»Du hast deine Botschaft gut überbracht, mein Junge. Geh nun und ruh dich aus.«

Doch Cathérine hielt ihn zurück:

»Warte! Auch ich möchte dir danken, Schäfer …«

Sie wühlte in ihrem Almosenbeutel, aber der junge Mann machte eine abweisende Bewegung.

»Nein, edle Dame! Ich habe meinen Lohn schon erhalten! Kauft meinen Käse, wenn Ihr wollt, sonst nehme ich nichts an.«

»Ich kaufe deinen ganzen Käse, Kleiner! Und Gott segne dich!«

In die Hand des sprachlosen Schäfers leerte sie ihre Börse. Der Junge trat zurück, sie mit Segenswünschen überhäufend, die sie nicht einmal mehr hörte. Sie wollte allein sein, um die kostbare Botschaft zu lesen … Als der Schäfer verschwunden war, hob sie die Augen zu Saturnin.

»Niemand«, sagte sie, »darf erfahren, wer den Schäfer getroffen hat, niemand in Montsalvy! Und besonders nicht Dame Isabelle!«

»Es war Messire Arnaud, nicht wahr?«

»Ja, Saturnin, er war es! Das Hospital in Calves ist gestern nacht abgebrannt. Er konnte entrinnen, durch welches Wunder auch immer, aber es ist besser, daß sie es nicht erfährt. Nur Donatienne, Sara und Gauthier dürfen es wissen.«

»Seid ohne Furcht. Niemand wird davon erfahren. Für jedermann hier, selbst für den Abt, ist Messire Arnaud in Carlat gestorben. Sie werden weiter daran glauben! Jetzt lasse ich Euch einen Augenblick allein.«

»Danke, Saturnin … Ihr seid gut!«

Er ging auf Zehenspitzen hinaus und schloß sorgfältig die Tür hinter sich. Cathérine setzte sich auf den blitzsauberen Stein des gelöschten Kamins und öffnete langsam das Pergament. Ihre Hände zitterten vor Erregung und Freude, aber die Tränen brannten ihr derart in den Augen, daß sie zuerst Mühe hatte, die festen Schriftzüge ihres Gatten zu entziffern. Sie fuhr sich mit der Hand über die Stirn, über die Augen, als wollte sie den Schleier, der sie bedeckte, wegreißen.

»Mein Gott«, sagte sie mit einem nervösen Lachen. »Ich werde es nie lesen können! Ich muß mich beruhigen!«

Sie zwang sich, zwei- oder dreimal tief zu atmen, und trocknete sich die Tränen. Diesmal wurde der Text klar.

»Cathérine«, lautete das Pergament, »ich bin im Gebrauch der Feder nie sehr geschickt gewesen, aber bevor ich für immer verschwinde, wollte ich Dir ein letztes Mal Lebewohl sagen und Dir das Glück wünschen, das Du verdienst. Du hast es gefunden, wie man mir sagt, und mein Wunsch ist belanglos. Bin ich nicht ein Toter, der noch atmet und der – ach! – nicht aufgehört hat zu denken? … Aber ich habe noch die Fähigkeit, Dir zu sagen, daß Du von nun an frei bist, kraft meines eigenen Willens!«

Cathérines Herzschlag setzte einen Augenblick aus. Ihre Finger krampften sich um das Pergament, doch tapfer fuhr sie in ihrer Lektüre fort. Das Folgende war noch schlimmer:

»Der, den Du auserwählt hast, wird Dir alles geben, was ich Dir nicht habe geben können. Er ist tapfer und Deiner würdig. Du wirst reich, gefeiert und geehrt sein! Doch ich, Cathérine, ich, dem es, obwohl tot, noch nicht gelungen ist, die Liebe in meinem Herzen abzutöten, ich kann nicht mehr in diesem Lande bleiben, in dem Du nicht mehr sein wirst. Was ich ertragen konnte, solange Du in meiner Nähe warst, kann ich nicht mehr, wenn Du Dich entfernst! Ich möchte nicht mehr wie eine Ratte in ihrem Loch krepieren, mich langsam in einer Höhle zum Sterben legen. Ich möchte am hellichten Tage sterben … und allein! Fortunat, der nie aufgehört hat, mit mir in Verbindung zu bleiben, hat mir, bei Gefahr seines Lebens und trotz meiner Gegenwehr, geholfen zu fliehen. Er wird mein letzter Freund gewesen sein …

