BARBARA

WOOD

Bitteres Geheimnis





Roman


1

Mary öffnete ihren Bademantel und ließ ihn zu Boden fallen. Die kühle Nachtluft strich über ihren nackten Körper, und sie lächelte, den Kopf leicht zur Seite geneigt.

Sebastian stand vor ihr. Das Mondlicht lag blaß auf den Konturen seines muskulösen Körpers. Auch er war nackt bis auf das Tuch, das um seine Hüften geschlungen und seitlich zum Knoten geknüpft war. Mary hätte gern hinuntergesehen, um festzustellen, wie der Knoten geöffnet werden konnte, aber sie wollte den Blick nicht senken. Sie war im Bann von Sebastians Augen, dessen Blick sie so fest umschloß wie eine Umarmung.

Obwohl die Luft kühl war, fror sie nicht. Eine wohlige Wärme durchflutete sie. Und auch Sebastian, dessen Sehnen unter der schweißfeucht glänzenden Haut angespannt waren, schien die Kühle der Nacht nichts auszumachen. Mit einer ruhigen, beinahe trägen Bewegung griff er zu dem Tuch, das um seine Hüften lag, und zog mit einem anmutigen Schwung den Knoten auf. Mary hielt den Blick weiter auf sein Gesicht gerichtet, voll Angst vor dem, was das Tuch enthüllt hatte, und doch auch voller Begierde.

Als er plötzlich einen Schritt auf sie zukam, stockte ihr einen Moment der Atem, und sie hob wie im Reflex die Hand zur Brust. Sein schönes Gesicht war schmal und streng; das lange, wellige Haar hob sich im leichten Luftzug von seinen Schultern, und als er an sie herantrat, sah sie die Narben, die seinen vollkommenen Körper entstellten; weiße Schwellungen, wo sein Fleisch durchbohrt worden war.

Er war so schön, daß sie es als schmerzlich empfand. Tiefe, grüblerische Augen, eine lange, gerade Nase, ein kantiges Kinn über einem kräftigen, sehnigen Hals. Dunkelhäutig und geschmeidig, kraftvolle Arme, schöngebildet die haarlose Brust.

Als er dicht vor ihr stand und sein Blick sie durchdrang, als könnte er sie im Innersten berühren, spürte Mary, wie sich in ihrem Bauch etwas rührte; tief im Becken ein Aufwallen, das sie zuerst erschreckte, dann überwältigte. Allein seine Nähe und sein tiefer Blick hatten das ausgelöst. Was würden dann erst seine Berührung oder sein Kuß bewirken?

Mit einem tiefen Seufzer griff sie nach seiner Hand, führte sie an ihren Mund und drückte ihre Lippen auf die überraschend harte und schwielige Handfläche. Dann zog sie Sebastians Hand zu ihrer linken Brust hinunter.

Immer noch ruhte sein verzehrender Blick auf ihr, und als er den Kopf neigte und mit seinen Lippen die ihren berührte, seine Zunge der ihren entgegenschob, zog es ihr die Kehle zusammen, und sie konnte einen Moment lang nicht atmen. Seine andere Hand glitt langsam abwärts, strich wie ein Hauch über die heiße Haut, und als sie ihren Ort fand und dort verweilte, hätte Mary am liebsten laut aufgeschrien. Die Finger streichelten und liebkosten, während Mary stocksteif dastand, wie erstarrt. Wonne mischte sich in ihre Verwirrung.

Dann begegneten sich ihre Körper und drängten sich aneinander. Seine Haut war warm und feucht. Sein Atem kam in Stößen wie der ihre. Sie rangen beide um Luft wie Ertrinkende. Mary suchte das Stöhnen, das in ihrer Kehle aufstieg, zu unterdrücken. Die Berührung von Sebastians Händen wurde heftiger, gröber.

Sein drängender, angespannter Körper erregte sie. Sie spürte, wie er seine Hand wegzog und etwas anderes ihren Platz einnahm, eine unsichtbare Waffe, die ihr Angst machte und zugleich lockte.

Mary öffnete die Augen und sah sich in heller Panik im Zimmer um. Doch ihre Angst, die aus der Unwissenheit über das, was ihr hier geschah, geboren war, wich einem wilden Verlangen, wie sie es nie gekannt hatte und das alle ihre Instinkte, sich zu verteidigen und zu schützen, besiegte.

Sebastian schloß seine Arme um sie und legte sie sachte auf dem Bett nieder. Sein Körper bedeckte sie. Er lag schwer auf ihr, so daß sie Mühe hatte zu atmen. Sein heißer Mund schien sie verzehren zu wollen, glitt von ihren Lippen abwärts, über ihren Hals zu ihrer Brust, sog sich so heftig an ihr fest, daß Mary leise aufschrie.

Er drückte ihr die Beine auseinander. Sie riß weit Augen und Mund auf. Sie öffnete sich Sebastian, die Arme ausgebreitet wie am Kreuz; ein williges Opfer.

