Cathérine reichte ihr ein Goldstück und fragte, ob sie ihr eine Auskunft geben wolle.

»Gold«, sagte sie, »schönes, gutes Gold! Es ist schon sehr lange her, daß ich das gesehen habe! Was wollt Ihr wissen, mein junger Edelknappe?«

»Wann ist das Hospital abgebrannt?«

Trotz des Goldstücks wandte die Alte den Kopf zur Seite, sichtlich abgeneigt zu sprechen. Sie zögerte, umklammerte mit ihrer runzligen Hand das Goldstück und entschloß sich endlich.

»Donnerstag nacht. Die Leprakranken sind närrisch geworden. Das heißt … der Mönch, der sie behütete und über sie wachte … ein Heiliger! … ist abends zuvor gestorben, am Biß einer Viper. Was für einen Heidenlärm sie gemacht haben! Den ganzen Abend konnte man sie weinen und kreischen hören … wie Dämonen! Die Berge hallten davon wider. Es war, als hätte sich die Hölle aufgetan … Die Leute vom Dorf hatten Angst. Sie glaubten, die Leprakranken seien ausgezogen, um sie anzugreifen! Sie sind deshalb nach Carlat gelaufen, um die Besatzung um Hilfe zu bitten. Darauf sind die Soldaten gekommen …«

Sie hielt inne und warf, offenbar in Erinnerung an die Schreckensbilder, die sie gesehen hatte, ängstliche Blicke in Richtung der Ruinen. Dann bekreuzigte sie sich.

»Und dann?« fragte Cathérine keuchend.

»In der Nacht sind sie gekommen«, fuhr die Alte mit abnehmender Stimme fort. »Die Leprakranken schrien unaufhörlich ihren Schmerz hinaus … Es war entsetzlich! Doch danach … war es noch schlimmer!«

Cathérine wurde übel. Sie ließ sich auf eine vor der Hütte stehende Steinbank sinken und wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn.

»Um Himmels willen … Weiter, weiter!«

»Die Bewaffneten waren alte Landsknechte, richtige Barbaren«, platzte die Alte mit plötzlicher Heftigkeit heraus. »Sie haben das Portal des Hospitals verbarrikadiert … und dann haben sie das Feuer angelegt!«

Ein doppelter Entsetzensschrei antwortete ihr. Cathérine, zutiefst getroffen, hatte sich an die Wand gelehnt.

»Arnaud!« flüsterte sie. »Mein Gott!«

Die Alte war jetzt in Fahrt. Mit einer Art Wut fuhr sie fort:

»Die Soldaten waren betrunken, weil die Leute vom Dorf ihnen zu trinken gaben, um ihnen Mut zu machen, zum Hospital zu gehen. Sie brüllten, man müsse dieses Nest der Ausgestoßenen zerstören … das Tal müsse gesäubert werden! … Die ganze Nacht hat es gebrannt. Doch schon vor Mitternacht hörte man nichts mehr schreien … nur noch das Knattern der Flammen!«

Sie schwieg, und es war auch Zeit. Cathérine war es schwindlig geworden.

Gauthier neigte sich über sie und packte ihren Arm.

»Kommt«, sagte er sanft. »Wir gehen …«

Aber wie teilnahmslos blieb sie unbeweglich sitzen. Die Alte sah sie neugierig an.

»Der junge Herr scheint zu leiden! Kannte er denn einen der Unglücklichen?«

»Der junge Herr ist eine Frau«, erwiderte Gauthier kurz. »Sie kannte … tatsächlich einen von ihnen!«

Cathérine hörte nichts mehr. Ihr Körper schien ihr wie Stein, und in ihrem leeren Kopf hallte ein einziger Gedanke wie der Schlag einer Glocke:

»Er ist tot! Sie haben ihn mir getötet!«

Sie hatte alles vergessen, was Gauthier ihr gesagt hatte. Vor ihren Augen war nur noch die flammende Feuersbrunst in der Nacht, und ihr Herz schmerzte, als ob Eisenkrallen es ihr aus der Brust reißen wollten …

Die Alte war still ins Haus zurückgegangen und kehrte mit einem Napf wieder zurück.

»Da, arme Dame«, sagte sie, »trinkt das! Es sind in Wein eingeweichte Kräuter. Es wird Euch guttun.«

Cathérine trank, fühlte sich gleich ein wenig besser und wollte aufstehen, aber die Alte hielt sie zurück.

»Nein, bleibt! Die Nacht bricht gleich herein, und die Straßen sind nicht sicher. Wenn Euch niemand erwartet, bleibt hier bis zum Morgen … Ich habe Euch wenig zu bieten, aber ich gebe es Euch gern.«

Gauthier blickte fragend in das blasse Gesicht der jungen Frau, die sich nur mit Mühe aufrecht halten zu können schien. In dieser Nacht konnte sie auf keinen Fall nach Montsalvy zurückreiten.

