»Alle Pilger versorgen sich bei Meister Croizat, gleich neben dem Städtischen Hospital. Dort gibt es die haltbarsten Kleider für die große Reise und …«
»Ich danke dir«, unterbrach Cathérine, als sie das Auge des Bruders Eusebius, das gewöhnlich ohne jeden Ausdruck war, mit Neugier auf sich ruhen sah. »Wir werden uns ein Logis suchen.«
»Gott helfe Euch, eins zu finden! Aber Ihr habt keine Chance. Selbst das Palais des Bischofs, Monseigneurs Guillaume de Chalençon, ist zum Platzen voll. Der König hält dort Hof.«
Der Lausejunge rannte davon. Cathérine überlegte einen Augenblick. Es war keine Zeit mehr zu verlieren. Morgen nach dem Hochamt brachen die Pilger auf, und sie wollte mit ihnen gehen. Sie ließ sich von ihrem Maultier gleiten und wandte sich an Bruder Eusebius, der gelassen ihre Entscheidung erwartete.
»Nehmt die Tiere, mein Bruder, und geht ohne mich zum Städtischen Hospital. Dort fragt, ob man uns freundlicherweise ein Logis geben wolle. Hier habt Ihr Gold, um unsere Zeche zu bezahlen. Was mich betrifft, möchte ich sofort zur Kathedrale hinaufsteigen, zum Ziel unserer Pilgerfahrt. Ich habe Eile, Unserer Lieben Frau zu überreichen, was ich für sie bei mir trage, und es schickt sich nicht, daß ich mich dem heiligen Ort beritten nähere. Geht also ohne mich. Ich werde Euch später wieder treffen.«
Der würdige Bruder Pförtner von Montsalvy begnügte sich, durch ein Zeichen des Kopfes anzudeuten, daß er verstanden habe, nahm die Zügel ihres Maultiers und ritt ruhig seines Weges.
Langsam ging Cathérine die beflaggte Straße mit den zahlreichen Schildern hinauf. Händler mit Devotionalien wechselten mit Herbergen ab, mit Garküchen, mit Verkaufsbuden aller Art, und auf den Steinstufen vor ihren Türen saßen Frauen, vor sich mit Fäden bespannte Kissen, und ließen in ihren flinken Fingern eine Menge kleiner Spindeln hüpfen … Einen Augenblick blieb die Reisende vor einer dieser Spitzenklöpplerinnen stehen, die jung und hübsch war und ihr, ohne ihre Arbeit zu unterbrechen, freundlich zulächelte.
Sie wäre keine echte Frau gewesen, wenn die zierlichen Wunder, die unter den Feenfingern entstanden, nicht ihr Interesse erregt hätten. Doch eine Büßerprozession zog, mit voller Stimme Litaneien singend, von der Kathedrale herunter, und Cathérine, an ihr Gelübde erinnert, machte sich wieder an ihren Aufstieg. Und je weiter sie ging, desto mehr vergaß sie allmählich ihre Umgebung.
Auf den Stufen der riesigen Treppe, die sich tief im Schatten der hohen romanischen Bogen verlor, staffelten sich die Menschen und stiegen mühsam auf Knien die seit Jahrhunderten durch Inbrunst abgetretenen Stufen hinauf. Das Gemurmel der Anrufungen umgab Cathérine wie Bienensummen, aber sie hörte es gar nicht. Mit erhobenem Haupt sah sie die hohe, vielfarbige Fassade, auf der fremde arabische Muster die fernen Länder, die geheimnisvollen Kunsthandwerker aus uralter Zeit in Erinnerung riefen. Sie wollte nicht niederknien, nicht jetzt! Aufrecht ging sie dem Hochaltar zu, wie sie sich aufrecht der Gruft des Apostels nähern würde. Der Schatten des Portalvorbaus verschlang sie. Bettler, echte oder falsche Krüppel schleppten sich dahin, in monotonem Singsang um Almosen bittend. Andere umlagerten den uralten Stein des Fiebers, wo sich jeden Freitag die Kranken einfanden, lauthals verkündend, erst am Abend vor Karfreitag habe ein Lahmer den Gebrauch seiner Beine wiedererlangt. Aber Cathérine schenkte ihnen keine Aufmerksamkeit.
