Hinter ihr sagte jemand:

»Bei klarem Wetter kann man das Meer und die Grenzen der drei Königreiche Frankreich, Kastilien und Aragon sehen.«

Aber das interessierte die junge Frau nicht, die die Ermüdung schwer zu bedrücken begann.

Es gab an diesem verlassenen Ort Hunderte roher Holzkreuze, von den vor ihnen durchgekommenen Pilgern dort aufgestellt, und Cathérine betrachtete sie mit Schaudern: Es kam ihr vor, als wanderte sie inmitten eines Friedhofs!

Ihre Augen brannten vor Müdigkeit, ihre Füße schmerzten, und ihr ganzer Körper zitterte vor Kälte. Die Hoffnung, Arnaud wiederzusehen, mußte schon sehr groß in ihr sein, um so viel Leiden zu ertragen.

Der Rest des Weges bis zum Paß von Ibañeta weiter unten und dann bis zum Rasthaus von Roncevaux war für sie ein Leidensweg, den die anbrechende Nacht noch verschlimmerte. Als man endlich in Sicht der berühmten, von Erzbischof Sanche de la Rose und König Alfons dem Eroberer erbauten Zufluchtsstätte war, ging der Mond auf und übergoß mit seinem kalten Licht die Häusergruppe mit ihren sehr niedrigen Dächern, ihren dicken, durch kräftige Stützbögen versteiften Mauern, die sich am Fuße der Ausläufer des Ibañetapasses hinstreckte. Das Ganze wurde von einem viereckigen Turm beherrscht, und der Weg durchquerte unter einem Gewölbe das alte Kloster. Der Rauhreif bestäubte alles, gab allen Dingen eine unwirkliche Schönheit, doch Cathérine, am Ende ihrer Kräfte angelangt, war dafür völlig unempfindlich. Sie sah nur eines: Unter dem Gewölbe bewegten sich Laternen, von menschlichen Händen getragen, und diese Laternen bedeuteten Leben, Wärme … Die Zähne zusammenpressend, machte sie eine letzte Anstrengung, um vollends zum Hospiz zu gelangen, doch als sie einmal da war, ließ sie sich auf einen Pferdetritt sinken, unfähig, auch nur noch einen Schritt zu tun.

Van Eyck und Josse Rallard, die ihre Erschöpfung schließlich bemerkten, trugen die fast Ohnmächtige ins Innere.

Lange schon hatte man Dame Ermengarde, die man wie ein Paket quer über ihr Pferd hatte hieven müssen, nicht mehr schimpfen hören.

Auf den Steinen des riesigen Feuerherdes im Pilgersaal sitzend, die Beine in ein Ziegenfell gehüllt und einen Napf heißer Suppe in den Händen, nahm Cathérine langsam wieder Farbe an und begann für ihre Umgebung Interesse zu zeigen. Viel Volk war da unter den niedrigen, rußgeschwärzten Gewölben versammelt: aus Galicia zurückkehrende Pilger, die Mäntel mit sinnbildlichen Muschelschalen geschmückt, in den Augen den Stolz derer, die ihr Gelübde erfüllt haben; Maultiertreiber, die die Nacht mit ihren Gefahren gezwungen hatte, in der Zufluchtsstätte Rast zu machen; navarresische Bauern in schwarzen, oft zerrissenen Röcken, die schmutzbedeckten Beine und Füße in Felle gewickelt, die Zehen frei; Söldner in zerbeulten Kürassen. Durch diese Menge, die die Müdigkeit schweigsam machte, glitten die schwarzen Kutten der gastgebenden Mönche, die Stelle des Herzens mit einem Kreuz gekennzeichnet, dessen Spitze gebogen und dessen Fuß scharf wie ein Degen war, Symbol ihres gleichzeitig religiösen wie militärischen Charakters. Denn sehr oft mußten die Augustinerpatres den Degen ziehen, um den Räubern der Berge ihre Opfer zu entreißen.

