Angélique begriff nicht recht, was mit ihr vorging. Süße Mattigkeit hatte ihren Körper überwältigt, und sie empfand das Bedürfnis, sich zu strecken und zu seufzen. Plötzlich spürte sie, wie eine Hand leise über ihre Brust strich und sich dann bis hinunter zu ihren Beinen bewegte. Ein kurzer, heißer Atem brannte auf ihrer Wange. Ihre vorgestreckten Finger begegneten einem steifen Stoff.
»Bist du’s, Valentin?« flüsterte sie. Er antwortete nicht, rückte aber noch näher.
Der Weindunst und das Flimmern der Finsternis vernebelten Angéliques Denken. Sie hatte keine Angst. Sie erkannte ihn, Valentin, an seinem schweren Atem, an seinem Geruch, sogar an seinen so oft von Dornen und Gräsern des Moors aufgerissenen Händen, deren Rauheit ihre Haut erschauern ließ.
»Fürchtest du nicht, deinen schönen Anzug zu verderben?« murmelte sie mit einer Naivität, die nicht frei von unbewußtem Spott war.
Er brummte und preßte seine Stirn an den schlanken Hals des Mädchens.
»Du riechst gut«, seufzte er. »Wie die Angelikablüte.«
Er versuchte sie zu küssen, aber sie mochte seinen feuchten Mund nicht und stieß ihn zurück. Er packte sie heftiger, drückte sie nieder. Diese plötzliche Brutalität machte Angélique vollends wach und gab ihr das Bewußtsein zurück. Sie wehrte sich und versuchte, sich aufzurichten. Aber der Bursche hielt sie heftig umklammert. Da schlug sie ihm wütend mit ihren Fäusten ins Gesicht und schrie.
»Laß mich los, du Bauernlümmel, laß mich los!«
Er gab sie endlich frei, und sie ließ sich vom Heu hinabgleiten und kletterte die Scheunenleiter hinunter. Sie war zornig und bekümmert, ohne zu wissen, weshalb ... Draußen war die Nacht von Lärm und sich nähernden Lichtern erfüllt.
Die Farandole!
Sich gegenseitig an den Händen haltend, zogen die Mädchen und Burschen an ihr vorbei, und sie wurde vom Strom mitgerissen. Im Dämmerlicht des frühen Morgens nahm die Farandole ihren Weg durch die Gassen, sprang über die Gatter, brach in die Felder ein. Alle waren trunken vom Wein und vom Most und taumelten johlend und lachend dahin. Man kehrte zum Platz zurück; Tische und Bänke waren umgeworfen - die Farandole stieg über sie hinweg. Die Fackeln erloschen.
»Die Brautsuppe! Die Brautsuppe!« forderten jetzt die Stimmen. Man klopfte an die Tür des Dorfschulzen, der sich schlafen gelegt hatte.
»Wach auf, Spießbürger! Wir wollen die Neuvermählten stärken!«
Angélique, der es mit zerschundenen Armen geglückt war, sich aus der Kette zu lösen, sah nun einen seltsamen Aufzug daherkommen. An der Spitze marschierten zwei spaßige Gesellen, nach Art der einstigen Hofnarren des Königs mit Flitterwerk und Schellen behängt. Es folgten zwei junge Burschen mit einer Stange auf den Schultern, über die die Henkel eines riesigen Kochkessels geschoben waren. Zu beiden Seiten gingen andere, die Weinhumpen und Becher trugen. Alle Leute aus dem Dorf, die sich noch auf den Beinen zu halten vermochten, folgten hinterdrein, und es war bereits eine stattliche Truppe.
Ohne Scheu trat man in die Hütte des jungen Paars ein.
