»Aber der Weg ist lang, gefährlich … Wie willst du das schaffen, armes Ding? Wie soll dir gelingen, woran Gauthier gescheitert ist?«
»Das heilige Osterfest ist nicht mehr sehr fern. Herkömmlicherweise bricht eine Pilgergruppe vom Berg in Velay auf, um die Gruft von San Jago aufzusuchen. Ich werde mit ihnen gehen. Auf diese Weise verringern sich die Gefahren der Reise, und ich werde nicht allein sein!«
»Und ich?« wandte Sara sofort empört ein. »Gehe ich nicht mit dir?«
Cathérine schüttelte den Kopf. Sie stand auf, legte ihrer alten Freundin beide Hände auf die Schultern und sah sie zärtlich an.
»Nein, Sara … Diesmal gehe ich allein … Zum erstenmal, wirklich zum erstenmal – denn unser Zerwürfnis in Chinon zählt nicht – werde ich ohne dich gehen! Aber nur, weil du über das Kostbarste, das ich auf Erden habe … über meinen kleinen Michel wachen mußt! Wenn auch du gingest, wer würde sich dann um ihn kümmern? Donatienne ist zu alt, und Saturnin ist nicht jünger. Sie werden dir zwar eine große Hilfe sein, aber dir vertraue ich meinen Sohn an. Du bist so sehr wie ich, Sara, daß ich ihn bei dir so glücklich weiß, so gut versorgt, als wäre ich selbst da. Du wirst mein Gedanke, meine Hände, meine Lippen in einem sein. Du wirst zu ihm von mir, von seinem Vater sprechen. Und wenn Gott wollte, daß ich nicht wiederkehre …«
»Schweig!« rief Sara. »Ich verbiete dir, so etwas zu sagen. Das … das tut mir so weh! …«
Jetzt hatte sie Tränen in den Augen. Cathérine in ihrem Kummer umarmte sie warm.
»Sich auf die Zukunft vorzubereiten hat noch niemanden umgebracht, meine gute Sara. Wenn ich nicht zurückkehre, wirst du Boten an Xaintrailles und Bernard d'Armagnac schicken, daß sie die Vormundschaft über den letzten Montsalvy übernehmen und sich um seine Zukunft kümmern. Aber«, fügte sie mit einem mutigen Lächeln hinzu, »ich hoffe doch, daß ich zurückkehre.«
Wütend wischte Sara sich die Tränen ab, löste sich dann von Cathérine und trat einige Schritte zurück.
»Gut«, schimpfte sie. »Lassen wir es gelten! Ich bleibe, und du gehst. Und wie wirst du es anstellen, Montsalvy zu verlassen? Glaubst du, der Abt wird dich jetzt leichter gehen lassen als im September?«
»Er wird es nicht erfahren. Seit langem habe ich das Gelübde getan, auf den Berg zu gehen und Unserer Lieben Frau den verfluchten Diamanten anzubieten, den ich immer noch in meinem Besitz habe. Ich muß mich von ihm trennen … Und zwar zu jedem Preis, und je früher, desto besser! Sieh, wie das Unglück sich an mich heftet! Gauthier, mein Abgesandter, meine einzige Hoffnung, Gauthier, der Unverwüstliche, ist unterwegs umgekommen. Mein Schicksal wird verflucht sein, solange ich den Stein besitze. Der Abt weiß, wie sehr ich wünsche, dieses Gelübde zu erfüllen. Er wird mich gehen lassen. Das Osterfest ist eine gute Zeit, um Unsere Liebe Frau zu feiern. Er wird meinen Wunsch ganz natürlich finden.«
»Du hast auch für alles eine Antwort!« sagte Sara mit ein wenig Bitterkeit. »Und ich kann kaum glauben, daß dieser Plan erst entstand, nachdem dieser verfluchte Minnesänger angekommen ist …«
»Nein«, gab Cathérine zu. »Ich habe schon lange daran gedacht. Aber du, wirst du tun, worum ich dich bitte?«
Sara zuckte die Schultern und machte sich daran, das Bett aufzuschlagen, in das sie gleich die mit Kohlenglut gefüllte Wärmpfanne legen würde, um die Laken anzuwärmen.
