Die blasse Hand des Abtes hob sich, um Cathérine zu unterbrechen.

»Spart Euch die Mühe, meine Tochter! Dame Isabelle hat mir in der Beichte dieses schmerzliche Geheimnis bereits anvertraut. Es ist keins mehr, da Ihr nun einmal davon sprechen wollt.«

»Dann, mein Vater, wollt Ihr bitte diesen Brief lesen … und lest ihn bitte laut. Gauthier hier kann nicht lesen; und Sara hat große Mühe, ihn zu entziffern.«

Bernard de Calmont neigte zustimmend den Kopf, nahm den Brief und begann ihn vorzulesen. Cathérine hatte die Hände gefaltet und die Augen geschlossen. Die ruhige, ernste Stimme des Abtes verlieh den Abschiedsworten einen aufwühlenden Zauber, der sie trotz aller Bemühung, Ruhe zu bewahren, erschütterte. Hinter ihrem Rücken hörte sie die gedämpften Ausrufe ihrer drei Gefährten, wandte sich aber nicht um. Erst als der Abt verstummte, öffnete sie wieder die Augen.

Jetzt sah sie, daß aller Augen auf sie gerichtet waren und daß in denen des Abtes tiefes Mitleid lag. Saras Hand legte sich ermutigend auf ihre Schulter.

»Welchen Rat soll ich Euch geben, meine Tochter«, fragte der Abt, »und welche Art Hilfe?«

»Ich werde aufbrechen, mein Vater. Trotz des Kummers, den mir die Trennung von meinem kleinen Sohn bereiten wird, da ich nur noch ihn habe und er nur mich, muß ich fort und um jeden Preis seinen Vater finden! Ein furchtbares Mißverständnis ist zwischen ihm und mir entstanden. Ich kann es nicht ertragen. Messire de Brézé hat – in gutem Glauben angenommen, weil ich ihm freundschaftlich entgegenkam, daß ich einwilligen würde, seine Frau zu werden. Er kannte die Wahrheit nicht und konnte nicht wissen, daß ich mich um keinen Preis bereit finden würde, einen anderen Namen als den meinen zu tragen. Er hat aus Naivität gehandelt, auch aus Liebe … und hat eine entsetzliche Katastrophe heraufbeschworen. Ich möchte Euch bitten, Euch meines Sohnes anzunehmen, über ihn zu wachen wie ein Vater, mich völlig in der Herrschaft über Montsalvy zu ersetzen und Euch für den Wiederaufbau des Schlosses zu interessieren. Meine Diener bleiben … ich gehe!«

»Wohin geht Ihr? Ihm nach?«

»Natürlich. Ich möchte ihn nicht für immer verlieren.«

»Er ist bereits für immer verloren!« sagte der Abt streng. »Er wendet sich Gott zu. Warum wollt Ihr ihn auf die Erde zurückholen? Die Lepra ist gnadenlos!«

»Nur wenn Gott es will! Muß ich Euch, mein Vater, daran erinnern, daß es Wunder gibt! Wer sagt Euch, daß er am Grab San Jagos von Galicia nicht Heilung finden wird?«

»Dann laßt ihn dort hingehen, wie er es beabsichtigt! Aber allein!«

»Und wenn er gesundet? Soll ich ihn auch dann weiterziehen lassen, fern von mir, um sich im Kampf gegen die Ungläubigen töten zu lassen?«

»Was sonst taten die Frauen der alten Kreuzfahrer?«

»Einige gingen mit ihnen! Ich möchte den Mann wiederfinden, den ich liebe!« schleuderte Cathérine in wildem, leidenschaftlichem Ton dem Abt entgegen, der die Augen abwandte und leicht die Stirn runzelte.

»Und … wenn er nicht geheilt wird?« sagte er schließlich. »Es ist eine seltene Gnade, die einem nicht leicht widerfährt.«

Es trat Stille ein. Bis dahin hatten sich die Fragen und Antworten Cathérines und des Abtes in rascher Folge gekreuzt wie die Degen zweier Duellanten. Aber die letzten Worte beschworen das große Entsetzen der verfluchten Krankheit herauf. Ein Frösteln glitt über den Rücken aller Anwesenden.