Ein süßer, wonniger Schmerz durchfuhr sie plötzlich. Und dann spürte sie noch etwas anderes; ein Fluten, das seinen Stößen folgte wie das Kielwasser einem Boot. Ihr ganzer Körper schien dahinzuschmelzen in einer Flamme, die von ihren Füßen aufwärts stieg, ihre Beine hinauf, immer größer und gewaltiger wurde, zu einem lodernden Feuer wuchs, das über ihr zusammenschlug, so daß sie einen Moment lang nichts mehr hören und sehen konnte. Dann fiel es in sich zusammen und leckte in kleinen Flämmchen seliger Erschöpfung und Befriedigung über sie hin.

Mary riß die Augen auf.

Keuchend sah sie zur Zimmerdecke hinauf. Sie hielt den Atem an und lauschte in die Stille des Hauses. Alles schlief.

Ein Glück, dachte sie, daß sie im Schlaf nicht laut geschrien hatte.

Während sie in die Dunkelheit starrte, dachte sie über den Traum nach. Wieso hatte sie ausgerechnet von Sebastian geträumt? Ein merkwürdiger Traum war das gewesen. Wie Sebastian in sie eingedrungen war, wie sich das angefühlt hatte, so echt. Sie verstand es nicht. In Wirklichkeit nämlich hatte sie Mike noch nicht einmal erlaubt, sie dort zu berühren. Woher hatte sie wissen können, wie es sich anfühlte? Während sie reglos dalag, wurde ihr bewußt, daß ihr Körper eine Veränderung durchgemacht hatte. Was war anders?

Ihr Herz schlug wie rasend, sie schwitzte trotz der Kühle der Nacht, in den Beinen hatte sie ein komisches Gefühl, wie nach langem, anstrengendem Lauf, aber das waren nicht die Dinge, die sie jetzt verwunderten.

Es war etwas zwischen ihren Beinen, ihren Schenkeln; es war etwas in jenem Gebiet, das der streng katholischen Mary unbekannt und verboten war. Irgend etwas hatte sich dort auf geheimnisvolle Weise verändert. Irgend etwas war dort geschehen.

Vorsichtig und ängstlich schob Mary die Hand über die kantige Erhebung ihrer rechten Hüfte und tauchte ihre Finger hastig in das Dreieck zwischen ihren Schenkeln. In aller Eile erkundete sie mit den Fingerspitzen die verbotene Zone und zog die Hand mit einem Ruck wieder weg.

Sie berührte den Zeigefinger mit dem Daumen. Eine unerklärliche schleimige Klebrigkeit haftete dort.

Mary zog die Hand hoch und legte sie auf ihre Bettdecke. Sie schloß die Augen und beschwor noch einmal Sebastian herauf, aber sie konnte die erregenden Gefühle, die er entzündet hatte, nicht wieder lebendig machen. Sie war ausgeleert, es interessierte sie nicht mehr, und während sie nochmals über die erstaunliche Tatsache nachdachte, daß sie von Sebastian geträumt hatte und nicht von Mike, fiel sie in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

Mary stand im Morgensonnenschein und bürstete sich kräftig das Haar, unzufrieden, daß die Dauerwelle noch immer nicht herausgewachsen war. Sie hatte sich vor einiger Zeit entschieden, ihr Haar, das sie bisher kurz getragen hatte, wachsen zu lassen. Bis zum Sommer, der noch zwei Monate entfernt war, sollte es ihr lang und glatt den Rücken hinunterfließen, und die starke Sonne würde es, so hoffte Mary, zu einem hellen Honigblond ausbleichen.

Marys Mutter, in jeder Hinsicht eine konservative Frau, war mit der Idee ihrer Tochter, mit lang flatterndem Haar durch die Gegend zu laufen, nicht einverstanden. Sie selbst trug ihr rotes Haar ebenfalls kurz und setzte, wenn sie ausging, meist einen Hut auf, derzeit der Mode entsprechend eine Pillbox, die sie sich im Stil Jackie Kennedys auf den Hinterkopf zu drücken pflegte. Mary hatte ein ähnliches Hütchen, und auch das Kostüm, das sie zu Ostern bekommen hatte, glich dem ihrer Mutter: hüftlange Jacke und leicht ausgestellter Rock, der bis zu den Knien reichte. Alle Körperrundungen waren auf diese Weise erfolgreich verdeckt, und man glich der immer wie aus dem Ei gepellt wirkenden First Lady.

Von den Haarproblemen wanderten Marys Gedanken zu dem bestürzenden Traum der vergangenen Nacht, genauer gesagt, zu der körperlichen Entladung, mit der er sein Ende gefunden hatte. Während sie sich zum Spiegel neigte, um einen blühenden Pickel am Kinn zu inspizieren, dachte sie voller Unbehagen daran, daß sie gleich zur heiligen Kommunion gehen würde. Durfte sie das nach diesem unzüchtigen Traum überhaupt noch? Bei der Beichte war sie schon am vergangenen Abend gewesen. Und nun hatte sie schon wieder gesündigt. Oder konnte der Traum vielleicht nicht als unzüchtiger Gedanke betrachtet werden, da sie ja keine Kontrolle über ihn gehabt hatte?