Angélique fand sie nett, wie sie da so Seite an Seite in ihrem großen Bett lagen. Die junge Frau war puterrot. Gleichwohl tranken sie, ohne zu murren, den gewürzten heißen Wein, den man ihnen reichte. Doch einer der Zuschauer, der noch betrunkener als die andern war, wollte die Decke wegziehen, die sie sittsam bedeckte. Der Ehemann versetzte ihm einen Fausthieb, worüber sich eine Prügelei entspann, in deren Tumult man die Schreie der jungen Frau vernahm, die sich an ihre Laken klammerte. Von den schwitzenden Körpern hin und her gestoßen, halb erstickt von dem bäuerlichen Geruch nach Wein und ungewaschener Haut, wäre Angélique beinahe zu Boden gerissen und getreten worden. Nicolas war es, der sie befreite und hinausführte.
»Uff!« stöhnte sie, als sie endlich an der frischen Luft war. »Diese Geschichte mit der Brautsuppe ist nicht grade ein ausgesprochenes Vergnügen. Sag, Nicolas, weshalb bringt man eigentlich den Brautleuten heißen Wein zu trinken?«
»Nun ja, sie müssen eben eine Stärkung kriegen nach ihrer Hochzeitsnacht.«
»Ist das so anstrengend?«
»Man sagt so .«
Er brach unvermittelt in Lachen aus. Seine Augen glänzten von Tränen, die Locken seiner dunklen Haare fielen über seine braune Stirn. Sie sah, daß er genauso betrunken war wie die andern. Plötzlich streckte er die Arme nach ihr aus und näherte sich ihr schwankend.
»Angélique, du bist süß, wenn du so redest ... Du bist süß, Angélique.« Er legte seinen Arm um ihre Schultern. Wortlos machte sie sich frei und ging. Über dem verwüsteten Dorfplatz stieg die Sonne auf. Das Fest war zu Ende. Angélique folgte zögernden Schrittes dem Weg zum Schloß und stellte bittere Betrachtungen an.
Nun hatte sich nach Valentin auch Nicolas merkwürdige Dinge erlaubt, und sie hatte beide zur gleichen Zeit verloren. Es schien ihr, als sei ihre Kindheit tot, und sie hätte weinen mögen, wenn sie daran dachte, daß sie nie mehr mit ihren gewohnten Gefährten ins Moor oder in den Wald gehen würde.
So sahen sie der Baron de Sancé und der alte Wilhelm, die sich auf die Suche nach ihr gemacht hatten: mit zerrissenem Kleid und das Haar voller Heu.
»Mein Gott!« rief Wilhelm und blieb verblüfft stehen.
»Woher kommst du, Angélique?« fragte der Schloßherr streng.
Doch als der alte Soldat sah, daß sie keiner Antwort fähig war, nahm er sie auf den Arm und trug sie nach Hause.
Sorgenvoll sagte sich Armand de Sancé, daß man unbedingt ein Mittel finden müsse, um so bald wie möglich seine zweite Tochter ins Kloster zu schik-ken.
Erst am nächsten Morgen kam Angélique wieder zu sich, nachdem sie fast vierundzwanzig Stunden geschlafen hatte. Sie war überaus munter und keineswegs schuldbewußt, empfand jedoch im Grunde ihrer Seele eine gewisse Beklommenheit. Plötzlich fiel ihr ein, daß sie mit Valentin und vielleicht auch mit Nicolas entzweit war - wie dumm waren doch die >Männer<! Gleichwohl mußte sie zugeben, daß alles nicht so gekommen wäre, wenn sie ihrem Vater gehorcht und mit ihm das Fest verlassen hätte. Zum erstenmal wurde ihr bewußt, daß es zuweilen nützlich sein konnte, auf die Erwachsenen zu hören, und sie nahm sich vor, in Zukunft vernünftiger zu sein.
Während sie sich ankleidete, betrachtete sie angelegentlich ihre Brust. Es kam ihr vor, als wölbe sich ihr Busen, als beginne er sich anmutig zu formen.
