Ihren Sohn zu verlassen bedeutete für Cathérine ein schweres Opfer. Die ganze Liebe, die sie dem Vater nicht mehr geben konnte, hatte sie auf ihn übertragen und umgab ihn mit einer unruhigen, stets wachsamen Zärtlichkeit. Sie ging mit ihm um wie der Geizhals mit seinen Schätzen. Er war die einzigartige, wunderbare Erinnerung an den Abwesenden, das Kind, das nie Brüder oder Schwestern haben würde. Er war der Letzte der Montsalvy. Ganz gleich um welchen Preis, mußte man ihm eine Zukunft bauen, die seiner Vorfahren und besonders seines Vaters würdig war. Und aus diesem Grunde überwachte die junge Frau, tapfer ihre Tränen unterdrückend, die Vorbereitungen der Trennung von ihrem Sohn und seiner Großmutter. Aber wie schwer war es, nicht zu weinen, während man die kleinen Kleidungsstücke, die zum größten Teil das Werk ihrer sorgsamen Hände waren, behutsam in einem Lederkoffer verstaute!
»Mein Kummer ist selbstsüchtig, siehst du!« sagte sie zu Sara, die ihr mit harten Augen und zusammengepreßten Lippen half und sich bemühte, Haltung zu bewahren, »ich weiß, daß Mutter ebenso gut auf ihn aufpassen wird, wie ich es könnte. Ich weiß, daß ihm in der Abtei nichts zustoßen kann, daß er vor allem Bösen, allem Schmerz behütet und daß unsere Abwesenheit, wie ich hoffe, kurz sein wird. Trotzdem mache ich mir große Sorgen!«
»Glaubst du, mir ist es nicht schmerzlich, ihn zu verlassen? Aber schließlich reisen wir für ihn da hinunter, und wenn es für sein Wohl ist, fällt mir nichts zu schwer!«
Und um die Zuverlässigkeit ihrer Überzeugung zu demonstrieren, machte sich Sara mit Eifer daran, die kleinen Hemden des Kindes im Koffer zu verstauen. Trotz allem mußte Cathérine leise lächeln. Ihre alte Sara würde sich nie ändern! Selbst wenn sie vor Kummer erstickte, ließ sie sich lieber in Stücke hauen, als es einzugestehen. Im allgemeinen verwandelte sich bei ihr der Kummer in Wut, die sie an unschuldigen Objekten ausließ. Seitdem Sara wußte, daß sie sich für einige Zeit von ihrem geliebten Säugling trennen mußte, hatte sie bereits zwei Näpfe, eine Schüssel, einen Wasserkrug, einen Schemel und eine Holzstatue des heiligen Géraud zerbrochen, worauf sie in die Kapelle gestürzt war, um den Himmel um Vergebung für ihre unfreiwillige Freveltat anzuflehen.
