Der Biologielehrer kannte diesen Typ von Mädchen: die geborene Führernatur, immer im Mittelpunkt, von allen umworben. Jeder in der Klasse wollte ihre Aufmerksamkeit, jeder richtete sich unwillkürlich nach dem, was sie für richtig hielt. Fast in jeder Klasse gab es solche Anführer; manchmal waren sie eine Plage, verleiteten die anderen zu nichts als Dummheiten und Streichen; manchmal waren sie Vorbilder, denen die ganze Klasse in allem nacheiferte, ob nun im guten oder im schlechten Sinn. Der Herdentrieb war bei den Teenagers stark ausgeprägt, und ob sie sich dessen bewußt waren oder nicht, fast immer kürten sie stillschweigend einen Anführer, der ihnen in den Wirrnissen und Schwierigkeiten der Adoleszenz Orientierung geben sollte. Oft wählten sie die Hübscheste oder den Bestaussehenden, wobei sie hervorragendes Aussehen mit hervorragendem Intellekt gleichsetzten. Mary Ann McFarland hatte beides. Es hätte Slocum interessiert, wie weit sich Mary ihres Einflusses auf die anderen bewußt war.

»Wer kann mir die größte Arterie und die größte Vene im menschlichen Körper nennen?«

Mehrere Arme schossen in die Höhe. Im Grund ist es eine Schande, dachte Adam Slocum, man macht sie mit sämtlichen Systemen und Funktionen vertraut, nur das eine, das so wichtig ist wie alle anderen, das unterschlägt man; es ist verboten, tabuisiert, man könnte sogar bestraft werden, wenn man es im Unterricht zur Sprache bringt. Man konnte über Gene und Chromosomen sprechen, über weiße und schwarze Mäuse, über Fortpflanzung und Paarung, aber wie diese Gene praktisch weiter gegeben wurden, darüber durfte man kein Wort verlauten lassen. Er rollte die Karte mit der Darstellung der Blutgefäße auf, räusperte sich und sagte: »Arterien vom Herzen weg, Venen zum Herzen .«

Während alle eifrig schrieben, kehrte Mike mit seinen Gedanken wieder zum Debakel des vergangenen Abends zurück. Er schaute zu Mary hinüber, die mit konzentriertem Gesicht

Slocums Vortrag folgte, und wußte, daß sie die Sache schon vergessen hatte.

In der letzten Stunde hatten die Mädchen Sport, und obwohl sie heute nur einen Vortrag über weibliche Hygiene zu hören bekommen würden, mußten sie Sportbekleidung anziehen. In der Hitze des Nachmittags saßen zweihundert Mädchen im Schneidersitz auf dem Boden des Turnsaals und schauten sich gelangweilt einen Trickfilm über die Menstruation an, den sie seit der fünften Klasse schon mindestens zehnmal gesehen hatten.

Später, im Umkleideraum, wurden die Mädchen wieder lebendig. Allgemeines Gesprächsthema war ein neuer Film, der gegenwärtig in einem Kino in der Nähe gezeigt wurde.

»Mensch, es muß doch irre sein, mit Warren Beatty zu schlafen«, rief Sheila aufgekratzt. Sie war eines der wenigen Mädchen, die sich beim Umziehen nicht schamhaft hinter der Tür ihres Garderobenschränkchens versteckte, sondern ganz ungeniert ihre schwarze Turnhose auszog. »Ich hab den Film dreimal gesehen, und ich könnte ihn mir sofort noch mal anschauen.«

Mary saß auf der schmalen Bank unterhalb der Schränke und zog sich ihre Turnschuhe von den Füßen.

»Ich finde, es war ganz richtig, daß Natalie Wood ihn nicht rangelassen hat«, sagte ein Mädchen mit hochtoupiertem Haar.

»Schön blöd«, entgegnete Sheila. »Schau doch, was es ihr gebracht hat. In der Irrenanstalt ist sie gelandet.«

Mary sah zu Germaine auf, die vor dem Schrank neben ihrem stand und sich eilig umzog. Germaine lachte nur. Sie beteiligte sich fast nie an diesen Diskussionen. Sie war ein introvertiertes Mädchen mit radikalen Ansichten, die sie meist nur ihrer Freundin Mary mitteilte.

Mary faltete ihre Turnsachen ordentlich und verstaute sie in ihrem Beutel. »Ich hab den Film auch gesehen«, sagte sie leise.

»Ich auch«, erwiderte Germaine, während sie ihre Turnsachen kurzerhand in ihre Schultasche stopfte. »Die sind ja albern. Die reden über Sex, als wäre es was Besonderes.« Germaine schlug die Schranktür zu und fuhr sich mit dem Kamm durch das schwarze Haar, das ihr bis zu den Hüften hinunterreichte.

