In der Stille, die ihr bedrückend erschien, hockte Mary in ihrem Papierkittel auf dem Untersuchungstisch und beobachtete den Arzt, während er die verschiedenen Berichte las; erst den gelben, dann den roten, danach den blauen und schließlich den weißen. Seine Miene blieb unverändert.

Als er die Papiere in die gefaltete Karte steckte und lächelnd den Kopf hob, zog sich Mary unwillkürlich zusammen. Jetzt kam der Teil, vor dem ihr graute. Die Finger des Arztes waren überraschend kühl, als er behutsam ihren Hals abtastete, die Unterlider ihrer Augen herunterzog, ihr Haar beiseite strich, so daß er ihr in die Ohren sehen konnte. Während er sie untersuchte, unterhielt er sich ruhig und freundlich mit ihr.

»Was hast du denn nach der Highschool vor, Mary?«

Das kalte Stethoskop berührte ihren Rücken. »Ich weiß noch nicht. Ich geh wahrscheinlich nach Berkeley.«

»Ah, da habe ich auch studiert. Bitte tief einatmen. Halte die Luft jetzt einen Moment an. Ja. Jetzt langsam ausatmen.«

»Aber ich hätte auch Lust, zum Peace Corps zu gehen.«

»Noch mal einatmen. Anhalten. Langsam ausatmen.« Das kalte Ding bewegte sich über ihren Rücken. »So, zum Peace Corps? Ja, ich kann mir vorstellen, daß das interessant wäre.«

Er trat jetzt vor sie hin und zog ihren Kittel auseinander, um ihr das Stethoskop unter die linke Brust zu drücken. Mary machte die Augen zu.

»Mich würde da Ost-Afrika reizen«, bemerkte er ruhig, »aber ich denke, im San Fernando Tal gibt's für mich genug zu tun.«

Mary versuchte zu lächeln und atmete auf, als er das Stethoskop entfernte. Dann schlug er ihr mit einem kleinen Hämmerchen aufs Knie und bat sie, sich niederzulegen.

Mary biß die Zähne aufeinander und streckte sich aus. Sie starrte zur weißen Zimmerdecke hinauf, während Dr. Wade ihren Bauch abtastete. Als er den Papierkittel hochschob und sie die kühle Luft auf ihrer Brust spürte, hielt sie den Atem an.

»Bitte heb deinen rechten Arm über den Kopf.«

Sie drückte wieder die Augen zu. Seine Finger betasteten ihre Brust und die Achselhöhle. Sie zuckte zusammen.

»Tut das weh?«

»Ja«, flüsterte sie.

Nochmals drückte er behutsam. »Hier auch?«

»Ja.«

»Und hier?«

»Ja ...«

Dann wiederholte er die Untersuchung an der anderen Brust. »Sag mal, Mary, was ist dir unangenehmer? Arzt oder Zahnarzt?«

Sie öffnete die Augen und sah in Dr. Wades lächelndes Gesicht. »Äh - ich -«

»Für mich ist der Zahnarzt so ziemlich das Schlimmste, was es gibt. Ich schlucke vorher jedesmal ein Beruhigungsmittel, auch wenn ich weiß, daß nur eine Füllung gemacht werden muß.«

Sie lachte ein wenig.

»Tut das hier weh?«

»Ja.«

Als er den Kittel endlich wieder herunterzog und vom Untersuchungstisch wegtrat, setzte sich Mary hastig auf. Dr. Wade hatte die Karte wieder zur Hand genommen.

»Wann hattest du das erstemal deine Periode, Mary?« fragte er, ohne aufzusehen. »Wie alt warst du da?«

Mary wurde rot. »Ich - äh - ich war zwölf.«

»Und sie kommt immer regelmäßig?«

Sie leckte sich die spröden Lippen. »Ja, eigentlich schon. Das heißt, nicht ganz. Manchmal dauert es nur fünfundzwanzig Tage und manchmal mehr als dreißig.«

»Wann hattest du die Periode das letztemal?«

»Hm .« Sie überlegte. »Ich weiß es nicht mehr«, sagte sie schließlich mit gerunzelter Stirn.

Er nickte, während er schrieb. »Versuch doch mal, dich zu erinnern. Ist es weniger als einen Monat her?«

»Nein, ich glaub nicht.« Sie zog die Brauen zusammen, während sie zurückdachte. Sie hatte nie Buch geführt, wie andere Mädchen das taten. Es war ihr einfach zu lästig gewesen. Aber als sie jetzt zurückblickte, schien ihr eine lange Zeit vergangen zu sein, seit sie das letztemal ihre Tage gehabt hatte. »Es muß vor Ostern gewesen sein.«

Dr. Wade nickte wieder, während er schrieb. Dann steckte er seinen Füller ein und sah Mary lächelnd an. »Wir sind gleich fertig. Wartest du noch einen Moment? Ich bin gleich wieder da.« Damit ging er aus dem Behandlungsraum.

Dr. Wade kam nicht wieder. An seiner Stelle erschien einige Minuten später die Sprechstundenhilfe, die wartete, bis Mary sich angekleidet hatte und führte sie in ein freundliches, behaglich eingerichtetes Sprechzimmer.