Während sie sich mit grimmiger Entschlossenheit weiter an die Füllung des Koffers machte, murmelte sie:
»Im Grunde ist es eine gute Sache, daß Fortunat sich weigert, uns zu folgen. In ihm wird Michel einen tüchtigen Verteidiger haben, und dann …«
Sie hielt unvermittelt inne, biß sich auf die Zunge, wie sie es immer tat, wenn sich ihre laut ausgesprochenen Gedanken Arnaud de Montsalvy zuwandten. Der kleine gaskognische Schildknappe zeigte in der Tat fast ebenso tiefen Schmerz wie Cathérine. Er hegte für seinen Herrn eine glühende und unbedingte Ehrerbietung, wie sie manche Männer bei ihren Gefolgsleuten zu wecken verstehen. Er bewunderte ihn ob seiner Tapferkeit und seines untrüglichen Ehrgefühls, ob seiner Befähigung als Kriegsmann und auch dessentwegen, was die Feldhauptleute Karls VII. ›den abscheulichen Montsalvy-Charakter‹ nannten: eine seltsame Mischung von Gewalttätigkeit, Humanität, von Schroffheit und unerschütterlicher Loyalität. Daß die furchtbare Lepra seinen Gott hatte befallen können, war zuerst ein Schock für Fortunat gewesen, dann hatte er sich zornig gegen das Schicksal aufgelehnt und war schließlich in Verzweiflung versunken, die abzuschütteln ihm noch nicht gelungen war. An dem Tag, an dem Arnaud die Seinen auf immer verlassen mußte, hatte Fortunat sich tief in einen Turm verkrochen und sich geweigert, dem entsetzlichen Abschied beizuwohnen. Hugh Kennedy hatte ihn auf dem nackten Boden liegend angetroffen, wie ein Kind schluchzend und beide Fäuste an die Ohren pressend, um das Läuten der Totenglocke nicht hören zu müssen. Seit diesem Tag schleppte sich Fortunat durch die Festung wie eine im Fegefeuer schmachtende Seele, fand keinen Geschmack am Leben mehr, außer einmal in der Woche, am Freitag, wenn er zum Spital von Calves ging und einen Korb mit Lebensmitteln am Turm des Gotteshauses abstellte. Bei diesen wöchentlichen Besuchen einer verschlossenen Pforte lehnte Fortunat jede Begleitung ab. Er wollte allein sein. Selbst Gauthier, der ihm inzwischen ans Herz gewachsen war, hatte nie die Erlaubnis erhalten, ihn zu begleiten. Und nie hatte der kleine Gaskogner sich ein Pferd für den Weg nach Calves geben lassen. Zu Fuß, wie auf einer Pilgerfahrt, legte er die anderthalb Wegstunden von Carlat zur Leprastation zurück, unter das schwere Gewicht des Korbes und auf dem Rückweg unter das seines tiefen Kummers gebeugt. Von Mitleid gerührt, hatte Cathérine ihn nötigen wollen, sich ein Reitpferd zu nehmen, doch Fortunat hatte sich geweigert.
»Nein, Dame Cathérine, nicht einmal einen Esel! ›Er‹ hat nicht mehr das Recht, die Pferde zu besteigen, die er so sehr liebt; da werde ich, sein Knappe, auch nicht zu Pferde zu meinem geschlagenen Herrn gehen!«
Der Adel und die Liebe, die aus diesen Worten sprachen, hatten Cathérine erschüttert. Sie hatte also nicht mehr darauf bestanden, sondern hatte den kleinen Mann mit feuchten Augen an den Schultern ergriffen und ihn schwesterlich auf beide Wangen geküßt.
»Du bist tapferer als ich«, hatte sie zu ihm gesagt, »die ich nicht den Mut habe, dorthin zu gehen. Ich glaube, ich würde vor dieser Pforte, die sich niemals öffnet, sterben. Ich begnüge mich damit, von weitem den Rauch des Schornsteins zu betrachten … Ich bin nur eine Frau«, hatte sie demütig hinzugefügt.
Doch an diesem Abend, an dem sie Fortunat hatte rufen lassen, um ihm die letzten Anweisungen vor dem Aufbruch nach Montsalvy zu geben, hatte sie sich nicht enthalten können, zu ihm zu sagen:
»Von Montsalvy nach Calves sind es mehr als fünf Meilen, Fortunat! Du solltest dich endlich entschließen, ein Pferd oder zumindest ein Maultier zu nehmen. Du brauchst dein Reittier nur in einiger Entfernung von …«
Das peinliche, den verworfenen Ort näher bezeichnende Wort kam nie über ihre Lippen. Doch Fortunat schüttelte den Kopf.