Mary war so vertieft in diese Überlegungen und die Inspektion des Pickels, daß sie das Erscheinen ihrer Mutter in ihrem Zimmer nicht bemerkte.

»Mary Ann, wir kommen zu spät zur Messe, wenn du noch länger vor dem Spiegel stehst!«

»Was?« Sie sah auf. »Ich hab einen Riesenpickel.«

Lucille McFarland verdrehte nur die Augen, hob abwehrend die Hände und ging aus dem Zimmer. Mary packte Hut, Handtasche und Handschuhe, schlüpfte in ihre hochhackigen Schuhe mit dem Pfennigabsatz und rannte ihrer Mutter hinterher.

Ted McFarland und die zwölfjährige Amy saßen schon im Wagen, als Mary und ihre Mutter aus dem Haus kamen.

»Mary würde lieber eine Todsünde auf sich nehmen, als mit einem Pickel zur Kirche gehen«, sagte Lucille, als sie in den großen Lincoln stiegen.

»Ach, Mutter!«

Ted McFarland, der den Wagen die steile Auffahrt hinunterlenkte, lächelte und zwinkerte seiner ältesten Tochter im Rückspiegel zu. Mary lachte.

In der Kirche, die mit Lilienbuketts und flackernden Kerzen geschmückt war, empfing sie ernste Stille, als sie eintraten. Im gebrochenen Licht der Sonne, das durch die bunten Fenster strömte, tauchten sie die Finger ins Weihwasser, knicksten mit dem Blick auf das große Kruzifix am anderen Ende der Kirche und begaben sich an ihre Plätze, wo sie niederknieten.

Während der Rosenkranz aus Perlmutt durch ihre Finger lief, bemühte Mary Ann McFarland sich nach Kräften um stille Andächtigkeit, aber sie fand sie nicht. Verstohlen hob sie den Blick und musterte die Leute in den Bänken. Mike war noch nicht gekommen.

Sie ließ ihre Augen wandern, bis sie schließlich zu Sebastian gelangten, drüben auf der anderen Seite des Schiffs, gleich bei der ersten Kreuzwegstation. Unfähig, den Blick von ihm zu wenden, starrte sie ihn an, von neuem gefesselt von diesem kraftvollen Körper, der sie in ihrem Traum so erregt hatte.

Das Gemälde des Heiligen, eine Kopie von Mantegnas »Sebastian«, das im Louvre hing, berührte einen beinahe peinlich in seiner Lebensechtheit. Das Blut war zu realistisch, die von Pfeilen durchbohrten Muskelschwellungen, der Schweiß auf der Stirn, die Qual in dem aufwärts gerichteten Gesicht - das alles war mit fotografischer Genauigkeit festgehalten. Mary hatte während manch langweiliger Predigt dieses Gemälde betrachtet, aber niemals war ihr bei ihren regelmäßigen Besuchen der katholischen Sebastianskirche auch nur der Hauch eines unzüchtigen Gedankens in Zusammenhang mit dem Heiligen gekommen. Jetzt aber, eben wegen ihres bestürzenden Traums, konnte Mary die Erotik des Gemäldes nicht mehr übersehen. Von den sehnigen Schenkeln ging etwas aus, das ihr nie zuvor aufgefallen war; das um die Lenden geschlungene Tuch schien ihr etwas Herausforderndes zu haben, genauso wie der im Schmerz gewundene Leib.

Sie erinnerte sich der heißen Gefühle, die sie im Traum überflutet hatten, an den herrlichen Moment der Ekstase, und fragte sich, ob so etwas ihr je wieder geschehen würde. Und sie dachte daran, daß sie nun vielleicht nicht mehr würdig war, die heilige Kommunion zu empfangen.

Als Pater Crispin und die Ministranten aus der Sakristei kamen, stand die Gemeinde auf. Mary faltete die Hände um ihren Rosenkranz und bat Gott, ihr den Traum zu vergeben und sie zu reinigen, damit sie reinen Gewissens zur heiligen Kommunion gehen könne.

Der würzige Duft des Dillhühnchens mischte sich mit dem scharfen Aroma des Chilisouffles. Lucille McFarland besuchte mit ihrer Freundin Shirley Thomas jeden Samstagmorgen einen Kurs für feine Kochkunst am Pierce College und ließ sonntags ihre Lieben in den Genuß ihrer neuerworbenen Künste kommen. Auch der Ostersonntag bildete da keine Ausnahme. Lucille und ihre beiden Töchter hatten den ganzen Nachmittag an die Vorbereitungen des Festmahls verwendet. Amy hatte Käse gerieben, bis ihr die Finger weh taten; Mary hatte Eier getrennt, die Auflaufform eingefettet und frischen Dill gehackt. Nun standen Schüsseln auf dem Tisch, jedes Gericht eine Überraschung, und die Familie setzte sich zum Essen.