Der Tag endete mit einem großen Freudenfeuer, das von Michel persönlich auf der Ebene angezündet worden war. Natürlich hatte ihm Cathérine das Händchen geführt. Während sodann Jungen und Mädchen auf dem noch grünen Gras muntere Reigen tanzten, brachte man den erschöpften neuen Herrn zu Bett, der übrigens, den blonden Kopf an Saras Schulter gekuschelt, schon schlief.

Die ganze Nacht hörte Cathérine ihre Leibeigenen singen und tanzen, glücklich über ihre Freude, die ihr großes Leid offenbar nicht trüben konnte. Sie hatte sich während des Tages bemüht, ihre tiefe Trauer zu verbergen, um ihnen nicht zu zeigen, wie grausam sie dieses Fest berührte. Der Herrschaftsantritt Michels stieß seinen Vater in die Vergangenheit zurück, diesen Vater, von dem seit anderthalb Monaten niemand mehr etwas wußte …

Doch am anderen Morgen wurden die guten Leute von Montsalvy, die sich in ihrer Freude und Lebenslust sehr spät schlafen gelegt hatten, vom schauerlichen Geläut der Totenglocke geweckt und erfuhren so, daß ihre alte Burgfrau verschieden war.

Als Sara am Morgen ihr eine Schale Milch bringen wollte, fand sie sie tot in ihrem Bett. Isabelle lag ausgestreckt da, die Augen geschlossen, die Hände über dem Rosenkranz gefaltet, und ein Sonnenstrahl, der über ihren blassen Händen flimmerte, ließ den Smaragd der Königin Yolande funkeln. Zuerst war Sara einen Augenblick auf der Schwelle der Kammer stehengeblieben, verblüfft über die außergewöhnliche Schönheit der Toten. Die verwüstenden Spuren der Krankheit waren verschwunden, und das Gesicht, wie Milch und Blut, wirkte entspannt und unendlich viel jünger als am Abend zuvor. Ihr weißes Haar umrahmte es mit zwei dicken Zöpfen, und ihre Ähnlichkeit mit ihren Söhnen war wieder auffallend.

Sara hatte sich bekreuzigt, dann war sie, die Schale Milch an der Tür abstellend, bei Cathérine eingetreten, die erst am frühen Morgen eingeschlafen war. Sie hatte sie sanft gerüttelt, und als die junge Frau sich mit einem nervösen Zucken aufgerichtet hatte und sie mit der verstörten Miene jemandes, den man brüsk weckt, ansah, hatte sie gemurmelt:

»Dame Isabelle hat aufgehört zu leiden, Cathérine … Du mußt aufstehen! Ich werde den Abt benachrichtigen. Wecke inzwischen Michel im Zimmer nebenan, und übergib ihn Donatienne. Der Tod ist kein Anblick für ein Kind!«

Cathérine hatte gehorcht wie eine Schlafwandlerin. Seit ihrer Rückkehr erwartete sie dieses Ende. Sie wußte, daß die alte Dame es als Erlösung herbeisehnte, und ihre Vernunft flüsterte ihr ein, daß sie nicht betrübt zu sein brauchte, wenn Isabelle endlich Frieden gefunden hatte. Doch die Vernunft vermochte nichts gegen den plötzlichen Schmerz, der sie durchdrang … Sie entdeckte, daß Isabelles Anwesenheit ihr viel kostbarer gewesen war, als sie glaubte. Solange die Mutter Arnauds gelebt hatte, hatte Cathérine jemand gehabt, mit dem sie über ihn sprechen konnte, jemand, der ihn besser kannte als sie selbst, dessen Erinnerungen unerschöpflich waren. Und nun, da auch diese sanfte Stimme verstummt war, wurde die Einsamkeit der Hinterbliebenen noch größer … Arnaud war verschwunden, Gauthier hatte sich seit einem Monat ins Unbekannte gestürzt und jetzt … Isabelle …

Nachdem sie einen Augenblick später mit Saras Hilfe der Verstorbenen das letzte Kleid angelegt hatte, blieben beide am Fußende des Bettes stehen, auf dem sie ruhte, in das fromme Gewand der Klarissen gekleidet, denn Isabelle hatte vor langer Zeit den Wunsch geäußert, darin ihren letzten Schlaf zu schlafen. Die Strenge der weiten schwarzen Gewänder verlieh ihr eine außerordentliche Majestät, und unter ihren bläulichen Lidern schienen die Augen sich gleich öffnen zu wollen.