Mary schlüpfte in ihr Kleid und sagte dabei: »Das einzige, was mich im Moment interessiert, ist das mistige B, das ich für meine Arbeit in Französisch bekommen hab. Nur weil ich nicht oft genug den Konjunktiv verwendet hab. Wie soll ich denn bei einem Bericht über französische Kathedralen den Konjunktiv verwenden? Kannst du mir das vielleicht sagen?«

Germaine zuckte die Achseln. »Ach, das machst du in der Abschlußprüfung wieder gut. Ich kenn dich doch.«

Während Mary vor dem Spiegel an der Innenseite der Schranktür ihren schwarzen Lidstrich nachzog, setzte sich Germaine auf die Bank, um auf sie zu warten.

Rundherum flogen krachend die Schranktüren zu, und das Getümmel in der Garderobe begann sich zu lichten. Aber da es die letzte Unterrichtsstunde des Tages gewesen war, blieben viele, um noch ein Schwätzchen zu halten. Fast überall drehten sich die Gespräche um die Pläne für den kommenden Abend und das Wochenende.

»Hör dir das an, Mary«, sagte Germaine. »Die reden von ein bißchen Knutscherei im Autokino, als wär das eine Riesensache. Wetten, daß nicht eine einzige schon mal mit einem Jungen geschlafen hat? Dazu haben die viel zuviel Angst. Die sind garantiert alle noch brave Jungfrauen.«

Mary warf ihrer Freundin einen kurzen Blick zu und widmete sich wieder ihrem Make-up. Germaine Massey war eine Progressive, eine Anhängerin des Nonkonformismus. Sie hatte einen Freund, der an der Universität von Kalifornien in Los Angeles Politologie studierte, und mit ihm besuchte sie Künstlerkneipen, wo Lyrik gelesen wurde, die sich nicht reimte, nahm an politischen Versammlungen teil und experimentierte in der sogenannten freien Liebe.

Im Augenblick blätterte sie in dem zerfledderten Exemplar von Fanny Hill, das sie endlich erobert hatte. »Da brauch ich bestimmt nicht lange, Mary«, murmelte sie, über das Buch geneigt, so daß ihr langes Haar nach vorn fiel und ihr Gesicht verbarg. »Lieber Gott, hör dir das an! Sie nennt ihn auch noch eine Pistole!«

Mary schraubte das Fläschchen mit dem Eyeliner zu und legte es in das Schminktäschchen, das sie ganz hinten in ihrem Garderobenschrank verwahrte. Als sie in den Schrank hineingriff, streifte sie mit der Hand ein kleines Bündel, das versteckt im Dunkeln lag, und wußte im ersten Moment nicht, was das war. Dann fiel ihr ein, daß es die Binde war, die sie für Notfälle immer hier aufhob. Ein Gedanke blitzte auf, und sie runzelte die Stirn. Aber da sagte Germaine etwas, und der Gedanke flog weg.

Als Mary und Germaine um drei durch den Schulkorridor gingen, stießen sie mit Mike und seinem Freund Rick zusammen.

»Hallo, Mary. Ich kann dich heute leider nicht mitnehmen. Wir haben noch eine Teambesprechung.«

»Das macht nichts, Mike. Ich rufe meine Mutter an. Wann kommst du heute abend?«

»Wahrscheinlich erst nach sieben. Ich hab meinem Vater versprochen, daß ich vor dem Wochenende noch das Schwimmbecken saubermache. Tschüs.«

Ehe die beiden Jungen das Gebäude verließen, gingen sie in die Toilette, wo der Zigarettenqualm in dicken Schwaden hing. Sie knallten ihre Bücher auf die schulterhohe gekachelte Mauer neben der Tür und gingen direkt zu den Waschbecken. Beide zogen Kämme heraus, ließen Wasser darüber laufen und kämmten dann ihr Haar.

Mike warf Rick einen Blick zu. »Na, hat's geklappt gestern abend?«

»Nee. Sherrys Mutter hat sie nicht weggehen lassen, und außerdem mußte ich lernen. Und wie war's bei dir? Was gelaufen?«

Mike grinste vielsagend. »Wir haben eine prima Stelle am Mulholland Drive entdeckt.« Er klopfte das Wasser von seinem Kamm und steckte ihn ein. »Alles bestens.«

Rick pfiff halb neidisch, halb bewundernd durch die Zähne.

»Das ist bestimmt die Grippe«, sagte Lucille und lenkte den Wagen in die Einfahrt zum Haus. »Ein Glück, daß Freitag ist.«

»Ja, aber morgen ist Cheerleader-Probe.«

»Konntest du wenigstens dein Mittagessen runterbringen?«

»Ein bißchen was, ja, aber hinterher war mir wieder schlecht. Das kommt und geht. Aber am schlimmsten ist diese fürchterliche Müdigkeit. Ich fühl mich immer total erschöpft, weißt du.«

Lucille nickte. Sie hielt den Wagen vor der Haustür an, schaltete den Motor aus und blieb noch einen Moment sitzen. »Vielleicht sollte ich doch mal mit dir zum Arzt gehen. Schade, daß Dr. Chandler nicht mehr praktiziert. Aber wir werden schon jemanden finden. Komm, gehen wir rein, dann ruf ich Shirley an. Vielleicht kann sie uns einen Arzt empfehlen.«

Dr. Jonas Wades Praxis befand sich in einem modernen Glaskasten an der Ecke Reseda Avenue und Ventura Boulevard. Das Wartezimmer war freundlich, ohne aufdringlich zu sein, ganz in gedämpften Blau- und Grüntönen gehalten, mit einem dicken Teppich, vielen Grünpflanzen und einem großen Aquarium voll exotischer Fische. Lucille war sofort beeindruckt. Nicht nur Shirley Thomas, sondern auch noch zwei andere Freundinnen hatten ihr den Arzt empfohlen, und sie hatte noch am Tag ihres Anrufs einen Termin für Mary bekommen, da kurz zuvor ein anderer Patient abgesagt hatte. Es war fünf Uhr.