»Was ist das für eine Frage! Es wäre wahrhaftig das erstemal, daß ich dir etwas verweigerte. Und außerdem gibt es gar keine andere Wahl! … Gott weiß, was mich das kostet; trotzdem …«
Als Sara die Tür öffnete, um mit ihrer Wärmpfanne in die Küche zu gehen, drang die Stimme Guido Cigalas in die kleine Kammer. Er sang jetzt ein altes Lied des Troubadours Arnaud Daniel, und die Worte des alten Laienbruders trafen die beiden Frauen derart, daß sie einen Augenblick unbeweglich stehenblieben und sich wortlos ansahen.
»Eher verkauft sich das Gold so billig wie Eisen, als daß Arnaud seine Herzliebste vergißt …«
Cathérine war plötzlich wie vom Blitz getroffen. Sie war blaß geworden, bis zu den Lippen, aber in ihren dunklen Augen blitzten Sterne, die funkelnden Sterne der Hoffnung. Die Stimme des Minnesängers antwortete auf geheimnisvolle Weise auf Fragen, die sie sich nicht mehr zu stellen wagte. Sara drückte die Wärmpfanne leidenschaftlich ans Herz.
»Ich möchte bloß wissen, wer uns diesen verdammten Sänger schickt? Der Teufel! Oder der liebe Gott? Auf jeden Fall hat er eine Stimme, die mir sehr dem Schicksal zu ähneln scheint …«
Cathérine hatte richtig geschätzt, als sie annahm, daß der Abt von Montsalvy sie nicht hindern würde, sich zum Osterfest auf den Berg von Velay zu begeben. Er begnügte sich lediglich damit, ihr als Begleitung Bruder Eusebius, den Pförtner des Klosters, anzubieten, denn es schickte sich nicht, daß eine Edeldame sich allein auf die Straßen begab. Die Gesellschaft eines Mönches würde Gefahren, sowohl irdische wie geistige, von ihr fernhalten.
»Bruder Eusebius ist ein sanfter Mann von friedlicher Lebensart«, sagte der Abt, »aber er wird Euch nicht weniger wirksamen Schutz gewähren.«
Um die Wahrheit zu sagen, war Cathérine von der Begleitung des würdigen Pförtners gar nicht entzückt. Seine runde, rosige Gestalt schien ihr zu arglos, und sie hatte gelernt, allem zu mißtrauen. Sie fragte sich, ob der Abt Bernard, indem er ihn ihr als Leibwächter mitgab, ihr nicht auch eine Art Spion an die Seite stellte, der ein neues Problem aufwerfen würde: Wie, einmal auf dem Berg angelangt, könnte sie sich von dem heiligen Mann befreien und ihn überreden, ohne sie nach Montsalvy zurückzukehren?
Aber die Schwierigkeiten ihres vergangenen Lebens hatten die junge Frau gelehrt, daß jeder Tag seine eigenen Probleme hatte und daß es nichts nützte, sich im voraus Sorgen zu machen. Zu gegebener Zeit würde sie ein Mittel finden, ihrem Schutzengel zu entwischen. Und sie dachte nur noch an diese große Reise, die sie mit unendlich mehr Liebe als Hoffnung antreten würde.
Mit der Fastenzeit brach auch die weiße Kruste, die das Land bedeckte, wie von einem Kanonenschlag auf. Schnee und Glatteis schmolzen zu einer großen Zahl dünner Bäche, die nach allen Richtungen flossen und das Hochplateau und die Gebirgsschluchten wie ein Schweif aus Silberfäden durchzogen. Die Erde trat zuerst wieder als schwarze Flecken, dann als große Flächen zutage, die zaghaft grünten. Ein wenig Blau zerriß das ewige Öde Grau des Himmels, und Cathérine dachte, die Zeit sei jetzt gekommen, sich auf den Weg zu machen.