»Ich werde zwei Tage hin und zurück brauchen, Dame Cathérine, das ist alles!«
Auch diesmal erwiderte Cathérine nichts. Sie verstand im Grunde das Bedürfnis des kleinen Gaskogners, auf seine Weise zu leiden, wenn er zu dem ging, der nur noch Leid zu erdulden hatte. Aber zwischen den Zähnen, nur für sich, murmelte die junge Frau, die Hände aneinanderpressend:
»Eines Tages … werde auch ich hinübergehen! Und werde nie zurückkehren …«
Am Morgen beobachtete Cathérine, aufrecht auf dem Wall stehend, hinter ihr Sara und Gauthier, wie ihr Sohn und ihre Schwiegermutter Carlat verließen. Durch ihren schwarzen Schleier geschützt, sah sie die uralte Sänfte, ein schwerfälliges Möbel mit dicken Ledervorhängen, das man für diese Gelegenheit aus einem Winkel des Marstalls ausgegraben hatte, sich durch die Pforte der Umwallung bewegen. Ein eisiger Wind fegte durch das schneebedeckte Tal, doch in der Sänfte, in der man mit rotglühenden Kohlen gefüllte Behälter aufgestellt und Decken aufgehäuft hatte, würde Michel zwischen seiner Großmutter und Donatienne nicht frieren. Inmitten seiner bis an die Zähne bewaffneten Eskorte ging der kleine Knabe der Ruhe und Sicherheit entgegen, aber seine Mutter konnte die Tränen nicht zurückhalten. Da niemand hinter das zarte Bollwerk des Musselins blicken konnte, vergab sie sich nichts damit. Auf den Lippen spürte sie noch die frischen, samtenen Wangen des Kindes. Sie hatte es in einem plötzlichen Ausbruch von Leidenschaft geküßt, innerlich von der erzwungenen Trennung gepeinigt, bevor sie es seiner Großmutter wieder in die Arme gab. Dann hatten die beiden Frauen sich wortlos umarmt, doch als Isabelle de Montsalvy in die Sänfte stieg, hatte sie mit dem Daumen vor der Stirn der jungen Frau das Zeichen des Kreuzes gemacht. Dann hatte sie Michel fester in die Arme geschlossen, und die Ledervorhänge waren hinter ihnen zugefallen.
Jetzt wand sich der Zug den steilen Abhang hinunter und erreichte die ersten Häuser des Dorfs. Von ihrem Beobachtungsposten aus konnte Cathérine die roten oder blauen Mützen einiger an der Kirche versammelter Bauern sehen. Frauen traten aus ihren Häusern, einige hatten Spinnrocken in der Hand und das Wollgarn in einem Weidenkorb dabei. Als die Sänfte vorbeizog, wurden die Kappen abgenommen. Absolute Stille breitete sich über das wie in ein Leichentuch gehüllte weiße Land. Der Rauch der Kamine zeichnete da und dort dünne graue Spiralen in die Luft, über den Bergen, wo die Kastanien, ihres sommerlichen Laubs beraubt, ihre schwarzen Gerippe zum Himmel reckten, drang eine mühselige Sonne durch die Wolken, beschien die rußfarbenen Lanzenspitzen der Soldaten der Eskorte, ließ sie düster glänzen und färbte die Reiherfedern der Helme gelb. Ian MacLaren, Hugh Kennedys Leutnant, befehligte das Detachement von Schotten, das beauftragt war, den kleinen Seigneur und seine Großmutter nach Montsalvy zu geleiten. Die Abteilung sollte tags darauf zurück sein. Die Abreise nach Norden würde am Mittwoch stattfinden.
Als ein sich bis ins Tal hinunterziehendes Gehölz den kleinen Trupp verschluckt hatte und nur noch eine tiefe Doppelspur im Schnee zurückblieb, drehte Cathérine sich um. Sara, die Hände auf der Brust verschlungen, die Augen voller Tränen, blickte starr auf die Stelle, wo der Trupp verschwunden war. Cathérine sah, daß ihre Lippen zitterten. Dann suchte sie den Blick Gauthiers, aber er schenkte ihr keine Aufmerksamkeit. Nach Westen gewandt, schien er etwas zu hören. Der Ausdruck seines derben Gesichts war so gespannt, daß Cathérine, die sein Jagdhundgespür kannte, sofort unruhig wurde.