Ihr Blick war auf eine Stufe gerichtet, auf der Höhe der großen vergoldeten Pforten der Hochaltarstätte gelegen. Einige lateinisch geschriebene Worte waren da zu lesen: »Wenn du die Sünde nicht fürchtest, so fürchte diese Schwelle, denn die Himmelskönigin will Diener ohne Fehl.« Näherte sie sich wirklich ohne Sünde, sie, die um den Preis einer Lüge ihre Freiheit erringen wollte? Sie blieb einen Augenblick bewegungslos stehen, die Inschrift betrachtend, das Herz von plötzlicher Bangigkeit bedrückt. Doch ihr Elan war zu groß, als daß sie sich durch solche Bedenken hätte hemmen lassen. Sie durchschritt die Pforten und setzte ihren Aufstieg im tiefen Dunkel der Kirche fort. Die Stufen stiegen zu einer Art Tunnel an, in dessen Hintergrund die Kerzen bis zum Chor des Hochaltars schimmerten. Oben war es wie die leuchtende Herrlichkeit der Morgenstunde am Ende einer schwarzen Nacht. Ein ernster Gesang, unheimlich und monoton, erfüllte das Steinschiff.
Als sie endlich aus dem Dunkel trat, glaubte Cathérine, diese Welt verlassen zu haben, so fremd war der Dekor. Auf einem zwischen zwei Säulen aus blutrotem Porphyr errichteten Altar, mit einer Vielzahl von Kerzen und Lampen aus rotem Glas umgeben, sah die Schwarze Jungfrau sie aus Emailaugen an …
Der Chor war leer, aber an den Wänden schienen hierarchische und byzantinischen Fresken entnommene Personen in dem zitternden Licht der kurzen Flammen wieder Leben anzunehmen. Eine abergläubische Furcht bemächtigte sich Cathérines, die alte Angst vor Himmel und Hölle, die immer im Grunde der Herzen der Männer und Frauen dieses eisernen Jahrhunderts schlummerte. Langsam beugte sie die Knie und ließ sich auf die Stufen des Altars fallen, durch das fremde Standbild fasziniert.
Klein, aufrecht auf ihrem mit Edelsteinen besetzten goldenen Mantel sitzend, hatte die Schwarze Jungfrau das hierarchische und erschreckende Aussehen eines barbarischen Idols. Es hieß, die Kreuzfahrer hätten sie einst aus dem Heiligen Land mitgebracht und sie sei so alt wie die Welt … Ihr schwarzes, plumpes Gesicht mit dem starren Ausdruck schimmerte unter der durch eine Taube verzierten Goldkrone. Nur die zu weißen Augen aus Email schienen von unruhigem Leben beseelt, und Cathérine begann, unter ihrem Blick zu zittern, von der barbarischen Majestät des Standbilds erdrückt.
Der unheimliche Gesang hatte aufgehört. Stille hüllte die Kirche jetzt ein, die nur durch das leichte Flackern der Kerzen gestört wurde. Langsam nahm Cathérine den Lederbeutel vom Hals, zog den Diamanten heraus und reichte ihn auf ihren beiden zusammengelegten Handflächen der Jungfrau. Die uralte Geste des Opfers ließ den verfluchten Stein voll blutigen Feuers funkeln. Noch nie hatte er so geblitzt wie in diesem Sanktuarium, in dem sich die Größe Gottes entfaltete. Auf Cathérines Händen war er wie eine schwarze, der Gottheit gebotene Todessonne.
»Allmächtige Jungfrau«, hauchte die junge Frau, »nehmt diesen Stein des Schmerzes und des Blutes an! Nehmt ihn zu Euch, auf daß ihn der Dämon, der ihm innewohnt, auf immer verlasse, nehmt ihn, auf daß das Unglück sich endlich von uns wende … und das Glück wieder in Montsalvy einkehre! Auf daß ich meinen Gatten wiederfinde!«
Sanft legte sie den Stein zu Füßen des Standbildes und warf sich dann nieder. All ihre Angst war verflogen, doch sie wurde von einer neuen Erregung ergriffen.