Die Wartezeit kam Mary wie eine Ewigkeit vor. Sie hoffte inbrünstig, Dr. Wade würde ein steinalter Mann sein, eine rasche, unpersönliche Untersuchung vornehmen und sie dann mit einer Schachtel Tabletten nach Hause schicken.

Als die Sprechstundenhilfe ihren Namen rief, wischte sie sich die feuchten Hände an ihrem Rock ab und folgte der Frau ins Sprechzimmer. Lucille blieb mit einer Zeitschrift im Wartezimmer sitzen.

Der alte Dr. Chandler hatte seine Praxis in einem kleinen Haus gehabt, wo sich in den dreiunddreißig Jahren seiner Tätigkeit als Arzt nichts verändert hatte, wo nichts modernisiert worden war. Eine andere Arztpraxis hatte Mary nie kennengelernt. Als sie jetzt in den kühlen, weißen Raum mit den abstrakten Gemälden an den Wänden geführt wurde, fühlte sie sich fremd und befangen. Und als die Sprechstundenhilfe sie aufforderte, sich auszuziehen, wurde ihr beklommen zumute.

Nachdem sie in den Papierkittel geschlüpft war, setzte sie sich auf den Untersuchungstisch und wartete nervös. Zu ihrer Überraschung kam nicht der Arzt herein, sondern wieder die Sprechstundenhilfe, die ihr den Arm abband und ihr eine Ampulle voll Blut abnahm. Dann drückte sie ihr einen Plastikbecher in die Hand und schickte sie mit der Anweisung, ihren Urin in dem Becher aufzufangen, in die kleine Toilette neben dem Sprechzimmer.

Nachdem Mary das erledigt hatte, hockte sie sich wieder auf den Untersuchungstisch, und als endlich Dr. Wade hereinkam, fiel ihr das Herz vollends in die Hose.

Er war viel zu jung, höchstens Anfang Vierzig. Sehr groß und schlank in dem langen weißen Kittel. Das Haar war schwarz mit einigen grauen Sprenkeln. Sein Lächeln war so routiniert, dachte Mary, als hätte er es vor dem Spiegel einstudiert. Die schwarzen Augen waren lebhaft und scharf, als könnten sie durch den Papierkittel hindurchsehen.

»Hallo«, sagte er und blickte auf die Karte in seinen Händen. »Was ist dir lieber, Mary oder Mary Ann?«

»Mary«, antwortete sie mit kleiner Stimme.

»Okay, Mary, ich bin Dr. Wade. Also -« er faltete die Karte auseinander - »deine Mutter schreibt hier auf dem Formular, das sie für uns ausgefüllt hat, du hättest die Grippe.« Sein Lächeln wurde breiter. »Wollen wir mal schauen, ob ihre Diagnose richtig ist?«

Mary nickte.

Er legte die Karte weg und ging zum Waschbecken, um sich die Hände zu waschen. »Auf welche Schule gehst du, Mary?«

»Reseda Highschool.«

»Elfte Klasse?«

»Ja.«

»Jetzt sind bald Ferien, nicht?«

»Ja.«

Dr. Wade drehte sich um und sah sie lächelnd an, während er sich die Hände an einem Papiertuch trocknete. »Und hast du schon Pläne für den Sommer? Fährst du weg?«

Sie schüttelte den Kopf.

Immer noch lächelnd, stellte er ihr in einem Ton, als kenne er sie seit Jahren, eine Reihe von Fragen, die Mary jeweils nur mit einem kaum hörbaren »Ja« oder »Nein« beantwortete, während sie sich ernsthaft zu erinnern suchte, ob sie je Keuchhusten oder die Masern oder sonst eine schwere Krankheit gehabt hatte, ob sie an wiederkehrenden Kopfschmerzen oder Schwindelgefühlen litt. Dr. Wade machte sich bei jeder ihrer Antworten einen kleinen Vermerk auf seiner Karte und sagte schließlich: »Gut, Mary, kommen wir jetzt auf das aktuelle Problem. - Was für Beschwerden hast du?«

Sie schilderte ihm stockend die Lethargie und die Übelkeit der letzten drei Tage. Fragen nach Halsschmerzen, Übergeben, Durchfall, Kopfschmerzen, Schüttelfrost und Fieber verneinte sie.

Als er den silbernen Füller zumachte und einsteckte, klopfte es leise, und die Sprechstundenhilfe trat ein. Nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, reichte sie Dr. Wade wortlos mehrere Papiere in verschiedenen Farben.