»Was ist los? Hörst du etwas?«
Ohne zu antworten, machte er ein bejahendes Zeichen und lief zur Treppe. Cathérine folgte ihm, blieb aber schnell hinter den weitausgreifenden Schritten des Normannen zurück. Sie sah ihn eiligst den Hof überqueren, unter dem Schutzdach verschwinden, wo der Hufschmied arbeitete, und gleich darauf mit Kennedy wieder zum Vorschein kommen. Gleichzeitig gellte der Ruf eines Wächters von der Turmspitze: »Bewaffneter Trupp in Sicht!«
Das Kleid raffend, stieg sie die wenigen Stufen wieder empor, die sie heruntergekommen war, und lief, von Sara gefolgt, den langen Wehrgang entlang zum Schwarzen Turm. Die Ankündigung dieses Trupps verstärkte ihre Angst um ihren Sohn, obgleich er sich aus der entgegengesetzten Richtung zu nähern schien, als die Eskorte eingeschlagen hatte. Sie erreichte die vorspringende Turmwehr just in dem Augenblick, in dem Gauthier und der Gouverneur, rot und außer Atem vom schnellen Treppensteigen, oben erschienen. Sofort stürzten sie zu den Schießscharten. Tatsächlich war auf der Straße von Aurillac ein starker Trupp aufgetaucht. Er zeichnete sich auf dem Schnee als lange graue Spur ab, wie ein stumpf schimmernder Schlammstrom, der näher kam, näher kam, näher … Wenige Banner, deren Farben auf diese Entfernung übrigens nicht zu unterscheiden waren, aber an der Spitze flatterte etwas Langes, Rotes im Wind. Cathérine versuchte, mit zusammengekniffenen Augen das eingestickte Wappen zu erkennen, und gab es dann auf. Aber Gauthiers scharfe Augen hatten es schon entziffert.
»Viergeteiltes Wappen!« sagte er kurz. »Halbmonde und Querstreifen, das habe ich doch schon irgendwo gesehen …!«
Cathérine gestattete sich ein dünnes Lächeln.
»Du wirst noch ein Gelehrter werden«, sagte sie. »Nächstens tust du es den königlichen Heraldikern gleich!«
Aber Kennedy lächelte nicht. Sein ziegelsteinrotes Gesicht mit dem vorwurfsvollen Zug um die schmollenden Lippen sah unheilverkündend aus. Er wandte sich ab, brüllte etwas in seinem groben Dialekt und fügte hinzu:
»Das Fallgatter herunter! Zugbrücke hoch! Die Bogenschützen auf die Mauern!«
Sofort war die Festung von Betriebsamkeit erfüllt. Mit Bogen und Hellebarden bewaffnet, stiegen die Männer auf die Mauern, während andere die Zugbrücke und das Fallgatter bedienten. Gutturale Schreie, Rufe, Waffenklirren, emsiges Hin- und Herlaufen in jeder Richtung. Das noch vor einem Augenblick unter dem Schnee schlummernde Schloß war jäh erwacht. Schon stapelte man in den Wehrgängen Holzscheite auf und schleppte die großen Töpfe für das kochende Öl heran. Cathérine trat zu Kennedy.
»Ihr setzt das Schloß in Verteidigungszustand? Warum?« fragte sie. »Wer nähert sich uns?«
»Villa-Andrado, der Hund von Kastilien!« gab er kurz zurück. Und um zu zeigen, welche Achtung er für den Ankömmling empfand, spuckte der Schotte in großem Bogen aus und fügte hinzu: »Gestern nacht haben die Wachen einen Feuerschein von Aurillac her beobachtet. Ich hatte der Sache keine weitere Aufmerksamkeit geschenkt, aber ich muß zugeben, daß ich unrecht hatte. Das war er!«
"Cathérine de Montsalvy" отзывы
Отзывы читателей о книге "Cathérine de Montsalvy". Читайте комментарии и мнения людей о произведении.
Понравилась книга? Поделитесь впечатлениями - оставьте Ваш отзыв и расскажите о книге "Cathérine de Montsalvy" друзьям в соцсетях.