Ganz sanft hatte Cathérine vom Finger Isabelles den gravierten Smaragd gestreift, dessen profane Herrlichkeit mit dem klösterlichen Kleid nicht zu vereinbaren war. Dann hatte sie mit Sara die Tote lange betrachtet, ehe sie zu den ersten Gebeten niederknieten, genau in dem Augenblick, in dem der Abt eintrat, von zwei Geistlichen begleitet, die das Weihrauchfaß und den Weihwasserkessel trugen.

Die darauffolgenden drei Tage vergingen der jungen Frau wie ein schauerlicher Traum. Die Leiche wurde im Chor der Kirche aufgebahrt und von zwei Mönchen bewacht. Cathérine, Sara und Donatienne lösten sich auf dem Kissen zu Füßen des Katafalkes ab. Für Cathérine hatten diese Stunden der Wache in der stillen Kirche etwas Unwirkliches. Die Mönche, die neben der Bahre standen, die Kapuzen tief ins Gesicht herabgezogen und die Hände in ihren weiten Ärmeln vergraben, kamen Cathérine wie Geister vor, und das zitternde Licht der dicken gelben Wachskerzen verlieh ihrer Unbeweglichkeit etwas Erschreckendes. Um dem Schrecken zu entrinnen, den sie empfand, zwang sich Cathérine zu beten, aber die Worte wollten nicht kommen … Sie wußte nicht mehr, wie sie sich an Gott wenden sollte. Sie fand es viel leichter, sich ganz einfach an die Verstorbene zu wenden.

»Mutter«, flüsterte sie ganz leise, »da, wo Ihr jetzt weilt, muß alles viel einfacher, viel leichter sein! … Helft mir! … Macht, daß er wiederkommt oder daß er wenigstens erfährt, daß ich nie aufgehört habe, ihn zu lieben! Mich verzehrt mein Kummer!«

Aber das wächserne Gesicht blieb unbeweglich, und das halbe Lächeln der geschlossenen Lippen hütete sein Geheimnis. Cathérines Herz wurde immer schwerer, je mehr die Zeit verging.

Am Abend des dritten Tages wurde die Leiche Isabelle de Ventadours, Dame von Montsalvy, in Anwesenheit der ganzen Bevölkerung ins Grab hinabgelassen. Hinter dem hölzernen Gitter ihrer Einzäunung sangen die kräftigen Stimmen der Mönche der Abtei das Miserere. Und unter ihren Trauerschleiern, die an diesem Abend eine neue und doppelte Bedeutung annahmen, sah Cathérine unter den Steinfliesen der Kirche die zerbrechliche Gestalt derjenigen verschwinden, die vor fünfunddreißig Jahren dem Mann das Leben geschenkt hatte, den sie anbetete …

Beim Verlassen der geweihten Stätte kreuzte sich der Blick der jungen Frau mit dem des Abtes, der die Totenmesse gelesen hatte. Sie sah in ihm gleichermaßen eine Frage und eine Bitte, wandte aber den Kopf ab, als wollte sie einer Antwort ausweichen. Wozu? Der Tod Isabelles befreite sie nicht. Die kleinen Hände Michels hielten sie fest an ihrem Platz. Und sie hatte keinen Grund, ihn zu verlassen, nachdem Gauthier sich zur Verfolgung Arnauds aufgemacht hatte. Solange er ihr keine Nachricht gab, mußte sie hierbleiben und warten … warten!