Cathérine erhob sich, schritt zu dem großen gekreuzigten Christus, der seine entfleischten Arme an der Wand des Kapitularsaales ausbreitete.

»Wenn er nicht gesundet, bleibe ich bei ihm, so lange lebend, wie er leben wird, an seiner Krankheit sterbend, aber mit ihm!« sagte sie fest, die Augen auf das Kreuz geheftet, als wollte sie es zum Zeugen anrufen.

»Gott verbietet den Selbstmord! Mit einem Leprakranken leben heißt willentlich den Tod suchen!« wandte der Abt trocken ein.

»Lieber den Tod mit ihm als das Leben ohne ihn … und selbst die Verdammnis, falls man Gott lästert, indem man über alle Maßen liebt!«

Die Stimme des Abtes donnerte, während seine magere Hand sich gen Himmel streckte.

»Schweigt! Die menschliche Leidenschaft läßt Euch ganz bestimmt noch einmal lästern! Bereut, wenn Euch vergeben werden soll, und bedenkt, daß die Stimme der fleischlichen Liebe eine Beleidigung der Reinheit Gottes ist!«

»Verzeiht mir … aber ich kann nicht lügen, wenn es sich um das handelt, was mein Leben ausmacht. Ich kann nicht anders sprechen! Antwortet mir nur, mein Vater. Seid Ihr einverstanden, mich in Montsalvy zu vertreten und meine Familie weiter zu beschützen, gleichzeitig also Herr und Abt bis zu meiner Rückkehr zu sein?«

»Nein!«

Das Wort kam geradezu knallend, scharf und endgültig.

Von neuem trat dumpfe Stille ein. Hinter Cathérine hielten die drei stummen Zeugen den Atem an. Die junge Frau sah das schmale, strenge Gesicht ungläubig an.

»Nein? … Mein Vater! … Warum nicht?«

Es war ein wahrhafter Schmerzensschrei! Langsam ließ sie sich auf die Knie fallen und streckte die Hände in der instinktiven Bewegung einer Flehenden aus.

»Warum nicht?« wiederholte sie mit tränenerstickter Stimme. »Laßt mich gehen! Wenn ich seine Liebe auf immer verliere, wird mein Herz von selbst aufhören zu schlagen. Ich könnte nicht mehr leben!«

Die starren Züge drückten plötzlich tiefe Sanftmut aus. Bernard de Calmont beugte sich zu der jungen Frau hinunter, nahm die ihm entgegengestreckten Hände und hob die Kniende behutsam auf.

»Weil Ihr jetzt nicht gehen könnt, meine Tochter! Ihr denkt nur an Eure menschliche Leidenschaft, an Euren rechtmäßigen … und vielleicht auch verdienten Schmerz. Hattet Ihr diesen jungen Herrn nicht ermutigt, Eure Liebe zu erhoffen? Nein, antwortet mir nicht! Sagt mir nur, ob diese Liebe Euch nicht zur Grausamkeit treibt, ob es in diesem so völlig vergebenen Herzen nicht noch Mitleid für andere gibt?«

»Was wollt Ihr damit sagen?«

»Dies: Von Eurem Sohn ganz zu schweigen, der Euch hier zurückhalten sollte, werdet Ihr die alte Frau ohne Eure Liebe allein sterben lassen, diese Mutter, die nur noch Euch hat und deren Leid zweifellos schlimmer ist als das Eure, denn Ihr bewahrt in Eurem Inneren zähe die dunkle Hoffnung, Euren Gatten wiederzusehen. Während sie weiß, daß sie ihren Sohn niemals wiedersehen wird … Werdet Ihr so gefühllos sein?«

Cathérine senkte den Kopf. In ihrer Verzweiflung hatte sie Isabelle vergessen, die sich in der schmalen Zelle des klösterlichen Gästehauses zum Sterben legte. Nur bei dem Gedanken an die Trennung von Michel hatte sie gelitten. Er war der Grund für ihr ganzes Bedenken gewesen, für alles, was sie hätte zurückhalten können. An die alte Frau hatte sie nicht gedacht. Jetzt schämte sie sich dessen, aber hinter den Vorwürfen, die ihr Gewissen ihr machte, hörte sie dennoch ihre Liebe protestieren. Niemand zählte, wenn es sich um Arnaud handelte.