»Gebt ihn mir zurück!« flehte sie schmerzlich. »Gebt ihn mir, barmherzige Jungfrau! … Selbst wenn ich noch viel leiden muß, wenn ich mich Tag und Nacht abmühen muß … Macht, daß ich ihn am Ende des Weges endlich finde! Erlaubt wenigstens, daß ich ihn wiedersehe … ein Mal, ein einziges Mal … auf daß ich ihm sagen kann, daß ich ihn liebe, daß ich nie aufgehört habe, ihm zu gehören, und daß niemand … je … seinen Platz einnehmen wird! Habt Mitleid … o habt Mitleid! Laßt mich ihn wiederfinden … Danach könnt Ihr mit mir machen, was Ihr wollt!«
Sie barg das Gesicht in den Händen, die bald von ihren Tränen benetzt wurden, und blieb so einen langen Augenblick, für ihr Kind und Sara betend, still weinend und unbewußt eine Antwort auf ihre heiße Bitte erwartend. Und plötzlich hörte sie:
»Frau … habt Vertrauen! Wenn Euer Glaube groß ist, werdet Ihr erhört werden.«
Sie hob den Kopf. Vor ihr stand ein Mönch in einer langen weißen Kutte, den grauen Kopf und sein von Milde strahlendes Gesicht ihr zuneigend. Von dieser weißen Gestalt ging ein solcher Friede aus, daß Cathérine überwältigt vor ihm auf den Knien blieb, die Hände gefaltet wie vor einer Erscheinung. Der Mönch streckte seine blasse Hand nach dem neben dem Goldmantel der Jungfrau blitzenden Stein aus, berührte ihn aber nicht.
»Dieses fabelhafte Juwel, woher habt Ihr es?«
»Es gehörte meinem verstorbenen Gatten, dem Finanzminister von Burgund.«
»Ihr seid Witwe?«
»Ich war es nicht mehr. Aber der Mann, den ich geheiratet habe, ist, von der Lepra heimgesucht, nach Compostela aufgebrochen, um seine Heilung zu erflehen, und ich möchte auch dorthin gehen, um ihn wiederzufinden!«
»Habt Ihr Euch einen Platz unter den Pilgern besorgt? Ihr braucht einen Beichtzettel und die Genehmigung des Leiters der Fahrenden Ritter Gottes. Sie brechen morgen auf.«
»Ich weiß … aber ich bin soeben erst angekommen. Glaubt Ihr, mein Vater, daß es zu spät ist?« fragte Cathérine mit plötzlicher Angst.
Ein gütiges Lächeln erhellte das Gesicht des weißen Mönches.
»Ihr habt den sehnlichen Wunsch zu gehen, nicht wahr?«
»Ich wünsche es mehr als alles in der Welt.«
»Also kommt! Ich werde Euch die Beichte abnehmen und Euch dann einen Zettel für den Prior des Städtischen Hospitals mitgeben.«
»Habt Ihr denn die Macht, mir noch so spät Einlaß zu verschaffen?«
»Es gibt keine festgesetzte Stunde, in der man sich Gott nähern kann! Und ich bin Guillaume de Chalençon, Bischof dieser Stadt. Kommt, meine Tochter.«
Das Herz von wunderbarer Hoffnung durchdrungen, folgte Cathérine der weißen Gestalt des Prälaten.
Als Cathérine die Kirche verließ, schien sie förmlich zu schweben. Sie hatte das Gefühl, daß alles gut werden würde, daß ihre Hoffnungen ihre ganze Kraft wiederfänden, daß nichts mehr unmöglich sein würde.
Man brauchte nur Mut zu haben, und Mut hatte sie von jetzt an übergenug.