»Wir bleiben hier«, sagte er einfach. »Habt Dank!«

Die ganze Nacht verbrachte Gauthier am Kopfende der Strohmatratze, auf die Cathérine, vergebens Schlaf suchend, sich ausgestreckt hatte. Die ganze Nacht versuchte er, der wunden Seele der jungen Frau das Vertrauen einzuflößen, das ihn beherrschte. Er sagte es immer wieder, wiederholte unablässig dieselben Dinge! Cathérine hatte keinen Geist gesehen! Sie hatte Arnaud selbst gesehen, der zweifellos mit Hilfe Fortunáis dem Feuer entronnen war … und die beiden Männer hatten fliehen und die Pferde nehmen müssen. Aber sie wollte ihm nicht glauben. Arnaud hatte keinen Grund, von Montsalvy zu fliehen. Er konnte zumindest bei Saturnin Zuflucht suchen, der ihn trotz der Angst vor der Krankheit aufgenommen hätte … Nein, erwiderte Gauthier, der Herr fürchtete, die Seinen zu infizieren. Wenn er sich seiner Mutter genähert hatte, dann nur, weil er wußte, daß sie im Sterben lag … und Fortunat hatte ihn vielleicht in ein anderes Hospital geführt. Bei Conques solle es eines geben …

»Verzweifelt nicht, Dame Cathérine … Wir werden nach Montsalvy zurückkehren, und in einigen Tagen werdet Ihr Fortunat wiedersehen. Glaubt mir!«

»Ich möchte dir gerne glauben«, seufzte Cathérine, »aber ich wage es nicht! Allzuoft bin ich getäuscht worden!«

»Ich weiß! Aber mit Mut und Zähigkeit kann man die Not überwinden! Eines Tages, Dame Cathérine, werdet Ihr auch noch …«

»Nein. Sag nichts mehr. Ich werde versuchen, vernünftig zu sein … Ich werde versuchen, dir zu glauben …«

Aber es gelang ihr nicht. Als der Tag anbrach, war sie noch ebenso entmutigt, ebenso verzweifelt. Sie bedankte sich großzügig bei der alten Bäuerin für ihre Gastlichkeit und schlug dann im herrlichsten Sonnenschein, der gleichermaßen ihren müden Augen und ihrem schweren Herzen weh tat, mit Gauthier den Weg nach Montsalvy ein.

Von der wundervollen Landschaft des Tals der Truyère mit ihren grünen, bewaldeten Bergrücken bemerkte Cathérine nichts. Sie ritt mit gebeugtem Rücken und halbgeschlossenen Augen dahin, in ihre quälenden Gedanken versunken. Die Vision, die ihr neulich nacht zuteil geworden war, hatte sie so nachhaltig vom Tode Arnauds überzeugt, daß die ganze Welt plötzlich ihre Farbe verloren hatte. Es war, als sei etwas in ihr selbst gestorben. Ihr leerer Geist fand nicht einmal mehr ein Gebet, um den Himmel um Hilfe anzuflehen. Der Gotteslästerung nahe, dachte Cathérine nur an Gott, um ihn ungerechter Grausamkeit zu bezichtigen. Welchen Preis ließ er sie für jede der Gunstbezeigungen, die er ihr so knausrig gewährte, bezahlen!

Außerdem entdeckte sie, daß sie Arnaud bisher nicht wirklich verloren gegeben hatte. Gewiß, man hatte ihn aus der Liste der Lebenden gestrichen, aber irgendwo unter dem Himmel atmete er, und sie, Cathérine, hielt es für möglich, ihn wiederzufinden, sobald ihre Aufgabe beendet sein würde. Was blieb ihr jetzt? Eine ungeheure Leere und der Geschmack von Asche auf den Lippen … Von Zeit zu Zeit trieb Gauthier sein Pferd neben das ihre und sprach mit ihr, um zu versuchen, sie aus ihrer selbstzerstörerischen Traurigkeit zu reißen. Sie antwortete einsilbig, dann gab sie ihrem Pferd die Sporen und ritt einige Klafter voraus. Für sie war nur noch die Einsamkeit erträglich.

Als Cathérine indessen in den Hof von Montsalvy einritt, regte sich eine Empfindung in ihr, die fast ein wenig wie Freude war, denn auf der Schwelle des Gästehauses stand Sara, den kleinen Michel auf dem Arm! Sie stand bewegungslos da, hatte das Kind ans Herz gedrückt und glich in dieser Haltung einer ländlichen Madonna; doch als die Reiter näher kamen, bemerkten die scharfen Augen der Zigeunerin das verwüstete Gesicht und den schlafwandlerischen Blick Cathérines. Der anfangs strenge Ausdruck ihrer Züge milderte sich. Die fast mütterliche Liebe, die Sara für Cathérine empfand, erriet ihr Leid allein aus ihrer gedrückten Haltung. Ohne die Augen von ihr zu wenden, reichte sie Michel Donatienne, die das Klappern der Hufe herbeigelockt hatte, und ging den Ankömmlingen entgegen.

Kein Wort wurde gesprochen. Als Sara neben ihrem Pferd angelangt war, ließ Cathérine sich zu Boden gleiten und warf sich schluchzend in die ihr entgegengestreckten Arme. Wie tröstlich sie ihr schien in diesem Augenblick der Verzweiflung, diese vorübergehend verlorene Zuflucht! Aber so jammervoll war der Anblick der jungen Frau, daß nun auch Sara in Tränen ausbrach.