Sie verteilten an alle Brot und Suppe, ohne sich bei dem eleganten Gesandten des Großherzogs des Westens länger aufzuhalten als bei dem geringsten Navarreser. Cathérine schienen ihre rauhen Gesichter aus dem Granit der Berge herausgehauen zu sein und durchaus nicht den runden, wohlgenährten Physiognomien der meisten Mönche im Lande der Ebene zu ähneln … Neben ihr, den Rücken an einen Pfeiler des Kamins gelehnt, saß schnarchend Ermengarde. Die anderen, zum Umfallen müde, aßen oder schliefen schon auf dem Boden. Von weitem, in den Bergen, hörte man die Wölfe heulen …

Plötzlich öffnete sich die Tür und ließ einen kalten Windstoß herein. Zwei Mönche, die Köpfe durch große Hüte geschützt, die sie tief über ihre Kapuzen gedrückt hatten, traten mit einer Tragbahre ein, auf der eine in Decken gewickelte menschliche Gestalt ausgestreckt lag. Die Tür schlug hinter ihnen wieder zu. Einige Köpfe hoben sich bei ihrem Eintritt, fielen aber bald wieder zurück: Ein Kranker oder Verletzter, sogar ein Toter, waren übliche Dinge in diesen mitleidslosen Gebieten. Die Mönche bahnten sich einen Weg zum Feuerherd.

»Er hat sich verirrt!« sagte einer der beiden zum Prior, der zu ihnen trat. »Wir haben ihn in der Nähe der Rolandspalte gefunden.«

»Tot?«

»Nein. Aber sehr schwach! Und in traurigem Zustand! Er muß auf Briganten gestoßen sein, die ihm die Sachen vom Leibe gerissen und ihn übel zugerichtet haben! Aber Gott sei Dank haben sie ihm das Leben gelassen.«

Während er sprach, setzten sie die Bahre vor dem Feuerherd ab. Um ihnen Platz zu machen, drückte Cathérine sich an Ermengarde, dabei mechanisch einen Blick auf den Verwundeten werfend, von dem die Mönche die Decke abnahmen. Doch plötzlich fuhr sie zusammen, stand sofort auf und beugte sich über den bewußtlosen Mann, blickte forschend in die abgezehrten Züge, legte eine Hand über ihre Augen, weil sie an eine durch die Müdigkeit hervorgerufene Sinnestäuschung glaubte. Aber hier war kein Zweifel möglich.

»Fortunat!« flüsterte sie erstickt. »Fortunat! Mein Gott!«

Eine Stoßkraft, viel stärker als ihre Müdigkeit, zog sie zu der Tragbahre, zu diesem Gespenst, dem ersten seit langem in ihrer Nacht aufblitzenden Hoffnungsschimmer. Dieser Mann wußte, wo Arnaud war … und vielleicht würde er sterben, ohne es ihr gesagt zu haben!

Einer der Mönche sah sie neugierig an.

»Ihr kennt diesen Mann, meine Schwester?«

»Ja … Oh, Seigneur! Ich glaubte, meinen Augen nicht zu trauen! Er war der Knappe meines Gatten … und hier finde ich ihn wieder, allein, krank … Was ist aus seinem Herrn geworden?«

»Da müßt Ihr schon noch etwas warten, um ihn zu befragen. Zuerst werden wir ihm ein stärkendes Mittel verabreichen, ihn wiederbeleben, ihn aufwärmen und ihm etwas zu essen geben. Laßt uns nur machen!«

Schweren Herzens trat Cathérine beiseite und nahm ihren Platz am Feuerherd wieder ein. Jan van Eyck, der die Szene verfolgt hatte, trat zu ihr und ergriff ihre Hand. Sie war eiskalt … Der Maler merkte, daß die junge Frau zitterte.

