Verstört suchte sie in den Gängen des Louvre nach Kouassi-Ba! Sie wollte zur Grande Mademoiselle. Vergebens rief ihr angstbeklommenes Herz nach einer mitfühlenden Seele. Die Gestalten, denen sie in diesem düsteren Labyrinth begegnete, waren taub und blind, marklose Marionetten, die aus einer anderen Welt kamen.
Die Nacht brach herein und brachte ein Oktoberunwetter mit, das an die Fenster peitschte, die Kerzenflammen niederdrückte, durch die Türritzen pfiff, die Wandteppiche bewegte.
In der Hoffnung, Kouassi-Ba zu finden, stieg sie eine Treppe hinunter und erreichte einen der Höfe. Angesichts des Platzregens, der mit großem Getöse aus den Dachrinnen herabstürzte, mußte sie jedoch ins Innere zurücktreten.
Unter der Treppe hatte eine Gruppe italienischer Komödianten, die am Abend vor dem König tanzen sollte, an einem Kohlenbecken Zuflucht gesucht. Der rote Schein des Herds erhellte das bunte Farbengemisch der Harlekinkostüme, die schwarzen Masken, die weißen Vermummungen Pantalons und seiner Hanswurste.
Nachdem sie wieder ins obere Stockwerk hinaufgestiegen war, entdeckte sie endlich ein bekanntes Gesicht: Brienne. Er sagte ihr, er habe Monsieur de Préfontaines bei der jungen Prinzessin Henriette von England gesehen; vielleicht könne er ihr Auskunft geben, wo Mademoiselle de Montpensier sich befinde.
Bei der Prinzessin Henriette saß man in der traulichen Wärme der Wachskerzen, die den großen Salon freundlich erleuchteten, beim Kartenspiel. Angélique entdeckte Andijos, Péguillin, d’Humières und de Guiche. Sie schienen völlig vom Spiel absorbiert oder taten vielleicht nur so, als sähen sie sie nicht.
Monsieur de Préfontaines, der beim Kamin an einem Gläschen Likör nippte, berichtete ihr, Mademoiselle de Montpensier habe sich mit der jungen Königin zum Kartenspiel ins Appartement Anna von Österreichs begeben. Ihre Majestät die Königin Maria Theresia fühle sich unsicher, da sie die französische Sprache nicht beherrsche, und mische sich deshalb nicht gern unter die wenig duldsame Jugend des Hofs. Mademoiselle spiele allabendlich eine Partie mit ihr, doch da die kleine Königin früh zu Bett gehe, sei es leicht möglich, daß Mademoiselle noch auf einen Sprung bei ihrer Kusine Henriette erscheine. Auf jeden Fall werde sie Monsieur de Préfontaines rufen lassen, denn sie schlafe nie ein, bevor sie mit ihm abgerechnet habe.
Angélique beschloß, auf sie zu warten. Sie trat zu einem Tisch, auf dem die Diener ein kaltes Souper und Backwerk bereitgestellt hatten. Sie schämte sich stets des Heißhungers, den sie just in den heikelsten Lebenslagen zu verspüren pflegte. Von Monsieur de Préfontaines ermuntert, setzte sie sich und verzehrte ein Hühnerbein, zwei Sülzeier und verschiedenerlei Konfekt. Nachdem sie sodann von einem Pagen die silberne Kanne erbeten hatte, um sich die Finger zu spülen, gesellte sie sich einer Gruppe von Spielern zu und nahm Karten auf. Sie hatte ein wenig Geld bei sich. Bald wurde sie vom Glück begünstigt und begann zu gewinnen. Der Erfolg tröstete sie. Wenn sie wenigstens ihre Börse füllen konnte, würde dieser Tag nicht restlos verloren sein.