Denkst Du noch an den Pilger, den wir beide getroffen haben? Er hieß Barnabe, glaube ich, und ich höre noch, wie er uns sagte: ›Erinnert Euch in den schweren Stunden, die Euch bevorstehen, an den alten San-Jago-Pilger …‹ Erinnere Dich, Cathérine! An der Gruft des Apostels hat er seine Sehkraft wiedererlangt … So Gott will, werde ich die verfluchte Krankheit in Galicia los. Dann werde ich unter einem angenommenen Namen dem Heiligen Vater meinen Degen gegen die Ungläubigen anbieten. Sollte jedoch die Gnade der Heilung dem Sünder, der ich bin, verweigert werden, werde ich trotzdem eine Gelegenheit finden, als Mann zu sterben.

Hier trennen sich unsere Wege für immer. Du gehst dem Glück, ich meinem Schicksal entgegen. Leb wohl, Cathérine, meine Kleine …«

Der Brief entglitt den plötzlich eisigen Fingern Cathérines. In ihrer Seele mischte sich unerträglicher Schmerz mit einem Zorn, einem wahnsinnigen Zorn, stürmisch, mörderisch, auf Brézé. Was für Unheil hatte sein Geschwätz angerichtet! Sein großes Leidenschaftsgeschrei! Der nahe bevorstehende Tod Isabelles, Arnauds Flucht und für Cathérine diese entsetzlichen Gewissensbisse! Arnaud war fortgegangen, weit, weit fort, weil er sie für untreu hielt! Er sagte, er liebe sie noch und aus diesem Grunde gehe er fort … aber wie lange würde diese Liebe noch anhalten, die sich nicht vom anderen getragen, vom anderen erwidert fühlte? Zorn auch gegen sich selbst! Wie hatte sie nur den alten Pilger und den Rat, den er ihnen gegeben hatte, vergessen können? Warum hatte sie nicht alles stehen- und liegenlassen, alles aufgegeben, um den Mann, den sie liebte, seiner möglichen Rettung zuzuführen, statt einer lächerlichen Rache nachzujagen! Warum war sie nicht mit ihm fortgegangen, vor Monaten schon, um das Unmögliche zu versuchen? In ihrer Wut vergaß sie, daß Arnaud niemals eingewilligt hätte, sie in ein solches Abenteuer zu verwickeln, er, der sie aus Furcht vor Ansteckung nicht einmal zu berühren gewagt hatte.

Und dann ebbte der Zorn ab, und es blieb nur noch der Schmerz. Auf dem Kaminstein zusammengekauert, schluchzte Cathérine hemmungslos, immer wieder den Verlorenen rufend … Der Gedanke, daß Arnaud sich verraten und vergessen glauben konnte, war unerträglich. Er brannte wie glühendes Eisen. Mit Entsetzen sah sie sich im Obstgarten von Chinon wieder in die Arme Pierre de Brézés fallen und verfluchte sich wütend. Mit welchem unmenschlichen Preis mußte sie diesen Augenblick der Tollheit bezahlen?

Sie hob den Kopf, sah sich allein in diesem geschlossenen Raum, eingefangen wie in einem Spinnennetz. Ihr verstörter Blick irrte von der Tür zum Fenster. Sie mußte fliehen, auch sie, mußte sich an die Verfolgung Arnauds machen! Sie brau Ate ein Pferd, sofort, das schnellste Pferd … Sie mußte über Mauern, über Ebenen, über Gebirge fliegen … Sie mußte ihn finden! Das war es, ihn finden, koste es, was es wolle, sich ihm zu Füßen werfen, seine Verzeihung erflehen und ihn nicht mehr verlassen … nie mehr!