Der Herbst ließ das Gebirge in allen seinen Gold- und Purpurfarben leuchten. Die Umgebung Montsalvys bedeckte sich mit gelbroter Pracht, während am Himmel die niedrighängenden Wolken immer grauer wurden und die Schwalben in schnellen, schwarzen Zügen gen Süden flogen. Cathérine folgte ihnen mit den Blicken von der Höhe der Klostertürme aus, bis sie verschwunden waren. Doch bei jedem über ihrem Kopf dahinziehenden Schwarm fühlte sich die junge Frau etwas trauriger, ein wenig entmutigter. Sie beneidete von ganzem Herzen die sorglosen Vögel, begierig nur nach der Sonne, die in die Länder zogen, in die sie ihnen so gern gefolgt wäre!

Nie waren die Tage so langsam, so eintönig vergangen. Jeden Nachmittag, wenn das Wetter es erlaubte, ging Cathérine mit Sara und Michel zum Südportal, wo Mönche und Bauern mit der Ausschachtung des Unterbaues für das neue Schloß begonnen hatten. Auf den Rat des Abtes hatte man beschlossen, die Festung, wo sie früher stand, an den Abhängen des Berges Arbre, nicht wieder aufzubauen, sondern dicht an dem Portal von Montsalvy, wo Schloß und Dorf sich gegenseitig die wirksamste Hilfe geben könnten. Die Verwüstungen durch den alten Praktikus Valette waren noch allen in nachdrücklicher Erinnerung.

Die beiden Frauen und das Kind verbrachten immer ein Weilchen auf der Baustelle und gingen dann weiter, um den Holzhauern bei der Arbeit zuzusehen. Tatsächlich mußte man, nachdem die englische Bedrohung nachließ, im Wald das Land zurückerobern, das man in den Zeiten der großen Not hatte verwildern lassen. Das Unterholz, das so viele Male als Zuflucht gedient hatte, war hochgeschossen und fast undurchdringlich. Man mußte es roden, um Weizen oder Viehfutter zu säen. Aber die Augen Cathérines schweiften immer über die Reihe der dunklen Bäume hinweg, in die weiten blauen Fernen, durch die Arnaud gekommen sein mußte. Dann, die kleine Hand Michels fest in der ihren haltend, ging sie langsamen Schrittes wieder ins Haus zurück.

Und dann, eines Nachts, wurde der Wind zum Sturm und entblätterte die Bäume. Noch eine Nacht, und der Schnee bedeckte das Land. Die Wolken hingen so niedrig, daß sie sich mit der Erde zu vereinen schienen, und die eisigen Frühnebel brauchten lange, um sich aufzulösen. Es war Winter, und Montsalvy legte sich schlafen. Die Arbeit auf der Baustelle des Schlosses ruhte, jedermann schloß sich in die Wärme seines Hauses ein. Cathérine und Sara machten es wie die anderen. Das von der Klosterglocke geregelte Leben verlief in einer hoffnungslosen Monotonie, in der Cathérines Schmerz trotz allem einschlief. Die Tage folgten einander, einer wie der andere. Man saß in der Kaminecke und sah Michel beim Spielen auf einer Decke zu. Das Land war unwandelbar weiß geworden, und Cathérine begann zu zweifeln, ob es in Zukunft noch andere Tage geben würde. Ob der Frühling überhaupt je wiederkäme?

Trotzdem zwang sich die junge Frau, jeden Tag auszugehen. Sie zog sich Überschuhe an, hüllte sich in einen großen Mantel mit Kapuze und verließ das Kloster zu einem Spaziergang, immer dem gleichen … Sie ging bis hinter das Südtor, wenn auch nicht zu dem Zwecke, die Baustelle ihres künftigen Wohnsitzes unter dem Schnee zu betrachten. Sie setzte sich auf einen alten Grenzstein, wo sie lange blieb, unempfindlich gegen Windstöße und den wirbelnden Schnee, und die aus dem Tal des Lot heraufführende Straße beobachtete, mit zäher Hoffnung darauf wartend, endlich eine bekannte Silhouette auftauchen zu sehen. Es war so lange her, daß Gauthier aufgebrochen war! … Weihnachten würden es drei Monate sein! Und niemand war bislang mit der geringsten Nachricht gekommen. Es war, als ob er sich in dieser grenzenlosen Weite aufgelöst hätte … Wenn der Tag sich seinem Ende neigte – die Wintertage sind so kurz! –, kehrte Cathérine langsam nach Hause zurück, das Herz ein wenig schwerer und bekümmerter, ein wenig ärmer an Hoffnung.