An den holzgetäfelten Wänden standen mehrere hohe Regale mit Fachbüchern, dazwischen hingen hübsch gerahmte alte Stiche und moderne Aquarelle. Auf dem großen Schreibtisch stapelten sich Fachzeitschriften und Papiere. An der rechten Ecke stand eine Leselampe und davor ein gerahmtes Foto von einer Frau, die zwei Teenager, ein Mädchen und einen Jungen, in den Armen hielt.

Als Dr. Wade hereinkam und die Tür hinter sich schloß, setzte sich Mary in den Ledersessel und bemühte sich, ruhig und gelassen zu wirken. Nachdem auch er sich gesetzt und die Krankenkarte vor sich aufgeschlagen hatte, sah er Mary mit warmem Lächeln an. »Ich wollte, alle meine Patienten wären so geduldig und verständnisvoll wie du.«

Sie räusperte sich und sagte leise: »Danke.«

»Du bist sehr hübsch, Mary. Du hast sicher viele Freunde.«

Sie zuckte die Achseln.

Dr. Wade lachte freundlich und neigte sich auf seine Ellbogen gestützt ein wenig zu ihr hinüber. »Hast du einen festen Freund?«

»Ja.«

»Der Junge ist ein Glückspilz.« Er lachte wieder. »Also ...« Dr. Wade machte eine kleine Pause, und sein Gesicht wurde ernst. »Während ich dich untersuchte, Mary, habe ich im Labor dein Blut und deinen Urin untersuchen lassen. Das tue ich routinemäßig bei allen neuen Patienten. Soweit scheinst du völlig gesund zu sein, Mary.«

Sie zog die Brauen hoch.

»Aber das heißt nicht, daß da nicht doch etwas - äh, nicht stimmt. Die vorläufigen Untersuchungen zeigen, daß dein Blutbild normal ist.« Er tippte auf die bunten Blätter, die neben dem Krankenblatt vor ihm lagen. »Keine Anämie und keine Infektion.« Seine Hand ruhte auf dem letzten Bericht, dem lavendelfarbenen. Er enthielt die Ergebnisse der Untersuchung, die er selbst durchgeführt hatte, während Mary sich angekleidet hatte.

Er sah ihr aufmerksam ins Gesicht. »Ich muß dir noch ein paar Fragen stellen, Mary. Hast du schon einmal Geschlechtsverkehr gehabt?«

Sie zuckte zusammen. »Wie bitte?«

»Hast du schon einmal mit einem Jungen geschlafen?«

Sie sah ihn bestürzt an. »Aber nein. Noch nie.«

»Ganz sicher?«

»Bestimmt nicht. Niemals.«

Er musterte sie einen Moment schweigend, dann sagte er eindringlich: »Mary, was hier zwischen uns gesprochen wird, bleibt strikt unter uns. Niemand erfährt davon. Auch meine

Sprechstundenhilfe nicht. Ich werde es nicht einmal in die Karte schreiben.« Zum Beweis faltete er das Krankenblatt und schob es weg. »Es bleibt, wie ich schon sagte, ganz unter uns, Mary. Sieh es als eine rein medizinische Frage - genauso als hätte ich dich gefragt, ob du deine Mandeln noch hast.«

Sie senkte einen Moment verwirrt die Lider, dann sah sie Dr. Wade wieder an. Der Blick ihrer Augen war verständnislos. »Ich sage die Wahrheit, Dr. Wade«, erklärte sie. »Wirklich. Ich habe nie mit einem Jungen geschlafen.«

»Hm.« Jonas Wade warf einen Blick auf das Krankenblatt neben seinem Ellbogen, dann konzentrierte er sich wieder auf das junge Mädchen. »Mary«, sagte er ernst und beobachtete sie dabei aufmerksam, »es ist möglich, daß etwas passiert ist, ohne daß du dir bewußt wurdest, was da passiert ist.«

Sie zwang sich zu einem Lachen. »Doch, das wüßte ich, Dr. Wade. Es war nichts. Ich - ich war ja noch nicht mal ausgezogen, wenn ich mit Mike zusammen war. Ich meine - ich hab ihm noch nicht mal erlaubt, mich da anzufassen .« Sie wurde brennend rot.

Sie hörte Papiere rascheln, und als sie aufblickte, sah sie, daß Dr. Wade ihre Unterlagen zusammenschob. »Das ist alles, Mary.« Sein Lächeln war warm, und seine Stimme war wieder lauter. »Manche Krankheiten zeigen sich nicht gleich im Blut oder im Urin. Sie haben eine Inkubationszeit. Wir werden Kulturen anlegen und sehen, ob die uns sagen, was dir fehlt. Mit Bestimmtheit können wir erst etwas sagen, wenn alle Befunde vorliegen. Bis dahin solltest du folgendes beachten: keine Überanstrengung, viel trinken, gesund essen und viel schlafen. Okay?«

»Okay.«

»Und wenn ich die endgültigen Befunde habe, rufen wir dich an.«

3

Am nächsten Morgen war Mary so übel, daß sie sich übergeben mußte. Aber es gelang ihr trotz der Proteste ihrer Mutter, ihren Vater zu überreden, sie zur Schule zu fahren, wo die Cheerleader für das nächste Schuljahr ausgewählt wurden. Sie war todmüde und schlapp, aber sie hielt durch und war überglücklich, als sie erfuhr, daß sie wieder zum Team gehören würde.