»Bald werde ich Brüste wie Nanette haben«, dachte sie. Sie wußte nicht, ob sie darüber stolz oder erschrocken war. Alle diese Verwandlungen verwunderten sie, und vor allem hatte sie das Gefühl, daß etwas zu Ende ging. Ihr vertrautes und freies Leben war bedroht. Sie würde sich nach einer anderen Welt auf den Weg machen müssen, von der sie vorläufig nur das Ungewisse sah.
»Pulchérie hat mir neulich gesagt, ich sei im Begriff eine Jungfrau zu werden. Ich fürchte, ich werde mich schrecklich langweilen«, sagte sie verwirrt zu sich.
Das Geräusch eines galoppierenden Pferdes veran-laßte sie, zum Fenster zu gehen. Sie sah ihren Vater den Hof verlassen und wagte nicht, ihm zuzurufen, er möge sie mitnehmen.
»Sicher geht er zum Verwalter Molines«, sagte sie sich. »Wie gut wäre es, wenn er endlich dessen Geldangebot annähme, statt auf die Hilfe des Königs zu warten, der sich gewiß über ihn lustig macht. Hortense könnte sich ordentlich kleiden und die benachbarten Schloßherrn besuchen, statt mit langem Gesicht im Haus zu hocken. Und Josselin könnte in die Armee eintreten, statt wie der Teufel mit den Söhnen des Barons Chaillé zu jagen. Ich verabscheue diese ungeschliffenen Burschen, mit denen er verkehrt und die, wenn sie hierherkommen, mich zwik-ken, daß ich acht Tage lang blaue Flecken habe. Und Vater wird froh sein. Er wird den ganzen Tag seine Maultiere anschauen .«
Indessen gingen die Wunschträume des Mädchens nicht so bald in Erfüllung, trotz der Veränderungen, die dieser neuerliche Besuch beim Verwalter Molines zur Folge hatte. Sie wußte nicht, daß ihr Vater zwar das für die Einrichtung des Gestüts notwendige Darlehen angenommen, es aber nicht über sich gebracht hatte, auf den seine Kinder betreffenden Vorschlag einzugehen. Madame de Sancé hatte ihm ein feierliches Versprechen abgenommen. Wenn die Sache je in der Gegend bekannt werden sollte und man sagen könnte, die Abkömmlinge eines reinblü-tigen fürstlichen Geschlechts seien auf Kosten eines Schloßverwalters erzogen worden, würde sie vor Scham sterben. Die armen Eltern stellten sich ein wenig naiv vor, man würde, wenn das Gestüt erst einmal ordentlich floriere, mit Hilfe einiger günstiger Verkäufe die persönliche Situation der Familie wieder ins Lot bringen. Molines, dessen Kontrakt den Baron viel härter einzwängte, als er es ahnte, beharrte darauf, daß man auch die zusätzlichen zwanzigtausend Livres annähme. Doch der Baron blieb stolz, und der Verwalter gab nach.
Dann kamen die Bauern und brachten bald eine Eselsstute, bald einen Pferdehengst. Der Baron prüfte das Gebiß der Hengste und ihre Hufe, erkundigte sich nach dem Stammbaum und kaufte nur wenige Tiere. Er verlangte, man möge mehr und bessere auf den Markt von Fontenay-le-Comte bringen, der drei Wochen später stattfinden sollte und zu dem er sich begeben würde.
Er schien viel Geld zu haben, denn er rief den Gemeinderat von Monteloup zusammen und teilte mit, es gebe Bauarbeiten für alle, er werde überdies unter ihren Verwandten in der Umgebung Holzfäller, Brettschneider, Zimmerleute, Steinbrecher und Maurer aussuchen lassen.
Binnen kurzem veränderte sich das Aussehen der stark verwahrlosten Ställe hinter dem Schloß. Auch neue Koppeln wurden geschaffen und die Gatter wiederhergestellt. Der alte Wilhelm ließ das wichtigste seiner bisherigen Ämter, die Sorge für den Garten, im Stich und spielte den Oberaufseher. Er verjüngte sich dabei zusehends und hinkte kaum mehr.
