Sie fand für Angélique kaum ein Wort des Dankes, obwohl sie außer dem Kleid einen sehr schönen Diamantenschmuck von ihr trug. Ihrer Überzeugung nach war es eine Ehre, Mademoiselle de Rochechouart dienen zu dürfen, und trotz der heiklen Situation ihrer Familie war sie der Ansicht, daß ihr alter Adel ein Vermögen aufwog. Ihre Schwester und ihr Bruder schienen die gleiche Einstellung zu haben. Allen dreien war übersprudelnde Vitalität, beißender Witz, seltene Begeisterungsfähigkeit und hemmungsloser Ehrgeiz eigen, so daß der Umgang mit ihnen eine ebenso amüsante wie beängstigende Angelegenheit war.

Es war ein lustiges Völkchen, das die knarrende, altersmüde Kutsche durch die verstopften Straßen führte.

Inmitten der immer dichter werdenden Volksmenge sah man Reiter und endlose Wagenkolonnen der Porte Saint-Antoine zustreben, wo der Festzug sich aufstellen sollte.

»Wir werden einen Umweg machen müssen, um die arme Françoise abzuholen«, sagte Athénaïs. »Das wird nicht einfach sein.«

»Gott behüte uns vor Madame Scarron, der Witwe des beinlosen Krüppels!« rief ihr Bruder aus.

Er saß neben Angélique und drückte sie ungeniert an sich, obwohl sie ihn mehrmals aufforderte abzurücken, weil er ihr den Atem benahm.

»Ich habe Françoise versprochen, sie mitzunehmen«, erklärte Athénaïs. »Sie ist ein tapferes Mädchen und hat wenig Zerstreuung, seitdem ihr Krüppel von Mann tot ist. Ich glaube fast, sie vermißt ihn noch immer.«

»Nun, so abstoßend er auch gewesen sein mag - jedenfalls hat er Geld ins Haus gebracht. Die KöniginMutter hatte ihm eine Rente ausgesetzt.«

»War er denn schon verkrüppelt, als sie ihn heiratete?« fragte Hortense. »Über dieses Paar habe ich mir immer Gedanken gemacht.«

»Freilich war er ein Krüppel. Er nahm die Kleine zu sich, um Pflege zu haben. Da sie Waise war, willigte sie ein: Sie war fünfzehn Jahre alt.«

»Glaubt Ihr, daß sie eine richtige Ehe geführt haben?« fragte die junge Schwester.

»Wer kann das wissen? Scarron erklärte jedem, der es hören wollte, daß sein Leiden ihn impotent gemacht habe. Aber er war nichtsdestoweniger reichlich lasterhaft. Er hat ihr sicher allerlei beigebracht. Im übrigen kamen eine Menge Leute zu ihnen ins Haus, so daß sich vermutlich der eine oder andere junge Mann ihrer angenommen hat.«

»Man muß anerkennen«, sagte Hortense, »daß Madame Scarron hübsch ist und stets ein bescheidenes Wesen an den Tag gelegt hat. Sie ist nicht vom Rollstuhl ihres Mannes gewichen, hat ihm beim Aufrichten geholfen, ihm seinen Kräutertee gereicht. Auf diese Weise hat sie sich mancherlei Wissen und große Redegewandtheit angeeignet.«

Die Witwe wartete schon auf dem Trottoir vor einem unscheinbaren Hause.

»Mein Gott, dieses Kleid!« flüsterte Athénaïs und fuhr sich mit der Hand an den Mund. »Ihr Rock ist ja ganz fadenscheinig.«

»Warum habt ihr mir nichts gesagt?« fragte Angélique. »Ich hätte doch etwas für sie herausgeben können.«

»Meiner Treu, ich habe nicht daran gedacht. Steigt doch ein, Françoise!«

Die junge Frau drückte sich in eine Ecke, nachdem sie die Gesellschaft anmutig nickend begrüßt hatte. Sie besaß schöne braune Augen, die sie häufig mit ihren langen Wimpern verschleierte. In Niort geboren, hatte sie in Amerika gelebt und war als Waise nach Frankreich zurückgekehrt.

Mit einiger Mühe gelangten sie schließlich in die nicht allzu verkehrsreiche Rue Saint-Antoine. Die Kutschen stauten sich in den benachbarten Gassen. Vor dem Palais Beauvais herrschte jedoch ein geschäftiges Treiben. Ein Baldachin aus dunkelrotem Samt mit goldenen Borten und Fransen zierte den Mittelbalkon. Teppiche verschönten die Fassade.

Von der Türschwelle aus dirigierte eine alte, einäugige, wie ein Reliquienschrein mit Juwelen geschmückte Dame mit beträchtlichem Stimmaufwand die Dekorateure.

»Was macht denn diese schreckliche Megäre da?« fragte Angélique, während die Gruppe auf das Palais zuschritt.

Hortense bedeutete ihr zu schweigen, aber Athénaïs prustete hinter ihrem Fächer.

»Es ist die Hausherrin, meine Liebe, Catherine de Beauvais. Sie war Kammerzofe bei Anna von Österreich, die ihr den Auftrag erteilte, unsern jungen König aufzuklären, als er fünfzehn wurde. Das ist das Geheimnis ihres Reichtums.«

Angélique mußte lachen.