Am Nachmittag lernte sie für die Prüfungen, die in der übernächsten Woche stattfinden sollten, und nach dem Abendessen sah sie sich mit der Familie zusammen einen Bericht im Fernsehen über Sinn und Zweck der Konklave an, die derzeit im Vatikan gehalten wurde. Ehe sie sich am Abend mit Mike traf, ging sie noch zur Beichte.

Eine Welle der Übelkeit überflutete sie, als sie im Beichtstuhl niederkniete und Pater Crispin flüsternd ihre Sünden anvertraute. Sie entschuldigte sich für ihre Unpäßlichkeit, erklärte, sie hätte die Grippe. Die Buße, die er ihr für ihre Sünden auferlegte, war leicht: Fünf Rosenkränze.

Am Sonntag nach der Kirche lag Mary den ganzen Nachmittag am Schwimmbecken und las, während ihr Vater sich im Fernsehen das Baseballspiel der Dodgers gegen die New Yorker Giants ansah und ihre Mutter drei Schwestern von St. Sebastian, die verschiedenes zu erledigen hatten, herumchauffierte.

Am Montag morgen fühlte sich Mary keinen Deut besser, und ihre Mutter ließ sie nicht zur Schule gehen. Am Nachmittag rief die Sprechstundenhilfe von Dr. Wade an und bat Mary, am folgenden Morgen vor der Schule in die Praxis zu kommen. Sie brauchten noch eine Urinprobe von ihr, sagte sie und instruierte Mary, nach sieben Uhr abends nichts mehr zu trinken.

Am Dienstag morgen fühlte sich Mary so weit besser, daß sie wieder zur Schule gehen konnte. Vorher ließ sie sich wie vereinbart von ihrer Mutter bei Dr. Wade vorbeifahren.

Als Mary am Mittwoch gegen Abend aus ihrem Zimmer kam, traf sie mit ihrem Vater zusammen, der, noch damit beschäftigt, ein frisches Hemd zuzuknöpfen, aus dem Elternschlafzimmer trat.

»Hallo, Daddy! Wann bist du denn heimgekommen?«

Sie gab ihm einen Kuß, dann gingen sie Arm in Arm durch den Flur.

»Vor einer Viertelstunde ungefähr. Du hattest dein Radio so laut, daß du mich nicht gehört hast. Wer ist denn dieser Tom Dooley eigentlich, hm?«

»Ach, Dad!« Sie drückte ihn lachend. Wie gut, daß er jeden Mittwoch zum Training ging und sich nicht so gehen ließ wie die meisten Väter ihrer Freundinnen, die schon einen Bauch hatten und schlaff und schwabbelig wirkten.

»Geht's dir besser, Kätzchen?«

»Viel besser. Ich glaub, jetzt hab ich's überwunden, wenn ich auch keine Ahnung hab, was es war.«

»Und wie war's in der Schule?«

»Gut. Ich hab ein A auf meinen Vortrag gekriegt. Und -« Sie sah mit lachenden Augen zu ihm auf.

»Und was?«

»Und was das Beste von allem ist: Mikes Vater nimmt die

Stellung in Boston doch nicht an. Sie bleiben alle hier in Tarza-na und fahren auch den Sommer über nicht weg.«

Ted McFarland lachte. »Ja, das ist natürlich herrlich, Kätzchen.«

»Jetzt können Mike und ich jeden Tag mit den anderen nach Malibu fahren.«

Sie traten ins Eßzimmer, wo Amy schon am Tisch saß, während Lucille noch dabei war, das Besteck zu verteilen.

»Da brauchst du natürlich unbedingt einen neuen Badeanzug, wie?« meinte Ted, als er sie losließ, um sich an seinen Platz zu setzen.

»Du sagst es, Dad. Ich glaub, du kannst Gedanken lesen.« Sie setzte sich ihm gegenüber.

»Aber daß du dir ja nicht so ein unanständiges Ding kaufst, wo man alles sieht«, bemerkte Lucille.

Als alle saßen, sprach Ted das Tischgebet und schnitt dann den Braten auf.

»Ach, wenn ich mir das vorstelle«, sagte Mary ausgelassen. »Zwölf Wochen Faulenzen am Strand. Und von morgens bis abends mit Mike zusammen. Ich freu mich unheimlich auf die Ferien.«

Lucille, die den Brokkoli verteilte, meinte: »Ich hoffe nur, dir bleibt auch noch ein bißchen Zeit für mich. Du weißt doch, wir haben dieses Riesenstück Crepe de Chine, das Shirley mir geschenkt hat. Wir müssen unbedingt was draus machen.«

»Aber klar!« versicherte Mary. »Das hab ich nicht vergessen.«

Sie hatten geplant, während der Ferien gemeinsam zu nähen, da der Stoff leicht für zwei Kleider reichte.