Trotzdem gab sie sich ohne Zögern geschlagen.

»Nein!« sagte sie nur. Aber sie wandte sich um, in Saras Armen Trost suchend, die sie zärtlich an sich drückte. Mit einem Seufzer fügte sie hinzu: »Ich werde bleiben.«

Darauf erhob sich die rauhe Stimme Gauthiers.

»Ihr müßt hierbleiben, Dame Cathérine, der Sterbenden und Eures Kindes wegen. Aber ich bin frei, wenn Ihr mir die Erlaubnis gebt zu gehen! Ich kann Messire Arnaud nachreiten! Wer sollte mich daran hindern?« Mit einer heftigen Bewegung wandte er sich an den Abt, den er um einen Kopf überragte: »Gebt mir ein Pferd und ein Beil, Mann Gottes! Vor den großen Landstraßen und den langen Ritten ist mir nicht bang!«

Cathérine, die dieser Ausbruch wieder belebt hatte, warf dem Normannen einen von Dank überfließenden Blick zu.

»Das ist wahr … Du bist ja da! Du wirst ihm sagen können, daß ich ihn niemals verraten habe, aber er wird nicht einwilligen, zu mir zurückzukehren, das weißt du sehr gut! Niemand hat je seinen Willen beugen können!«

»Ich werde tun, was ich kann. Zumindest wird die Pflicht für Euch den bitteren Geschmack verlieren, den Ihr jetzt empfindet. Wenn Messire Arnaud gesundet, werde ich ihn zurückbringen, wenn nötig mit Gewalt. Wenn nicht … komme ich allein zu Euch zurück! Laßt Ihr mich gehen?«

»Wie könnte ich es dir verweigern? Du bist meine einzige Chance.«

»Also gehen wir!« rief Gauthier, der wie alle Männer der Tat nicht gern viele Worte machte. »Wir haben so schon genug Zeit verloren! Laßt mir die Stadttore öffnen – und aufs Pferd! Bei Odin, ich werde ihn schon zu finden wissen, selbst wenn ich ihm bis zu Mohammed nachreiten müßte!«

»Dies ist das Haus Gottes!« empörte sich der Abt. »Götzen haben hier nichts zu suchen! Kommt mit mir, Cathérine, meine Tochter … Bitten wir Unsere Liebe Frau im Himmel, über diesen Wilden zu wachen, der sie nicht einmal kennt! Und dann werden wir ihn zusammen gehen lassen … Ich werde Euch helfen!«

Eine Stunde später stand Cathérine zwischen Sara und Saturnin unter dem Südtor von Montsalvy und lauschte dem in Richtung des tiefen Tals des Lot verhallenden Hufgeklapper des Pferdes nach, das Gauthier im Galopp davontrug. Mit etwas Mundvorrat versehen, in festen Kleidern und mit einer vollen Börse ausgerüstet, im Sattel eines kräftigen Percheronpferdes, das durch Kraft wettmachte, was ihm an Rasse fehlte, stürzte sich der Normanne auf die Fährte Arnauds und Fortunats.

Als die Huf schlage sich in der Tiefe der von Sternen übersäten Nacht verloren hatten, hüllte Cathérine sich noch enger in den dunklen Mantel, in den sie sich gewickelt hatte, suchte am Firmament die weiße Spur der Milchstraße, die man auch die Straße San Jagos nannte, und seufzte.