Sie vertiefte sich in das Spiel. Die Goldstücke häuften sich vor ihr. Einer der Verlierer an ihrem Tisch sagte mit süßsaurer Miene:
»Kein Wunder, das ist ja die kleine Hexe.«
Mit flinker Hand raffte sie seinen Einsatz zusammen und erfaßte die Anspielung erst ein paar Sekunden später. Joffreys Mißgeschick begann also bekanntzuwerden. Man flüsterte einander ins Ohr, daß er der Hexerei beschuldigt sei.
Dennoch blieb Angélique unbeirrt auf ihrem Platz.
»Ich werde das Spiel erst aufgeben, wenn ich anfange zu verlieren. Oh, wenn ich sie nur alle ruinieren könnte und genug Geld gewänne, um seine Richter zu bestechen .«
Während sie abermals drei Asse auslegte, glitt eine Hand um ihre Taille.
»Warum seid Ihr in den Louvre zurückgekommen?«
flüsterte der Marquis de Vardes an ihrem Ohr.
»Gewiß nicht, um Euch wiederzusehen«, erwiderte sie, ohne aufzublicken, und machte sich mit einer heftigen Bewegung los.
Auch er nahm Karten und ordnete sie mechanisch, während er im gleichen Ton fortfuhr.
»Ihr seid von Sinnen! Wollt Ihr Euch unbedingt ermorden lassen?«
»Was ich tun will, geht Euch nichts an.«
Er spielte, verlor und warf einen neuen Einsatz auf den Tisch.
»Hört zu, noch ist es Zeit. Folgt mir. Ich werde Euch von ein paar Schweizern nach Hause geleiten lassen.«
Diesmal warf sie ihm einen verächtlichen Blick zu.
»Ich habe keinerlei Vertrauen zu Euerm Beistand, Monsieur de Vardes, und Ihr wißt, weshalb.«
Er warf seine Karten in verhaltenem Zorn auf den Tisch.
»Es ist lächerlich von mir, mich um Euch zu sorgen.«
Einen Augenblick zögerte er, bevor er mit einer bösen Grimasse fortfuhr:
»Ihr zwingt mich in eine alberne Rolle, aber da es offenbar kein anderes Mittel gibt, Euch zur Vernunft zu bringen, sage ich Euch: Denkt an Euren Sohn. Verlaßt augenblicklich den Louvre und vermeidet vor allem, dem Bruder des Königs zu begegnen!«
»Ich werde mich nicht von diesem Tisch rühren, solange Ihr in der Nähe seid«, erwiderte Angélique ruhig.
Die Hände des Edelmannes verkrampften sich, aber er wandte sich brüsk vom Spieltisch ab.
»Gut, ich gehe. Tut möglichst bald desgleichen. Ihr spielt mit Eurem Leben.«
Sie sah, wie er sich, nach rechts und links grüßend, entfernte und hinausging.
Angélique blieb verwirrt zurück. Sie konnte sich eines wachsenden Angstgefühls nicht erwehren. Ob Vardes ihr abermals eine Falle stellte? Er war zu allem fähig. Gleichwohl hatte die Stimme des zynischen Edelmanns einen ungewohnten Klang besessen. Sein Hinweis auf Florimond bestürzte sie mit einem Male. Sie sah den herzigen kleinen Kerl plötzlich vor sich: im roten Häubchen, über sein langes, besticktes Kleidchen stolpernd, die silberne Rassel in der Hand. Was sollte aus ihm werden, wenn sie verschwand?
Die junge Frau legte ihre Karten nieder und ließ die Goldstücke in ihre Börse gleiten. Sie hatte fünfzehnhundert Livres gewonnen. Ihren Mantel von der Stuhllehne nehmend, grüßte sie die Prinzessin Henriette, die mit einem gleichgültigen Nicken erwiderte.