Wie eine Wahnsinnige stürzte sie zur Tür, stieß sie auf und rief:

»Saturnin! Saturnin! … Pferde!«

Der alte Mann eilte herbei, voller Sorge, als er die in Tränen aufgelöste Frau mit den roten, brennenden Augen gewahrte.

»Dame! Was habt Ihr?«

»Ich möchte ein Pferd, Saturnin … und zwar sofort! Ich muß fort … ich muß ihn wiederfinden!«

»Dame Cathérine, es dunkelt schon, die Tore werden geschlossen … Wo wollt Ihr hin?«

»Ihn finden, meinen Herrn … Arnaud!«

Sie hatte verzweifelt den vielgeliebten Namen hinausgeschrien. Saturnin schüttelte den Kopf und trat zu der jungen Frau. Noch nie hatte er sie so blaß, so erschüttert gesehen.

»Ihr zittert! … Kommt mit mir. Ich werde Euch ins Kloster zurückbringen! Ich weiß nicht, was geschehen ist, aber heute abend könnt Ihr nichts mehr tun. Ihr braucht Ruhe.«

Er hob das Pergament auf, legte es ihr wie einem Kind in die Hände und zog sie sanft hinaus. Gleich einer Schlafwandlerin ließ sie es geschehen, protestierte aber trotzdem wie aus der Tiefe eines Traums.

»Ihr versteht nicht, Saturnin! Ich muß ihn einholen … Er ist schon weit fort … und für immer!«

»Er war schon vorher für immer fort, Dame Cathérine! An einem Ort, von dem man nicht wiederkehrt. Kommt mit mir. Im Kloster sind Dame Isabelle, Gauthier, Sara … Sie lieben Euch, sie werden Euch helfen, wenn sie Euch in dieser großen Not sehen werden. Kommt, Dame Cathérine …«

Die frische Abendluft tat der jungen Frau gut und gestattete ihr, sich wieder ein wenig zu fassen. Vom Arm Saturnins gestützt, vermochte sie während des kurzen Weges ihr Hirn zu zwingen, den wahnwitzigen Gedankenwirbel zu beenden, sich zu beruhigen. Mußte sie sich nicht beschwichtigen, mußte sie nicht so vernünftig und kalt denken wie möglich? Saturnin hatte recht, wenn er sagte, Sara und Gauthier würden ihr helfen … Aber es war unumgänglich, daß sie ihre Nerven in der Gewalt hatte, daß sie versuchte, nicht mehr zu denken, Arnaud habe sich für immer von ihr getrennt, habe das Band, das sie noch vereinte, zerschnitten …

Sie richtete sich auf, bemühte sich, vor den Leuten, die sie auf der Straße traf, Haltung zu bewahren. Doch als sie im Kloster ankamen, trafen Cathérine und Saturnin den Abt persönlich in der Loge des Bruders Pförtner an …

»Ich wollte Euch schon suchen gehen, Dame Cathérine«, sagte er. »Eure Mutter hat einen Rückfall gehabt und das Bewußtsein verloren …«

»Dabei ging es ihr vorhin doch so gut!«

»Ich weiß. Wir sprachen ruhig miteinander, doch plötzlich sank sie in die Kissen zurück, der Atem ging kurz … Sara ist bei ihr und unser Bruder Apotheker.«

Cathérine war gezwungen, ihren eigenen Schmerz zum Schweigen zu bringen, während sie an das Krankenbett der alten Frau eilte. Tapfer schob sie den fatalen Brief in ihren Almosenbeutel und ging zu Isabelle hinein. Die Kranke lag immer noch regungslos auf ihrem Lager, über sie gebeugt, versuchte Sara, sie wiederzubeleben, indem sie sie scharfen Duft eines Fläschchens einatmen ließ, während der Bruder Apotheker ihr die Schläfen mit einem belebenden Wasser einrieb. Cathérine beugte sich hinunter:

»Geht es ihr sehr schlecht?«

»Sie kommt wieder zu sich!« flüsterte Sara mit gerunzelter Stirn. »Aber ich habe wahrhaftig geglaubt, es gehe zu Ende.«

»Auf jeden Fall«, meinte der Mönch, »wird sie es nicht mehr lange machen. Sie hält sich nur mit Mühe aufrecht.«

In der Tat kam Isabelle mählich wieder zu sich. Mit einem erleichterten Seufzer richtete Sara sich auf und lächelte Cathérine zu, doch ihr Lächeln verschwand so schnell, wie es gekommen.

»Aber … du bist ja blasser als sie! Was ist denn passiert?«

»Ich weiß, wo Arnaud ist!« erwiderte Cathérine mit tonloser Stimme. »Du hattest recht, Sara, als du sagtest, daß ich es mein Leben lang bereuen würde, wenn ich Pierre de Brézé erhörte. Die Reue ist sehr schnell gekommen.«

»Sprich doch. Was ist?«

»Nein. Später. Saturnin wird im großen Saal warten. Bitte ihn zu bleiben. Suche auch Gauthier, schicke jemand zu Ehrwürden Vater Abt und laß ihn bitten, sich zu uns zu bemühen. Ich habe ernste Dinge zu berichten!«

Eine Stunde später trat der Rat zusammen, den Cathérine gewünscht hatte, zwar nicht im Gemeinschaftssaal des Gästehauses, sondern im Kapitularsaal der Abtei, in den der Abt seine Gefährten hatte bitten lassen. Von Bruder Eusebius geführt, schritten Cathérine, Gauthier, Saturnin und Sara durch die zu dieser Stunde stille Kirche, in der ein Öllämpchen vor einer Statue Unserer Frau brannte, der die Stiftskirche geweiht war. Dann traten sie in den großen Saal. Er wurde durch vier an zwei das Gewölbe tragenden Säulen angebrachte Fackeln erleuchtet.

Der Abt, ein schmales Schemen in seiner langen schwarzen Kutte, war allein. Langsam ging er vor dem Abt-Thron hin und her, die Hände in den weiten Ärmeln vergraben, die Stirn unter dem kurz geschorenen, hellen Haarkranz gesenkt. Das Licht der Fackeln verlieh seinem gelben, asketischen Gesicht die Tönung alten Elfenbeins. Er war gleichermaßen ein Mann der Tat, denn er leitete sein Kloster mit fester Hand, und ein Mann des Gebetes.

Seine Liebe zu Gott war unermeßlich, sein Leben ohne Fehl, und wenn seine Jugend ihn zwang, strenge Haltung zu bewahren, ernst auszusehen, um seine Autorität zu sichern, verbarg er unter seinem fast eisigen Benehmen doch großes Mitleid mit den Menschen und ein glühendes Herz.

Als er die von ihm Erwarteten eintreten sah, blieb er stehen, setzte einen Fuß auf die Stufe, die den Thron erhöhte, und wies Cathérine mit einer Handbewegung einen Schemel an.

»Setzt Euch, meine Tochter! Ich bin hier, Euch anzuhören und Euch mit meinem Rat zu helfen, wie Ihr gebeten habt.«

»Seid bedankt, mein Vater, denn ich bin in großer Not. Ein unvorhergesehenes Ereignis hat mein ganzes Leben in Unordnung gebracht. Auch wollte ich Euch um Eure Unterstützung bitten. Dies hier sind meine getreuen Diener, vor denen ich nichts zu verbergen habe.«

»Sprecht, ich höre Euch zu!«

»Zuerst muß ich Euch die Wahrheit über den angeblichen Tod meines Gatten, Arnaud de Montsalvy, gestehen. Es wird Zeit, daß Ihr sie kennt …«