beruf nicht. Meiner Advokatenehre widersprechen sogar solche Maskeraden. Aber man muß ja leben. Wenn ich es satt habe, auf den Stufen des Justizpalastes Prozesse zu angeln, die mir lumpige drei Livres einbringen, biete ich der Polizei meine Dienste an. Das würde mir schaden, wenn man’s erführe, aber ich kann immer vorgeben, daß ich für meine Klienten Nachforschungen anstelle.«
»Ist es nicht allzu gewagt, sich als Geistlicher zu verkleiden?« erkundigte sich Angélique. »Ihr könntet doch in die Zwangslage versetzt werden, etwas wie Religionsfrevel zu begehen.«
»Ich stelle mich nicht ein, um das Sakrament zu spenden, sondern als Beichtiger. Das Priestergewand flößt Vertrauen ein. Niemand wirkt in seiner Erscheinung harmloser als ein Vikar, der eben aus dem Seminar kommt. Man vertraut ihm alles an. Gewiß, dergleichen ist nicht sehr rühmlich, ich gebe es zu. Mit Eurem Schwager Fallot, der mein Mitschüler an der Sorbonne war, kann ich mich nicht vergleichen. Er ist ein Mann, der von sich reden machen wird! Während ich, zum Beispiel, den armseligen kleinen Abbé neben einer liebreizenden jungen Dame spiele, verbringt dieser gewissenhafte Beamte den ganzen Vormittag kniend im Justizpalast, um eine Verteidigungsrede Maître Talons in einem Erbschaftsprozeß anzuhören.«
»Weshalb kniend?«
»Das ist seit Heinrich IV. Tradition bei Gericht. Der Advokat hat Vorrang vor dem Staatsanwalt. Dieser muß knien, während der andere redet. Aber der Advokat hat einen hohlen Bauch, wohingegen der Staatsanwalt sich mästet. Verdammt, er hat nach den zwölf Stationen des Verfahrens einiges zusammengescheffelt!«
»Das kommt mir reichlich kompliziert vor.«
»Versucht gleichwohl, Euch diese Einzelheiten zu merken. Sie können von Wichtigkeit sein, falls es je zu einem Prozeß gegen Euren Gatten kommen sollte.«
»Glaubt Ihr, daß es dazu kommen wird?« rief Angélique angsterfüllt aus. »Es muß dazu kommen«, versicherte der Advokat ernst. »Das ist seine einzige Chance.«
In Maître Fallots kleinem Büro nahm er die Perücke ab und fuhr sich durch sein struppiges Haar. Sein Gesicht, das für gewöhnlich heiter und lebendig wirkte, zeigte mit einem Male einen sorgenvollen Ausdruck. Angélique setzte sich neben den kleinen Tisch und begann mechanisch mit einem der Gänsekiele des Staatsanwaltes zu spielen. Eine Frage an Desgray zu stellen, wagte sie nicht.
Schließlich hielt es sie nicht länger.
»Habt Ihr ihn gesehen?«
»Wen?«
»Meinen Gatten?«
»O nein, davon ist gar keine Rede. Er ist streng isoliert. Der Gouverneur der Bastille haftet mit seinem Kopf dafür, daß er mit niemandem in Verbindung tritt.«
»Wird er gut behandelt?«
»Im Augenblick ja. Er hat sogar ein Bett und zwei Stühle, und er bekommt das gleiche Essen wie der Gouverneur. Ich habe mir auch sagen lassen, daß er häufig singt, daß er mit Hilfe jedes kleinsten Gipsbröckchens mathematische Formeln an die Wände seiner Zelle malt und daß er sich nebenbei damit beschäftigt, zwei riesige Spinnen zu dressieren.«
»O Joffrey«, murmelte Angélique lächelnd. Aber ihre Augen füllten sich mit Tränen. So lebte er also noch, er war zu keinem blinden und tauben Gespenst geworden, und die Mauern der Bastille waren noch nicht dick genug, um die Äußerungen seiner Vitalität zu ersticken.
Sie hob den Blick zu Desgray auf.
»Danke, Maître.«
Der Advokat wandte sich ärgerlich ab.
»Ihr sollt mir nicht danken. Die Sache ist ungemein heikel. Ich muß Euch gestehen, daß mich diese geringfügigen Auskünfte bereits den ganzen Vorschuß gekostet haben, den Ihr mir gabt.«
»Das Geld spielt keine Rolle. Sagt mir, was Ihr braucht, um Eure Nachforschungen weiterzubetreiben.«
Aber der junge Mann starrte weiterhin mit abgewandtem Gesicht vor sich hin, als sei er trotz seiner Redefertigkeit äußerst verlegen.
»Offen gesagt«, erklärte er in brüskem Ton, »ich frage mich sogar, ob ich nicht versuchen sollte, Euch dieses Geld zurückzugeben. Ich glaube, es war unklug von mir, diesen Fall zu übernehmen, der mir sehr verwickelt scheint.«
»Ihr lehnt es ab, meinen Gatten zu verteidigen?« rief Angélique aus.
Gestern noch hatte sie sich diesem Juristen gegenüber, der trotz aller glänzenden Diplome zweifellos ein armer Schlucker war und sich nicht alle Tage satt essen konnte, eines leisen Mißtrauens nicht erwehren können. Doch jetzt, da er davon redete, sie im Stich zu lassen, wurde sie von panischer Angst erfaßt.
Kopfschüttelnd sagte er:
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