Ungern verließ Angélique den Salon, die helle und warme Zuflucht. Ein Luftzug ließ die Tür hinter ihr ins Schloß fallen. Der pfeifende Wind duckte die zuckenden Kerzenflammen, die von einer irren Panik ergriffen zu sein schienen. Schatten und Flammen regten sich wie in Todesangst. Dann trat wieder Stille ein, während der Wind sich keifend entfernte und in der stummen Weite der Gänge sich nichts mehr bewegte.
Nachdem Angélique den vor dem Appartement der Prinzessin postierten Schweizer nach dem Weg gefragt hatte, schritt sie rasch dahin, ihren Mantel eng um sich zusammenziehend. Sie gab sich Mühe, keine Angst zu haben, aber es war ihr, als verberge sich in jedem Winkel eine verdächtige Gestalt. Als sie an der Biegung eines Ganges anlangte, verlangsamte sie die Schritte. Ein unüberwindliches Grausen lähmte sie.
»Sie sind da«, sagte sie sich.
Sie sah niemand, aber ein Schatten glitt über den Boden. Diesmal gab es keinen Zweifel: Dort lauerte ein Mann.
Angélique blieb stehen. Etwas bewegte sich an der Mauerecke, eine in einen dunklen Mantel gehüllte Gestalt, den Hut tief in die Stirn gedrückt, tauchte langsam auf und versperrte ihr den Weg. Angélique biß sich in die Lippen, um einen Schrei zu unterdrük-ken, und kehrte um.
Sie warf einen Blick über die Schulter. Jetzt waren es drei, und sie folgten ihr. Die junge Frau beschleunigte ihre Schritte, doch die drei Gestalten kamen näher. Da begann sie mit der Leichtfüßigkeit eines Rehs zu laufen.
Auch ohne sich umzuwenden wußte sie, daß sie verfolgt wurde. Hinter sich hörte sie die gedämpften Schritte der Männer, die auf Zehenspitzen liefen, um möglichst wenig Lärm zu machen. Es war eine lautlose, unwirkliche Verfolgung, ein gespenstisches Rennen durch die Öde des riesigen Palastes. Plötzlich bemerkte Angélique zu ihrer Rechten eine halbgeöffnete Tür. Sie war eben um die Ecke eines Ganges gebogen. Die Verfolger waren außer Sicht.
Rasch schlüpfte sie in den Raum, schloß die Tür, schob den Riegel vor. An die Klinke gelehnt, mehr tot als lebendig, hörte sie gleich darauf die hastigen Schritte der Männer und ihren keuchenden Atem. Dann wurde es wieder still.
Vor Erregung zitternd, machte Angélique ein paar Schritte durch das Zimmer und lehnte sich ans Bett. Es war niemand anwesend, aber es mußte bald jemand kommen, denn die Laken waren für die Nacht gerichtet. Im Kamin brannte ein Feuer und erhellte samt einer auf dem Nachttisch stehenden kleinen Öllampe den Raum.
Angélique legte die Hand auf ihre Brust und schöpfte Atem.
»Ich muß unbedingt sehen, daß ich aus diesem Wespennest herauskomme«, sagte sie sich. Die Tatsache, daß es ihr nach dem ersten Attentat in den Gängen des Louvre gelungen war zu entkommen, gab ihr Hoffnung, daß es auch ein zweites Mal gelingen werde.
Sicher wußte die Grande Mademoiselle nichts von den Gefahren, denen sie ausgesetzt war; und auch der König ahnte wohl nicht, was da im Innern seines Palastes angezettelt wurde. Doch im Louvre war Fouquet insgeheim allgegenwärtig. In der Angst, Angéliques Geheimnis könne sein erstaunliches Vermögen ruinieren, hatte der Oberintendant den ihm ergebenen Philippe d’Orléans auf den Plan gerufen und all denen Furcht eingeimpft, die von ihm lebten. Die Verhaftung des Grafen Peyrac war eine Etappe. Die Beseitigung Angéliques vervollständigte das kluge Manöver. Nur die Toten redeten nicht.