Mittwoch nach dem Passionssonntag verließen Cathérine und Bruder Eusebius Montsalvy, beide auf Maultieren, die der Abt ihnen zur Verfügung gestellt hatte. Das Wetter war mild, leicht regnerisch, und die Wolken eilten, vom Südwind getrieben, schnell am Himmel dahin. Dem Wind, der, nach Saturnin, »den Schafen die Drehkrankheit gab …«
Der Abschied zwischen Cathérine und Sara war schnell gewesen. Die eine wie die andere vermied einstimmig die Rührseligkeit, die mutlos macht und den Willen schwächt. Außerdem hätte ein herzzerreißender Abschied gewiß den Argwohn des Abtes Bernard erregt. Man weinte nicht wegen einer vierzehntägigen Trennung …
Das Schlimmste war der Abschied von Michel. Mit vor zurückgehaltenen Tränen schweren Augen konnte Cathérine sich nicht genugtun, ihren kleinen Knaben zu umarmen. Sie hatte das Gefühl, daß ihre Arme sich nie mehr öffnen könnten, um ihn loszulassen. Sara mußte ihn hochheben und ihn in die Obhut Donatiennes geben. Von der Bewegung seiner Mutter überwältigt, fing das Kind auch, ohne zu wissen, warum, zu weinen an.
»Wann werde ich ihn wiedersehen?« murmelte Cathérine, die sich mit einemmal furchtbar elend fühlte. Es hätte nicht viel gefehlt, und sie hätte in ihrem großen Kummer das ganze verrückte Unternehmen aufgegeben.
»Wenn du willst«, sagte Sara seelenruhig, »wird dich nichts hindern zurückzukehren, falls du dein Ziel nicht erreichst. Und ich flehe dich an, Cathérine, versuche Gott nicht! Überschätze deine Kräfte nicht. Es gibt Fälle, wo es besser ist, sich in sein Schicksal zu fügen, auch wenn es grausam ist. Bedenke, daß nichts, obgleich ich hier bin, eine Mutter ersetzen kann! – Wenn die Hindernisse zu groß sind, komm zurück, ich beschwöre dich! … Und um der Liebe Gottes willen …«
»Um der Liebe Gottes willen«, schnitt Cathérine ihr das Wort, unter Tränen lächelnd, ab, »sag nichts weiter! Sonst habe ich in fünf Minuten nicht den geringsten Mut mehr.«
Doch als die Pforten der Abtei sich vor den Hufen ihres Maultiers öffneten, empfand Cathérine ein außerordentliches Freiheitsgefühl, eine Art Rausch. Sie hatte keine Angst mehr vor dem, was sie in den kommenden Tagen erwartete. Ihr Wille mußte über alle Hindernisse und Fallen triumphieren. Sie fühlte sich stärker, jünger und tapferer als je …
An ihrer Kehle, in einem Lederbeutelchen, das sie mit einem Band um den Hals befestigt hatte, trug sie den schwarzen Diamanten! Er hatte in ihren Augen fast jeden Wert verloren, mit einer Ausnahme! Er war der Schlüssel, der ihr das weite Land öffnete! Wenn sie ihn der Jungfrau vom Berge anbot, so hieß das gleichzeitig freie Bahn auf dem langen Weg, der sie vielleicht zu ihrem Gatten führte.
Als sie die Mauern von Montsalvy hinter sich gelassen hatte, warf Cathérine sich den großen, weiten Mantel über die Schultern, mit der uralten Geste des Hausierers, der sein schweres Los auf sich nimmt. Dann hob sie den Kopf. Ungerührt von dem sie noch lange begleitenden Klang der Glocken, die Augen fest auf das noch kurze Grün des Weges geheftet, ritt sie dahin, ohne Schwäche und ohne Tränen.