»Friert Ihr?«

Sie schüttelte verneinend den Kopf. Außerdem bewiesen ihre blitzenden Augen und die vor Erregung rot gewordenen Wangen, daß sie nicht log. Ihre Nerven waren so gespannt, daß sie den Blick nicht von diesem mageren, reglosen Körper wenden konnte, den die Mönche kräftig abrieben, während der Prior ein Fläschchen an seine blassen Lippen hielt.

»Wenn sie sich nur beeilen, mein Gott!« betete Cathérine im Inneren. »Sehen sie nicht, daß ich noch sterbe?«

Doch die energische Behandlung, die man Fortunat zuteil werden ließ, begann zu wirken. Etwas Blut stieg wieder in seine aschfahlen Wangen, seine Lippen bewegten sich, und bald öffnete er auch die Augen, die sich klar auf die ihn Umsorgenden richteten. Der Prior lächelte ihm zu:

»Fühlt Ihr Euch besser?«

»Ja … es geht besser! Ich komme von weit her, nicht wahr?«

»Ziemlich weit! Die Räuber haben Euch angegriffen, denke ich, und Euch zum Sterben liegengelassen?«

Fortunat schnitt eine fürchterliche Grimasse, die noch fürchterlicher wurde, als er versuchte, sich aufzurichten.

»Diese Rohlinge haben wie die Besessenen auf mich eingeschlagen. Ich glaubte, mir wären alle Knochen zerbrochen … Oh, ich bin wie gerädert!«

»Das geht schnell vorbei. Ihr werdet eine gute Suppe bekommen, und eine Salbe wird Eure Schmerzen lindern …«

Als der Prior sich wieder aufrichtete, traf sein Blick den Catherines. Sie glaubte, ein Zeichen darin zu lesen, und unfähig, ihre Ungeduld noch länger zu zügeln, trat sie vor. Wieder beugte der Prior sich über Fortunat:

»Mein Sohn, hier ist jemand, der Euch dringend zu sprechen wünscht.«

»Wer?« Der Gaskogner wandte den Kopf und hob ihn ein wenig. Plötzlich erkannte er Cathérine und richtete sich mit einem Ruck auf einen Ellbogen auf, während sein mageres Gesicht sich purpurrot färbte.

»Ihr! … Ihr seid es? Das ist nicht möglich!«

In einer Anwandlung warf die junge Frau sich neben der Bahre auf die Knie.

»Fortunat! Ihr lebt, Gott sei's gelobt, aber wo ist Messire Arnaud?«

Instinktiv hatte sie die bittenden Hände auf des Knappen Arm gelegt, doch dieser stieß sie mit einer rohen Bewegung zurück, während ein Ausdruck teuflischer Freude das magere, bärtige Gesicht des Gaskogners verzerrte.

»Wollt Ihr das wissen? Was kann Euch das schon bedeuten?«

»Was mir … das bedeuten kann? Aber …«

»Was schiert Euch Messire Arnaud? Ihr habt ihn verraten, verlassen! Was tut Ihr hier? Hat Euer neuer Gatte, der schöne blonde Herr, Euch schon satt, daß Ihr wieder auf die Landstraßen zurückgekehrt seid, um neue Abenteuer zu suchen? In diesem Falle geschieht es Euch ganz recht!«

Ein doppelter Ausruf des Zorns erklang über Catherines Kopf, die verblüfft und verständnislos das ihr zugekehrte, von Haß verzerrte Gesicht des Gaskogners betrachtete.

Der Prior und Jan van Eyck, gleichermaßen entrüstet, protestierten bereits:

»Mein Sohn, Ihr vergeßt Euch! Was ist das für eine Sprache?« rief der eine.

»Dieser Mann ist verrückt geworden!« sagte der andere. »Ich werde dafür sorgen, daß er seine Beleidigungen zurücknimmt!«

Cathérine erhob sich rasch und hielt Jan zurück, der schon den Dolch aus dem Gürtel riß.

»Laßt das«, sagte sie fest. »Das geht nur mich an! Mischt Euch nicht ein.«

Aber der spöttische Blick Fortunats heftete sich auf den zornbleichen Maler.