Die junge Frau biß die Zähne zusammen. Ein zäher Lebenswille überkam sie. Sie würde dem Tod entrinnen.
Unverzüglich sah sie sich nach einem Ausgang um, durch den sie zu entkommen versuchen wollte, ohne Aufmerksamkeit zu wecken. Plötzlich erstarrte ihr Blick.
Vor ihr bewegte sich der Wandteppich. Sie vernahm das Geräusch eines sich drehenden Türknaufs. Eine Tapetentür ging langsam auf, und in der Öffnung erschienen die drei Männer, die sie verfolgt hatten.
Sofort erkannte sie in demjenigen, der zuerst eintrat, Monsieur, den Bruder des Königs.
Er schlug seinen Verschwörerumhang zurück und schob mit einer eitlen Kopfbewegung seinen Spitzenkragen zurecht. Er ließ sie nicht aus den Augen, während ein kaltes Lächeln die roten Lippen seines kleinen Mundes kräuselte.
»Großartig!« rief er mit seiner Fistelstimme. »Das Reh ist kopfüber in die Fanggrube gestürzt. War ein tüchtiges Wettrennen! Ihr könnt Euch rühmen, Madame, einen flinken Fuß zu haben.«
Angélique blieb kaltblütig, und obwohl ihre Knie zu zittern begannen, verneigte sie sich.
»Ihr seid es also, Monseigneur, der mich so sehr erschreckt hat. Ich glaubte schon, es mit Räubern oder Beutelschneidern vom Pont-Neuf zu tun zu haben, die sich auf der Suche nach einem Opfer in den Palast geschlichen hätten.«
»Oh, es wäre nicht das erstemal, daß ich nächtlicherweile auf dem Pont-Neuf den Wegelagerer spiele«, sagte der kleine Monsieur mit süffisanter Miene. »Und niemand versteht sich besser darauf als ich, Beutel zu schneiden oder den Wanst eines Spießbürgers zu durchbohren. Ist es nicht so, Liebster?«
Er wandte sich zu einem seiner Genossen um. Dieser lüftete den Hut, und Angélique erkannte die brutalen Gesichtszüge des Chevaliers de Lorraine. Ohne etwas zu erwidern, trat der Günstling herzu und zog seinen Degen. Angélique musterte den dritten, der ein wenig abseits stand.
»Clément Tonnel«, sagte sie schließlich, »was tut Ihr hier, mein Freund?«
Der Mann verneigte sich tief.
»Ich stehe im Dienste Monseigneurs«, erwiderte er.
Und dank der Macht der Gewohnheit setzte er hinzu: »Wenn Frau Gräfin vergeben wollen.«
»Ich vergebe Euch gern«, sagte Angélique, die plötzlich einen nervösen Lachreiz verspürte, »aber weshalb haltet Ihr eine Pistole in der Hand?«
Der Haushofmeister sah verlegen auf seine Waffe, trat jedoch zum Bett, an das Angélique sich noch immer lehnte.
Philippe d’Orléans hatte die Schublade des Nachttischchens herausgezogen und entnahm ihr ein zur Hälfte mit einer schwärzlichen Flüssigkeit gefülltes Glas.
»Madame«, sagte er feierlich, »Ihr werdet sterben.«
»Wirklich?« antwortete Angélique.
Sie betrachtete die drei, die da vor ihr standen. Es war ihr, als teile sich ihr Wesen. Tief drinnen in ihr rang eine zur Verzweiflung getriebene Frau die Hände und rief: »Erbarmen, ich will nicht sterben!« Eine andere, überlegenere dachte: »Wie lächerlich sie sind! All das ist ein übler Scherz.«
»Madame, Ihr habt uns zum Narren gehalten«, erklärte der kleine Monsieur, in dessen Gesicht es ungeduldig zuckte. »Ihr werdet sterben, aber wir sind großmütig: Ihr dürft zwischen Gift, Stahl und Feuer wählen.«
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