Am Eingang des Städtischen Hospitals, dessen hohes, spitzbogiges Portal, von zwei Steinlöwen bewacht, sich auf die Stufen der Kathedrale öffnete, fand sie Bruder Eusebius wartend vor, der, auf einem Eckstein sitzend, still den Rosenkranz betete. Als er sie bemerkte, sah er sie unglücklich an.
»Dame Cathérine, es gibt keinen Platz in den Schlafsälen. Die Pilger schlafen im Hof, und ich habe nicht einmal einen Strohsack für Euch auftreiben können. Ich kann ja immer in einem Kloster Unterkunft bekommen, aber Ihr?«
»Ich? Das ist unwichtig. Ich werde auch im Hof schlafen, mit den anderen. Übrigens, Bruder Eusebius, es ist Zeit, daß ich Euch zu dieser Stunde die Wahrheit gestehe. Ich werde nicht mit Euch nach Montsalvy zurückkehren. Morgen werde ich mit den anderen Pilgern nach Compostela aufbrechen … Nichts kann mich daran hindern. Aber ich möchte Euch wegen des Ärgers, den ich Euch verursachen werde, um Verzeihung bitten. Der Herr Abt …«
Ein breites Lächeln hellte das runde Gesicht des kleinen Mönchs auf. Unter seiner Kutte zog er eine Pergamentrolle hervor und gab sie Cathérine.
»Unser Sehr Ehrwürdiger Vater Abt«, unterbrach er, »hat mich beauftragt, Euch dies zu überreichen, Dame Cathérine. Aber ich sollte es Euch erst geben, nachdem Ihr Euer Gelübde erfüllt habt. Es ist erfüllt, nicht wahr?«
»Es ist erfüllt!«
»Also, hier!«
Mit zögernder Hand nahm Cathérine die Rolle, brach das Siegel auf und entfaltete sie.
Sie enthielt nur wenige Worte, aber während sie las, stieg ihr die Freudenröte ins Gesicht.
»Geht in Frieden«, hatte Bernard de Calmont geschrieben. »Und Gott begleite Euch! Ich werde über das Kind und Montsalvy wachen …«
Der Blick, den sie dem Bruder Pförtner zuwarf, war glückstrahlend. In ihrer Begeisterung küßte sie die Unterschrift des Briefes, bevor sie ihn in ihren Almosenbeutel steckte, dann streckte sie ihrem Gefährten die Hand hin.
»Hier trennen wir uns nun. Kehrt nach Montsalvy zurück, Bruder Eusebius, und sagt dem Sehr Ehrwürdigen Abt, daß ich mich schäme, ihm nicht genügend Vertrauen geschenkt zu haben, aber daß ich ihm danke. Bringt ihm die Maultiere zurück, ich brauche sie nicht. Ich werde meinen Weg wie die anderen zu Fuß zurücklegen.«
Dann wandte sie sich um und ging schnell davon, leicht wie ein befreiter Vogel, zur anderen Seite der Straße, wo ein schönes Schild hing, das einen Pilger mit einem großen Hut, den Stab in der Hand, zeigte und allen verkündete, daß für ›Die Straße nach Compostela‹ Meister Croizat eine Ausstattungsboutique für die fromme Reise unterhalte.
Die zum Aufbruch Gerüsteten zählten an die fünfzig, Männer und Frauen, aus der Auvergne, der Franche-Comté und sogar aus Deutschland. Sie gruppierten sich nach Herkunft oder geistiger Verwandtschaft, doch einige blieben für sich, zogen ihre Einsamkeit und ihre eigene Gesellschaft vor.
Inmitten ihrer neuen Gefährten wohnte Cathérine dem österlichen Hochamt bei. Sie sah nur einige Schritte von sich entfernt König Karl VII. vorübergehen und den hohen Sessel einnehmen, der für ihn im Chor aufgestellt war. Neben ihm erkannte sie die mächtige Gestalt Arthur de Richemonts. Der Konnetabel von Frankreich nahm an diesem Ostertag seinen Rang und sein Amt offiziell wieder ein. Zwischen seinen kräftigen Händen sah die junge Frau den großen blauen, mit goldenen Lilien verzierten Degen blitzen.
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