»Noch ein treuer Herzensritter, wie ich sehe! Euer neuer Geliebter, Dame Cathérine?«

»Schluß jetzt mit den Beleidigungen!« sagte sie schroff. »Mein Vater und Ihr, Messire van Eyck, wolltet Euch bitte zurückziehen. Ich wiederhole, dies betrifft allein mich!«

Des in ihr aufsteigenden Zorns wurde sie durch Willensanstrengung Herr. Um sie rotteten sich die Pilger, die Französisch verstanden, zusammen, doch der Prior tat alles, sie zu entfernen. Sie wandte sich zur Bahre zurück, blieb vor dem ausgestreckten Mann stehen und kreuzte die Arme:

»Ihr haßt mich also, Fortunat? Das ist aber neu.«

»Meint Ihr?« fragte er, ihr einen bösen Blick zuwerfend. »Für mich ist das keine Neuigkeit! Schon seit vielen Monaten hasse ich Euch! Seit dem verfluchten Tag, an dem Ihr Euren Gatten, den Ihr zu lieben vorgabt, mit dem Mönch habt ziehen lassen!«

»Ich habe seinen Befehlen gehorcht! Er wollte es so!«

»Wenn Ihr ihn geliebt hättet, hättet Ihr ihn mit Gewalt zurückgehalten! Wenn Ihr ihn geliebt hättet, hättet Ihr ihn in ein einsam liegendes Gehöft gebracht, hättet ihn gepflegt und wäret an seiner Krankheit gestorben …«

»Abgesehen davon, daß ich Euch nicht das Recht zugestehe, über mein Verhalten zu urteilen, sei Gott mein Zeuge, daß ich, hatte ich nach meinem Belieben handeln können, nichts sehnlicher gewünscht hätte! Aber ich habe einen Sohn! Und sein Vater verlangte, daß ich mich ihm widme!«

»Vielleicht. Aber in diesem Fall hättet Ihr nicht zum Hof zu reisen brauchen. Oder seid Ihr auch in Ausführung der Befehle Eures Gatten in die tröstlichen Arme des Herrn de Brézé geeilt, den Ihr schicktet, um Dame Isabelle das Herz zu brechen … und das Messire Arnauds, und den Ihr schließlich geheiratet habt?«

»Das stimmt nicht! Ich bin nach wie vor die Dame de Montsalvy und verbiete jedem, daran zu zweifeln, daß Messire de Brézé seine Wünsche mit der Wirklichkeit verwechselte. Habt Ihr mir noch etwas vorzuwerfen?«

Ohne daß die beiden Gegner es gewahr wurden, hatten sich ihre Stimmen gehoben, und ihre Auseinandersetzung nahm die Heftigkeit und Schärfe eines Wortstreits an. Als der Prior sah, daß alle Köpfe Cathérine zugewandt waren, wollte er einschreiten.

»Meine Tochter! Vielleicht zieht Ihr es vor, diesen Streit in Ruhe auszutragen! Ich werde Euch in den Stiftssaal führen lassen, Euch und diesen Mann …«

Aber sie lehnte mit einer stolzen Geste ab.

»Unnütz, mein Vater! Was ich zu sagen habe, kann alle Welt hören, denn ich habe mir nichts vorzuwerfen! Also, Fortunat«, begann sie wieder, »ich warte! Was habt Ihr noch zu sagen?«

Tonlos, aber mit einem Ausdruck angestauten Hasses zischte der Knappe Arnauds:

»Was er alles Euretwegen ertragen hat! Wißt Ihr denn, daß es ein einziger Leidensweg für ihn war seit dem Tage, an dem Ihr ihn zurückgewiesen habt? Diese Tage ohne Hoffnung, diese Nächte ohne ein Lächeln, mit dem schrecklichen Gedanken, daß er ein lebender Toter sei! Ich weiß es, weil ich ihn liebte! All die Wochen suchte ich ihn. Er war mein Herr, der beste, tapferste und treueste der Ritter!«