»Wenn von den Römern an über Karl den Großen alle Bewohner Europas nichts anderes getan hätten als Straßen zu ziehen und zu bauen, statt sich gegenseitig zu zerfleischen, gäbe es weniger Elend in der Welt«, sagte der einstige Söldner jedem, der es hören wollte.
»Ich habe eigentlich geglaubt, die Soldaten verstehen sich mehr aufs Zerstören«, versetzte die Amme.
»Barbarische Soldaten oder Ungläubige, ja: das taugt nur zum Massakrieren und Plündern. Aber alle alten Bewohner Europas verlangen nichts anderes, als in Frieden zu arbeiten«, antwortete der Deutsche, ohne auf die Ironie einzugehen.
Angélique liebte den alten Krieger, aber sie bedauerte ein wenig die Verwandlung ihres guten Kameraden. All diese friedlichen Arbeiten waren gewiß recht reizvoll, aber doch sehr viel weniger als die Geschichten von Kriegen und Schlachten, die er ihr früher erzählt hatte und die er über seiner neuen Leidenschaft zu vergessen vorzog. Von Natur ein wenig Prediger wie alle Hugenotten, ging er so weit, sich gegen den Kardinal Mazarin zu ereifern, der den Kriegen nicht Einhalt gebieten wollte und so den Unwillen des Volks wachrief.
Freilich brachten die Hausierer seltsame Nachrichten, die der Baron bestätigte, wenn er von Niort oder Fontenay-le-Comte zurückkam. Wegen Steuerfragen hatten sich die Herren des Pariser Parlaments gegen den König selbst erhoben. Armer, kleiner elfjähriger König, der nichts dafür konnte! Und das Lumpenpack in der Hauptstadt hatte Barrikaden errichtet, zur Empörung aufgerufen, man wußte gar nicht, weshalb ...
»Von heute an bis die Truppen wieder durchziehen ...«, pflegte man zu sagen, um die Flüchtigkeit des zeitweiligen Wohlstands anzudeuten. Die letzten Plünderungen lagen kaum ein Jahr zurück, und die ersten Sommergewitter brachten sie wieder in Erinnerung.
Die enttäuschte Angélique mühte sich neben Pulché-rie mit einer Handarbeit ab, während die Dachziegel vom Ansturm des Unwetters in den Hof geschleudert wurden.
Das Maultiergestüt war jetzt sehr schön und Gegenstand der Bewunderung und des Neids der Umgebung. Man hatte in Voraussicht der Über-schwemmungen ganze Wagenladungen Granit für die Grundmauern der Schuppen herangefahren, und die Gebäude waren mit hellen, rosafarbenen Ziegeln gedeckt. Vierhundertfünfzig Eselsstuten und fünfzig Hengste fanden in ihnen Unterkunft.
Während dieser Zeit ersann der Geometer ein neues Entwässerungssystem für das Gelände unterhalb des Schlosses. Es handelte sich jetzt darum, den größten Teil des Moores trockenzulegen, das in vergangenen Zeiten die Verteidigungszone des alten Kastells Monteloup gebildet hatte. In ihrer Eigenschaft als Moorfee war Angélique insgeheim gegen die Profanierung ihrer Domäne; doch seit der Hochzeit im Juni hatte der wortkarge Valentin sie nicht mehr aufgefordert, mit ihm Kahn zu fahren. Er mied sie. Da konnte das Moor ja eigentlich ruhig verschwinden! Nur Nicolas war wieder erschienen, mit all seinen weißen Zähnen lachend und ohne jede Hemmung. Mit ihm trat die Kindheit wieder in ihre Rechte; die Natur gewährte einen Aufschub - nicht alles endete zu gleicher Zeit. Der Baron strahlte. Er wollte dem Bürger Molines ein für allemal zeigen, daß sich auch auf beruflichem Gebiet ein Edelmann in aller Ehrbarkeit geschickt anzustellen verstand. Bald würde man sich um das Schloß und die Familie kümmern können, ohne jemandem etwas zu schulden.
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