Siebzehntes Kapitel
Le Poy-en-Velay! Eine Stadt, die sich wie ein Strom, riesig und vielfarbig, um den Berg herumwand, mit einer großen, von Kuppeln und Türmen gekrönten romanischen Kirche. Als Cathérine und Bruder Eusebius ankamen, hielten sie einen Augenblick an, um das unglaubliche Bild zu betrachten, das sich ihnen bot. Die erstaunten Augen der jungen Frau schweiften von dem heiligen Hügel, dem alten Berg Anis, der sich von dem fernen Blau des gewellten Landes abhob, zu dem riesigen, ihm benachbarten Felsen und weiter zu der seltsam vulkanischen Spitze von Saint-Michel d'Aiguillie, steil wie ein Finger zum Himmel aufragend und die kleine Kapelle fest in sich verankernd.
Alles in dieser fremden Stadt schien für den Dienst an Gott gemacht zu sein, alles kam von ihm oder kehrte zu ihm zurück …
Aber je mehr Tore sie durchritten und je weiter sie in die Stadt vordrangen, desto mehr verwunderte die Reisenden die Farbenpracht der Straßen und ihr Gedränge, überall sah man nur Fahnen, Lilienbanner, mit Seidentüchern geschmückte Fenster … überall war das königliche Wappen Frankreichs zur Schau gestellt, und mit einer gewissen Verblüffung sah Cathérine plötzlich vor sich einen Trupp lärmender schottischer Armbrustschützen mit ihren Waffen vorbeiziehen.
»Die Stadt feiert ein Fest!« erklärte Bruder Eusebius, der sonst während eines ganzen Tages keine zehn Worte sprach. »Wir müssen herausbekommen, warum.«
Cathérine hatte sich in seiner Gesellschaft aufs Schweigen verlegt. Sie hielt es für überflüssig zu antworten, rief aber einen kleinen Jungen an, der mit seinem Krug einem nahen Brunnen zustrebte, um Wasser zu schöpfen.
»Warum diese Fahnen, diese Behänge, das ganze Gedränge?«
Der Junge hob sein mit Sommersprossen übersätes Gesicht, in dem zwei haselnußbraune Augen fröhlich blitzten, zu der jungen Frau und zog höflich die ausgefranste grüne Mütze.
»Unser Herr König ist vorgestern mit der Frau Königin und dem ganzen Hof in die Stadt eingezogen, um zu Unserer Lieben Frau zu beten und Ostern zu feiern und dann nach Vienne zu gehen, wo die Stände sich versammeln … Wenn Ihr ein Logis sucht, werdet Ihr's schwer haben. Alle Herbergen sind voll, denn zu allem hin heißt es, daß Monseigneur der Konnetabel heute hier eintreffen soll.«
»Der König und der Konnetabel?« fragte Cathérine erstaunt. »Aber sie sind doch verfeindet.«
»Genau! Unser Herr hat die Kathedrale erwählt, um ihn da wieder in Gnaden zu empfangen. Sie werden heute nacht zusammen den Abend des Passahfestes begehen …«
»Versammeln sich die Pilger nicht hier, die bald nach Compostela aufbrechen werden?«
»Doch, gnädige Dame! Das Städtische Hospital neben der Kathedrale ist voll von ihnen. Ihr müßt Euch beeilen, wenn Ihr Euch ihnen noch zugesellen wollt.«
Das Kind zeigte Cathérine noch den Weg zum Hospital. Es war ganz einfach: Es genügte, die lange, lange Straße weiterzureiten, die vom Panessacturm, in dessen Nähe sie sich befanden, nach Notre-Dame hinaufführte und schließlich in einer Treppe endete, einer Treppe, die unter dem Portalvorbau mündete. Ehe er seine Gesprächspartnerin verließ, fügte der Junge noch hinzu:
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