»Vermutlich hat ihre Erfahrung den fehlenden Charme ersetzt ...«

»Das Sprichwort sagt, daß es für Jünglinge und Mönche keine häßlichen Frauen gibt«, versetzte der junge Rochechouart.

Ihre ironische Stimmung hinderte sie nicht, sich vor der ehemaligen Kammerzofe tief zu verbeugen, die ihnen aus ihrem einzigen Auge einen strengen Blick zuwarf.

»Aha, die Leutchen aus dem Poitou. Kinder, haltet mich nicht auf. Macht, daß Ihr hinaufkommt, bevor sich meine Dienstboten die guten Plätze weggeschnappt haben. Aber die da, wer ist das?« fragte sie und deutete mit dem gekrümmten Zeigefinger auf Angélique.

Mademoiselle de Rochechouart stellte vor: »Eine Freundin, die Gräfin Peyrac de Morens.«

»Sieh einer an! Hähä!« kicherte die alte Dame spöttisch.

»Ich bin überzeugt, sie weiß etwas über dich«, flüsterte Hortense auf der Treppe. »Es wäre naiv zu glauben, daß es nicht über kurz oder lang zum Skandal kommen wird. Ich hätte dich niemals mitnehmen dürfen. Am besten, du gehst sofort nach Hause.«

»Schön, aber dann gib mir das Kleid zurück«, sagte Angélique und griff nach dem Mieder ihrer Schwester.

»Laß das sein, dumme Gans!« zischte Hortense, indem sie sich losriß.

Kurz entschlossen hatte Athénaïs de Rochechouart das Fenster eines Mägdezimmers mit Beschlag belegt und ließ sich in Gesellschaft ihrer Freunde häuslich nieder.

»Man sieht wunderbar«, rief sie aus. »Schaut, dort ist die Porte Saint-Antoine, durch die der König einziehen wird!«

Angélique beugte sich gleichfalls hinaus und fühlte, wie ihr das Blut aus dem Gesicht wich. Was sie da unter dem weiten Himmel erblickte, war nicht die endlose Avenue, in der sich die Menge aufstellte, war nicht die Porte Saint-Antoine mit ihrem Triumphbogen aus weißem Stein, sondern etwas weiter zur Rechten die wuchtige Masse einer Festung, die sich wie ein düsterer Felsen aufreckte.

Halblaut fragte sie ihre Schwester, was für ein Kastell das sei.

»Die Bastille«, flüsterte Hortense hinter ihrem Fächer zurück.

Angélique konnte den Blick nicht von dem düsteren Bild lösen. Acht massive, von Wachttürmchen gekrönte Bastionen, blinde Fassaden, Mauern, Fallgatter, Zugbrücken, Gräben: eine Insel des Jammers, wie verloren im Meer einer gleichgültigen Stadt, eine abgeschlossene Welt, in welche nicht einmal an diesem Tage die Jubelrufe drangen: die Bastille!

Die Geduld der kleinen Gesellschaft wurde auf eine harte Probe gestellt. Endlich ließen die Rufe der Menge erkennen, daß der Festzug sich in Bewegung gesetzt hatte. Aus dem Dunkel der Porte Saint-Antoine tauchten die ersten Gruppen auf, aber erst gegen zwei Uhr nachmittags war es so weit, daß der König und die Königin nahten.

Weit aus dem Fenster gelehnt, ließen sich die jungen Frauen nicht die geringste Kleinigkeit des Schauspiels entgehen. Sie drängten sich eng zusammen, um Platz für alle zu schaffen. Angélique hatte ihre Arme um die Schultern Madame Scarrons und Athénaïs de Rochechouarts gelegt. Hortense, der junge Rochechouart und seine Schwester hatten an einem andern Dachfenster Platz gefunden.

Es war der Zug Seiner Eminenz Monseigneur Mazarins, der den lange erwarteten Höhepunkt der Ereignisse ankündigte.

Nie hatte man einen Kardinal-Minister solche Pracht entfalten sehen. Zweiundsiebzig Maultiere eröffneten einzeln hintereinandergehend das Geleit, über der Stirn im Rhythmus der Schritte schwankende weiße Federn, den Rücken mit goldbesticktem Samt bedeckt. Die Mundstücke, Beschläge und Maulkörbe bestanden aus massivem Silber.

In Seide gekleidete Pagen, Maultiertreiber und Pferdeknechte begleiteten die störrischen Tiere, denen zwölf lebhafte spanische Pferde folgten, deren vergoldete Steigbügel in der Sonne funkelten.

Rossewiehern, Hufgeklapper, Glöckchengeklingel, das Rauschen der prächtigen Gewänder vermischten sich mit dem Geräusch der heranrollenden elf Kutschen, die jeweils von sechs Pferden gezogen wurden.