Ohne sich voneinander zu lösen, kehrten sie zusammen ins Haus zurück.

Drinnen bekam Cathérine ihre Nerven wieder ein wenig in die Gewalt und wandte der alten Freundin ihr tränenüberströmtes Gesicht zu.

»Sara! Meine gute Sara! … Daß du zurückgekommen bist! Ich bin also doch nicht ganz verflucht!«

»Verflucht? Du? Armes Ding! … Wer hat dir denn diese Idee in den Kopf gesetzt?«

»Sie ist überzeugt, daß Messire Arnaud in dem Brand umgekommen ist, der das Hospital von Calves zerstört hat!« sagte hinter ihr die ernste Stimme Gauthiers. »Sie will keinen Trost empfangen, will keinen Zweifel gelten lassen!«

»Sieh mal einer an!« sagte Sara, deren Kampflust beim bloßen Anblick ihres alten Feindes sofort wiedererwacht war. »Erzählt mir das!«

Und während Cathérine ihren Sohn mit einer Heftigkeit umarmte, die auf ihr übersprudelndes Herz schließen ließ, zog Sara den Normannen zum Kaminsims. In wenigen Worten hatte Gauthier alles berichtet: Cathérines Rückkehr, die Krankheit der Dame Isabelle, die seltsame nächtliche Vision der jungen Frau, das Verschwinden der beiden Pferde und schließlich das Drama von Calves. Sara hörte ihn an, ohne ihn zu unterbrechen, mit gerunzelter Stirn, nicht die geringste Einzelheit des Berichts übersehend. Als er geendet hatte, verharrte sie einen Augenblick mit verschränkten Armen, das Kinn in der Hand, stumm auf den Rost des Kamins starrend, wo man Reisig aufgehäuft hatte.

Schließlich ging sie zu Cathérine zurück, die sie von ihrem Schemel aus angstvoll beobachtete, während sie Michel mechanisch auf den Knien wiegte.

»Was haltet Ihr davon?« fragte Gauthier.

»Daß Ihr recht habt, mein Junge! Der Herr ist nicht tot! Das ist nicht möglich!«

»Wie hätte er dann entkommen können?« fragte Cathérine.

»Ich weiß es nicht! Aber einen Geist hast du nicht gesehen. Geister tragen keine Masken, ich kenne sie!«

»Ich will dir gern glauben«, seufzte Cathérine. »Aber nun sag, was ich tun soll?«

»Ein paar Tage abwarten, wie Gauthier sagte, um Fortunat Zeit zur Rückkehr zu geben. Wenn er nicht kommt …«

»Wenn er nicht kommt?«

»Reiten wir mit Saturnin und ein paar kräftigen Männern nach Calves zurück. Wir werden die Trümmer durchwühlen, bis wir Gewißheit haben. Aber was mich betrifft, habe ich diese Gewißheit bereits: Es gibt keine Leiche in Calves … zumindest nicht die, an die du denkst …«

Diesmal kehrte ein wenig Hoffnung in Cathérines Herz zurück. So innig waren die Bande, die sie mit Sara vereinten, daß sie, durch mancherlei Erfahrungen bestärkt, in ihr wenn nicht ein Orakel, so doch einen klaren Verstand sah, der sich selten täuschte und sich zuweilen sogar zu Momenten seltsamen Scharfblicks aufschwingen konnte … Sie antwortete nicht, sondern nahm die Hand ihrer alten Freundin und hob sie demütig an ihre Wange wie ein Kind, das um Verzeihung bittet.

Saras Augen waren voll Zärtlichkeit, als sie auf den blonden, ihr zugeneigten Kopf hinabsah. Im einbrechenden Abend läutete die Klosterglocke zum Gebet.

»Die Mönche gehen jetzt in die Kapelle«, sagte Sara. »Du solltest auch beten gehen …«

Cathérine schüttelte den Kopf.

»Ich habe keine Wünsche mehr, Sara! Was nützt es zu beten? Gott erinnert sich meiner nur, um mich zu züchtigen.«

»Du bist ungerecht! Er hat dir die bitteren Früchte der Rache und die süßeren des Triumphs geschenkt. Du hast Montsalvy das Recht auf seine Existenz zurückgegeben.«

»Aber um welchen Preis?«

»Um einen Preis, den du noch nicht kennst … es sei denn, du bedauerst den, den du in Chinon zurückgelassen hast«, fügte sie absichtsvoll hinzu. Sie wollte sehen, wie Cathérine auf die Erinnerung an den Mann reagieren würde, dessentwegen sie beide sich entzweit hatten … Aber sie wurde in dieser Hinsicht sofort beruhigt. Cathérine hob ungeduldig die Schultern.

»Was soll ich bedauern, solange ich nicht weiß, was Amaud zugestoßen ist?«

Dem gab es nichts hinzuzufügen.

Das Fieber, das Isabelle verzehrte, schien nachzulassen. Die alte Dame delirierte nicht mehr, sie hustete weniger, aber sie wurde mählich schwächer wie eine heruntergebrannte Öllampe.