»Wird es ihm gelingen, ihn zu finden? Diese südlichen Bereiche werden ihm so fremd sein wie das Land des Großen Khan.«

»Der Herr Abt hat ihm gesagt, er müsse der von Muscheln gezeichneten Straße folgen. Er hat ihm die Namen der ersten Wegstationen eingetrichtert, da er sie ihm ja nicht aufschreiben konnte«, sagte Saturnin. »Ihr müßt Vertrauen haben, Dame Cathérine! Wenn er auch nicht an sie glaubt, weiß ich doch, daß die Heilige Jungfrau über Gauthier wachen wird! … Sie verläßt diejenigen nie, die ihre Großmut auf die großen Landstraßen treibt!«

»Er hat recht!« meinte Sara zustimmend, Cathérines Arm nehmend. »Gauthier hat Kraft, Intelligenz und Verschlagenheit auf seiner Seite. Er hat in sich die Fähigkeit, Berge zu versetzen. Komm jetzt, kehren wir wieder zurück! Dame Isabelle braucht uns, und wenn du deinen Sohn umarmst, wirst du den Mut finden, dich weiter der Aufgabe zu widmen, die deiner wartet.«

Cathérine antwortete nicht.

Sie unterdrückte den Seufzer des Bedauerns, der ihr auf den Lippen lag, und stieg still wieder zur Abtei hinauf. Aber sie wußte genau, daß sie sich nur der Vernunft gebeugt hatte und daß der Wunsch, gleichfalls der Spur Arnauds zu folgen, sie nicht so bald verlassen würde …!

Lange wiegte sie an diesem Abend Michel in den Armen und erwärmte ihr schmerzendes Herz an ihrer Liebe zu dem Kind.

Sechzehntes Kapitel

Isabelle de Montsalvy starb einen Tag nach Saint-Michael, ohne zu leiden und ohne Todeskampf, fast friedlich. Am Vorabend ihres Todes hatte sie noch eine letzte Freude: Ihr Enkelsohn empfing zum erstenmal die Vasallenhuldigung.

In seiner Eigenschaft als Amtmann und in Übereinstimmung mit den Notabeln von Montsalvy hatte Saturnin entschieden, daß das Kind an seinem Namenstag offiziell als Herr der kleinen Stadt anerkannt werden sollte. Da nun der König den Montsalvys alle Titel und Güter zurückgegeben hatte, schien das Datum des 29. Septembers dem ausgezeichneten Mann für eine solche Feierlichkeit besonders geeignet, um so mehr, als es mit dem Fest der Schäfer zusammenfiel, zu dem sich jedes Jahr zur gleichen Zeit die Hüter der Schafe aus der ganzen Gegend auf der Ebene von Montsalvy versammelten.

An diesem Tag hatte man auf dem Dorfplatz, vor der Kirchentür, einen von einem Baldachin in den Farben der Familie geschützten Herrenstand errichtet, und nach der von Abt Bernard zelebrierten feierlichen Messe ließen Michel und seine Mutter sich dort nieder, um die Huldigung ihrer Lehnsleute entgegenzunehmen, die für diese Gelegenheit ihre schönsten Kleider angezogen hatten. Saturnin, in feinem braunem Tuch, eine Silberkette um den Hals, hatte auf einem Kissen die Weizenähren der Felder und die Trauben der Weinspaliere dargereicht. Er hatte eine schöne Rede gehalten, vielleicht etwas zu breit, vom Hundertsten ins Tausendste kommend, die aber dennoch jedermann für vortrefflich hielt; dann waren nacheinander alle Bewohner von Montsalvy, alle Bauern der umliegenden Höfe vor der Herrenbank vorbeigezogen und hatten Michel das Händchen geküßt. Das Kind lachte vor Freude, glücklich über den schönen weißen Samtanzug, den Sara ihm zurechtgeschneidert hatte, sich aber sichtlich viel mehr für die Kette aus Gold und Topasen interessierend, die seine Mutter ihm um den Hals gelegt hatte. Die Zeremonie war, um die Wahrheit zu sagen, für einen kleinen Herrn, der noch nicht zwei Jahre alt war, ein wenig lang. Aber die Tänze der Schäfer und die Zweikämpfe, die sie sich darauf mit bloßen Händen lieferten, entfesselten seine Begeisterung. Trotz aller Bemühungen Cathérines, ihn halbwegs still zu halten, kletterte Michel auf seinen Armstuhl und zappelte wie ein kleiner Teufel in einem Weihwasserkessel. Ganz in seiner Nähe lag seine Großmutter, die man auf einer Trage hergebracht und unter ein Zeltdach gestellt hatte, damit sie bei dem Fest anwesend sein konnte, und betrachtete ihn bewundernd …