Die mit wundervollen Goldschmiedearbeiten verzierte Karosse des Kardinals hielt vor dem Palais Beauvais, und man sah die Hausherrin sich in tiefem Knicks vor der roten Robe verneigen. Der Kardinal begab sich auf den Balkon zur Königin-Mutter und deren Schwägerin, der Exkönigin von England, Gattin des enthaupteten Königs Karls L, und nahm an ihrer Seite Platz. Indessen defilierte die Eskorte Seiner Eminenz vor den staunenden Augen der Menge: zuerst vierzig Diener zu Fuß, darauf die Edelleute und Offiziere; hundert Gardisten in schönen roten Kasacken mit goldenen und silbernen Aufschlägen beschlossen die herausfordernde Karawane.

Doch alle Welt applaudierte aus vollem Herzen. Mazarin hatte den Pyrenäenfrieden unterzeichnet. Man liebte ihn nicht mehr als zur Zeit der »Mazarinaden«, aber im Grunde war ihm jeder dankbar, daß er das französische Volk vor der Dummheit bewahrt hatte, seinen König zu verbannen, diesen König, den man jetzt in einem Paroxysmus der Bewunderung und Verehrung erwartete.

Musketiere in blauer Uniform, die leichte Reiterei, der Generalprofoß und seine Stellvertreter kündigten endlich den königlichen Trupp an. In ihm erkannte Angélique manche Gesichter. Sie zeigte ihren Gefährtinnen den Marquis d’Humières und den Herzog von Lauzun an der Spitze ihrer hundert Edelleute. Lauzun, schalkhaft wie immer, warf den Damen ungeniert Küsse zu. Die Menge antwortete mit gerührtem Gelächter.

Wie beliebt sie waren, diese so tapferen und glänzenden jungen Herren! Um ihrer kriegerischen und galanten Heldentaten willen sah man über ihre Verschwendungssucht, ihren Dünkel und ihre schamlosen Ausschweifungen in den Schenken hinweg.

Plötzlich wich Angélique ein wenig zurück und preßte die Lippen aufeinander: Unten zog der Marquis de Vardes vor seinen hundert Schweizern dahin, das von der blonden Perücke umrahmte harte Gesicht herausfordernd erhoben.

Dann schwoll der Sturm des Jubels zu ohrenbetäubender Gewalt: Der König nahte, er war da, schön und gewaltig wie das Tagesgestirn!

Wie groß er war, der König von Frankreich! Ein richtiger König endlich! Weder verächtlich wie Karl IX., wie Heinrich III., noch zu schlicht wie Heinrich IV., noch zu streng wie Ludwig XIII.

Ein leutseliger und majestätischer Monarch, dessen Joch man mit Vergnügen tragen würde, um dieses Pompes willen, den das glückselige kleine Volk mit seinem Schweiß bezahlt hatte, um seine Augen zu erfreuen. Ludwig, der von Gott Gegebene, das vierundzwanzig Jahre lang unter den Gebeten und Tränen des Volkes erwartete Kind, das Wunderkind, das nicht enttäuschte.

Auf einem braunroten Pferd ritt Ludwig XIV. langsam daher, in einigem Abstand eskortiert von seinem ersten Kammerherrn, seinem Oberstallmeister, seinem Schloßhauptmann.

Er hatte den Baldachin zurückgewiesen, den die Stadt für ihn hatte sticken lassen. Er wollte, daß das Volk ihn sah, in seinem silberdurchwirkten Gewand, das die vorteilhafte Linie seines kräftigen Oberkörpers betonte. Ein Hut, dessen Reiherfedern durch Brillantennadeln befestigt waren, schützte sein lächelndes Gesicht vor der Sonne.

Er grüßte winkend.

Vor dem Palais Beauvais angelangt, neigte er sich zu einer graziösen Verbeugung, die jeder der Adressaten auf seine Weise auslegte. Anna von Österreich erblickte in ihr die Zärtlichkeit des Sohnes, der ihr größtes Glück und ihre größte Sorge gewesen war; die bekümmerte Witwe des Königs von England den Ausdruck des Mitgefühls und der Bewunderung angesichts versunkener Größe und würdig getragenen Unglücks; der Kardinal die Dankbarkeit eines Schülers, dem er die Krone bewahrt hatte. Bewegt, gierig und mit einer Träne im einzigen Auge, gedachte Catherine de Beauvais des schönen, glühenden Jünglings, den sie einmal in ihren kundigen Armen gehalten hatte.

Der Monarch kam nicht auf den Gedanken, die kastanienbraunen Augen bis zu den Fenstern des Dachstocks zu erheben. Dort hätten sie drei auf ihn herabgebeugte Köpfe erblickt, einen blonden, einen braunen und einen goldkäferfarbenen, deren dank dem seltsamsten aller Zufälle vereinigte Besitzerinnen in seinem Leben eine Rolle spielen sollten: Athénaïs de Rochechouart, Angélique de Peyrac, Françoise Scarron, geborene d’Aubigné.

Unter ihrer Hand spürte Angélique die golden glänzende Haut Françoises erschauern.

»Wie schön er ist!« flüsterte die Witwe.

Ob der Anblick des göttergleichen Mannes, der sich unter brausenden Jubelrufen entfernte, in ihr den Gedanken an den lüsternen Krüppel auslöste, dessen Dienerin und Spielzeug sie acht lange Jahre gewesen war?