Weihnachten ging vorüber, ohne ihr Frieden zu bringen. Ihr Geist schweifte unaufhörlich den Abwesenden nach. Zuerst und vor allem Arnaud! Ohne Zweifel hatte er das Land Galicia erreicht. Aber war ihm vom Himmel die erbetene Heilung zuteil geworden? Und Gauthier? Hatte er den Flüchtigen einholen können? Waren sie in dieser Minute zusammen, in der ihr Geist sie vereint sah? So viele Fragen, die, da sie unbeantwortet bleiben mußten, quälend wurden.

»Wenn der Frühling kommt«, nahm Cathérine sich vor, »und ich bis dahin keine Nachricht erhalten habe, breche ich auch auf … Ich werde sie suchen gehen.«

»Wenn sie zurückkehren, dann im Frühling, nicht früher!« entgegnete Sara eines Tages, als die junge Frau aus Versehen laut gedacht hatte. »Wer würde es sich einfallen lassen, über die Berge zu ziehen, wenn der Schnee die Wege unpassierbar gemacht hat? Der Winter richtet unübersteigbare Schranken auf, die selbst der festeste Wille, selbst die zäheste Liebe nicht überwinden können! Du mußt abwarten!«

»Abwarten! Abwarten! … Immer abwarten! Ich habe es satt, dieses Warten ohne Ende!« hatte Cathérine darauf gerufen. »Bin ich denn verdammt, mein Leben in einer Erwartung ohne Ende verrinnen zu sehen?«

Auf diese Fragen zog Sara es vor, nicht zu antworten. Es war besser, die Unterhaltung abzubrechen oder von anderen Dingen zu sprechen, denn wenn man versuchte, mit Cathérine zu rechten, führte es nur dazu, daß sie sich noch mehr in ihrem Kummer vergrub. Die Zigeunerin glaubte nicht an die Möglichkeit einer Heilung Arnauds. Sie hatte noch nie davon gehört, daß die Lepra, wenn sie jemanden einmal befallen hatte, ihn je wieder losließ. Es war sogar erstaunlich, daß Saint-Méen de Jaleyrac, der heilige Spezialist der furchtbaren Krankheit, immer noch Patienten hatte. Offensichtlich war der Ruf San Jagos von Compostela groß, aber Saras Christentum war noch zu stark vom Heidentum gefärbt, als daß sie großes Vertrauen darin hätte. Im Gegenteil, sie war überzeugt, daß man, wenn nicht ein verhängnisvoller Zufall eintrat, früher oder später Nachricht von Gauthier bekommen würde. Das hinderte sie nicht zu seufzen, wenn sie Cathérines kleine, schwarze und zerbrechliche Silhouette in den Schnee hinausgehen sah, um zu lauern, ob er nicht auf der Talstraße auftauchte.

Eines Abends im Februar, nachdem die junge Frau ihren Beobachtungsposten eingenommen hatte, nach einer durch den Frost erzwungenen beschwerlichen Zeit des Klosterlebens, schien es ihr plötzlich, als könnte sie einen dunklen Punkt auf dem weißen Weg erkennen, einen Punkt, der unter den hohen schwarzen Tannen langsam größer wurde. Sofort stand sie auf, mit klopfendem Herzen und keuchendem Atem … Es war bestimmt ein Mann, der aus dem Tal herauskam … Sie konnte einen Streifen des großen Mantels, der ihn einhüllte, im Wind flattern sehen. Er ging mühselig zu Fuß, den Rücken unter dem Nordwind gebeugt … Unwillkürlich machte sie ein paar Schritte ihm entgegen, aber als sie am Rand der Bäume angekommen war, blieb sie enttäuscht stehen. Das war nicht Gauthier … noch viel weniger Arnaud. Der Mann, den sie jetzt leicht ausmachen konnte, war von kleinem Wuchs, offenbar schmal und sehr braun. Einen Augenblick glaubte sie, es sei Fortunat, aber diese Hoffnung zerrann sofort. Der Reisende war ihr vollkommen unbekannt!